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Read Ebook: Der Mann von vierzig Jahren by Wassermann Jakob

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Ebook has 391 lines and 45722 words, and 8 pages

Der Mann von vierzig Jahren

Ein kleiner Roman

von

Jakob Wassermann

S. Fischer, Verlag, Berlin 1913 Erste bis zehnte Auflage.

Man weiss von Sternen, die ohne ergr?ndbare Ursache ihr Licht verlieren, um entweder f?r kurze Frist oder f?r immer in die Finsternis des unendlichen Raums zu entschwinden; so gibt es auch Menschen, deren Schicksal von einem gewissen Zeitpunkt ab in D?mmerung und Dunkelheit gleitet.

Ein solcher Mann war der Herr von Erfft und Dudsloch, der gegen das Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zwischen W?rzburg und Kitzingen im unterfr?nkischen Kreis lebte. Seine Wirtschaft und seine h?uslichen Angelegenheiten befanden sich in gutem Stand; obwohl es ihm versagt war, einen Luxus zu entfalten, nach dem er sich bisweilen in m?ssigen Stunden sehnen mochte, erlaubten ihm seine Verm?gensverh?ltnisse doch, alle W?nsche zu befriedigen, die durch phantasievolle Neigung oder eingefleischte Gewohnheit in ihm lebendig erhalten wurden. Die beiden G?ter warfen ein ansehnliches Ertr?gnis ab, die hypothekarische Belastung einzelner Grundst?cke und Neubauten wurde mit jeder Ernte geringer, und ein Kapital, das aus der Mitgift der Frau und den allm?hlich angewachsenen Ersparnissen bestand, war in einem W?rzburger Bankhaus niedergelegt. Sylvester von Erfft konnte mehrere Reitpferde und einen Kutschierwagen halten, konnte ein ziemlich ausgedehntes Waldland pachten, um sich dem Vergn?gen der Jagd hinzugeben, konnte mit Agathe, seiner Lebensgef?hrtin, kleine Reisen nach einer n?rdlich oder s?dlich gelegenen Residenz unternehmen, weil hier ein Konzert, ein Theater, dort ein geselliger Zirkel lockte, und war vor allem nicht daran gehindert, seine Bibliothek zu bereichern, denn er war ein Mann von Kenntnissen und lebhaften Interessen.

Doch an alledem fand sein heftiger T?tigkeitstrieb kein Gen?gen. In seiner Jugend hatte er mehrere Jahre in England verbracht, und nachdem er geheiratet hatte und lands?ssig geworden war, besch?ftigten ihn lange Zeit hindurch allerlei Reformpl?ne; er wollte das Pachtwesen und die ?konomieverwaltung nach englischem Muster einrichten; er regte Versammlungen der Bauern an, in denen er vorschlug, dass sie sich gegen den drohenden Industrialismus und die wirtschaftliche Ausbeutung als starke Gemeinschaft zur Wehr setzen m?chten; er ging sogar damit um, die Erbfolge in den deutschen Adelsfamilien nach dem Vorbild der englischen Aristokratie umzugestalten und richtete eine Eingabe an den K?nig, die von weitem Blick und Sachkenntnis zeugte, aber nicht im mindesten beachtet wurde, sondern ihm, als etwas davon verlautete, unter seinen Standesgenossen Feindseligkeiten und Sp?ttereien zuzog. Sein Schwager, der Major von Eggenberg auf Eggenberg, stellte ihn sogar wegen dieser n?rrischen Schrift, wie er sich ausdr?ckte, zur Rede; Sylvester schlug es ab, sich zu rechtfertigen, und l?chelte nur, als der Major ihm sagte, wenn er einen so unb?ndigen Tatendrang versp?re, m?ge er sich doch w?hlen lassen und als Abgeordneter nach Frankfurt gehen. Der Herr von Bismarck sei ja im Begriff, Deutschlands leibhaftiges Ungl?ck zu werden, und man brauche M?nner im Kampf gegen diesen Drachen.

Von so beschaffener Politik wollte Sylvester nichts wissen. Mehr als eine h?fliche Teilnahme konnte er denen nicht widmen, die das R?derwerk der Staatsmaschine in Gang setzten; wer gut regierte, war ihm sch?tzbar, den schlechten Herrn machten eifrige Diener nicht besser. >>Ich liebe meine Heimat,<< pflegte er zu sagen, >>die Erde, die mich tr?gt und n?hrt, aber es ist mir gleichg?ltig, was diese Erde auf den Landkarten f?r einen Farbenrand hat, und kein Minister kann von mir verlangen, dass ich ihm meine Steuern mit einem patriotischen Jubelgesang bezahle.<< Wie so viele aufgekl?rte und ?berlegene Geister verstand er seine Zeit nicht recht. Es schien ihm eine tote Zeit zu sein; eine leere und n?chterne Zeit, eine Zeit der Spiessb?rger, der schlechten Musik, der schlechten B?cher, der geschmacklosen M?bel und des unfruchtbaren Geschw?tzes. Ihm d?nkte, man mache nur deshalb soviel L?rm, weil man die Dinge verwirren und die Ideen verfinstern wollte; er glaubte nicht an eine gedeihliche Zukunft, ohne Hoffnung blickte er auf sein Vaterland und ohne Anteil auf die tr?gerische Erregung seiner Mitb?rger, denn alles, was er selbst zu ihrem Besten hatte vornehmen wollen, war schm?hlich misslungen.

Dadurch wurden aber sein Lebensmut und seine Heiterkeit keineswegs getr?bt. In den letzten Jahren hatte er eine grosse Vorliebe f?r Gartenk?nste gefasst, er hatte eine Orangerie gebaut und einen G?rtner aus Richmond kommen lassen; mit diesem beriet er stundenlang ?ber die Anlage neuer Wege, ?ber Pfropfungen und Verpflanzungen. Agathe unterst?tzte ihn dabei, soweit sie es vermochte, und zu der Ritterlichkeit, die er gegen sie an den Tag legte, gesellte sich Dankbarkeit. Sie war nur um zwei Jahre j?nger als er; dieser Umstand machte sie um so mehr zu seiner Freundin; bei jedem vortretenden Anlass achtete er sie f?r gleichberechtigt. Es gab auch Zank, denn er war j?hzornig und nicht ohne Launen, und Agathe war nicht die Person, die sich sklavisch unterwarf, aber jedesmal f?hlte sie sich entz?ckt durch sein williges Bem?hen, ein Unrecht vergessen zu machen, das er ihr zugef?gt. Manchmal konnte er sie mit seinen Neckereien bis zu Tr?nen bringen; dann nahm er am Abend irgendein Buch mit sch?nen Gedichten und las ihr vor. Im dritten Jahre ihrer Ehe war ihnen ein Kind geboren worden, ein M?dchen; es hiess Silvia, war jetzt sieben Jahre alt und sehr sch?n. Am Vater wie an der Mutter hing es mit der ?berschwenglichen Kraft, die der fr?hen Jugend eigen ist, und mit seiner geschmeidigen Gestalt und seinem heitern Antlitz wandelte er durch die Tr?ume des Kindes wie ein Gott.

Von irgendeinem Tage ab, niemand konnte genau sagen von welchem, ver?nderte sich Sylvesters Wesen ganz und gar. Eine unentschiedene, schwankende, zweifelvolle Stimmung war ihm anzumerken, eine Unlust, die sich bis zur Verdrossenheit steigerte und die Agathe mehr und mehr Besorgnis einfl?sste. Bisweilen versuchte sie es, ihn aus sich herauszulocken, aber er antwortete nur mit einem Achselzucken und einem fremden Blick. Er h?rte auf, sich mit Silvia zu besch?ftigen; was er mit dem Kind redete, klang gezwungen und zerstreut.

Umsonst gr?belte Agathe ?ber die Ursache der Verwandlung nach. Umsonst liess sie Leckerbissen f?r ihn kochen; umsonst machte sie ihm einen englischen H?hnerhund und ein neues Jagdgewehr zum Geschenk; umsonst waren ihre Anstrengungen, ihn aufzuheitern; er schien wie eingemauert. Eines Tages trat sie in sein Zimmer und beobachtete ihn, wie er, den R?cken gegen sie gekehrt, unbeweglich vor dem Spiegel sass. Sie erschrak ?ber den Ausdruck seines Gesichts, den ihr der Spiegel zeigte. Sie n?herte sich ihm; er h?rte sie nicht. Er hatte den Kopf auf die Hand gest?tzt, und sein Blick war verloren auf das Ebenbild gerichtet. Sein Auge war voll Schw?rze; um die Brauen hatten sich dunkle Entschl?sse geballt wie Wolken um ein Gebirge; aus den Lippen schien eine qu?lende Frage unh?rbar zu dringen. Agathe schlich davon, und als sie den Flur erreicht hatte, rang sie stumm die H?nde.

Ein anderes Mal geschah es, dass sie ihn, es war mitten in der Nacht, in der Bibliothek unerm?dlich auf- und abgehen h?rte. Sie lag im Bett, aber schlafen konnte sie nicht. Je l?nger sie dem Ger?usch seiner Schritte lauschte, je wacher wurden ihre Sinne. Endlich erhob sie sich, umh?llte die Schultern, verliess das Zimmer und ging nacktf?ssig die Treppe hinauf. Leise pochte sie, denn sie wollte ihn nicht ?berfallen, aber als sie die Klinke herabdr?ckte, merkte sie, dass die T?r verriegelt war. Im selben Augenblick erlosch der Schein in den Ritzen und Spalten, und drinnen wurde es still. Kein Zweifel, dass er das Klopfen geh?rt, und dass er wusste, Agathe sei es, die vor der Schwelle stand. So gen?gt also, dachte Agathe, das Bewusstsein meiner N?he, um ihn mit Furcht zu erf?llen, mit Furcht und mit solchem Abscheu, dass er die Lampe ausbl?st, um mich zu verscheuchen.

Am andern Morgen ?bergab sie das Kind der Pflege ihrer Wartefrau und fuhr zu ihrer Schwester nach Eggenberg. Ihrem Gatten hinterliess sie ein paar Zeilen, des Inhalts, dass sie Sehnsucht nach der Schwester empfinde und sich f?r die Reise um so leichter entschlossen habe, als sie annehme, dass er ihrer nicht bed?rfe und eine Trennung von acht oder zehn Tagen ihm in seiner gegenw?rtigen Verfassung vielleicht willkommen sei. Sie lebte bei Schwester und Schwager wie in einem peinvollen Exil, doch stellte sie sich v?llig harmlos, und kein Wunsch, drohende Gefahren zu er?rtern, war ihr anzusehen; es widersprach dem Grundgef?hl ihrer Natur, eine Sache vor andere Ohren zu bringen, die einer nur mit sich selbst und seinem Partner ausmachen kann. Indessen wartete sie von Tag zu Tag auf Nachricht; eine ihr eigent?mliche Halsstarrigkeit hinderte sie daran, die Frist zu brechen, die sie sich selbst gesetzt, und als sie nach Verlauf von eineinhalb Wochen wieder in Erfft eintraf, erfuhr sie, dass Sylvester schon vier Tage vorher abgereist war. Er hatte Adam Hund mitgenommen, seinen Diener aus fr?heren Jahren, den er nach seiner Verheiratung mit einer Aschaffenburger Bierbrauerstochter als Verwalter in Dudsloch angestellt hatte.

Kein Brief, kein Zeichen meldete ihr, wohin er sich gewandt. Frau ?sterlein, Silvias Pflegerin, erz?hlte, er sei in der Nacht zuvor an das Bett des Kindes getreten, habe es aus den Polstern gerissen und an seine Brust gedr?ckt; Silvia habe jedoch fest geschlafen und von dem Zwischenfall nichts in Erinnerung behalten. Fast gleichzeitig bekam Agathe eine Post des W?rzburger Bankhauses, worin ihr ordnungsgem?ss mitgeteilt wurde, dass Herr von Erfft die Summe von zweitausend Talern behoben habe.

Agathe begab sich in ihr Zimmer, setzte sich hin und w?hlte die Stirn in die Winkel beider Arme wie in ein Versteck. Sie sch?mte sich vor dem Mittagslicht, und die erste Frage an ihr Inneres war, welchen Makel sie auf sich geladen, welche S?nde sie unwissentlich begangen haben k?nne. Sie war bereit, jeden Fehler in sich selbst zu suchen und h?tte sich eines Verbrechens bezichtigt, wenn sie es nur zu entdecken vermocht und dadurch Klarheit erlangt h?tte. Das Herz, das ihr am teuersten war, in geheimnisvoller Weise umschleiert zu wissen, d?nkte ihr unertr?glich. Desungeachtet bewahrte sie vor den Leuten ihre Haltung, und kein Sp?herauge war imstande, hinter den wohlwollend ernsten Z?gen den nagenden Kummer zu bemerken.

So verging eine Woche. An einem Nachmittag stand Agathe im Hof und sprach mit dem Inspektor, da kam der Bote und reichte ihr einen Brief. Ohne zu sehen, sp?rte sie, dass der Brief von Sylvester war. Diesmal versagte die Selbstbeherrschung: ihre Hand zitterte, ihr Gesicht erbleichte. Sie eilte ins Haus; im Wohnzimmer musste sie sich an die zugeworfene T?re lehnen und die erregte Brust erst ausatmen lassen, ehe sie die Briefh?lle aufriss. Dann las sie, und ihre angespannte Miene wurde mit jeder Sekunde ruhiger, aber auch verwunderter.

Der sonderbare Mann schrieb ihr, als ob es die nat?rlichste Sache von der Welt sei, dass er sich fern von Haus und Hof befand und als ahne er nichts von Agathes Herzensunruhe. Er wusste seine Mitteilungen in einen anmutigen Stil zu kleiden; es war seine vorz?gliche Gabe von jeher gewesen, aber nie fr?her und nie mit solchem Recht hatte Agathe dieser Gewandtheit so tiefes Misstrauen entgegengesetzt; die glatten und schmuckhaften Wendungen erschienen ihr wie L?gen, und sie bedurfte der M?he grosser Selbst?berredung, damit die festgegr?ndete Achtung sich nicht verringerte, die sie gegen Sylvester hegte. Er schrieb ihr von gleichg?ltigen Bekannten, die er getroffen, von der Familie des Pr?sidenten, wo er diniert, von der Einladung des Grossherzogs, nach Karlsruhe zu kommen, von seiner Reiselust, von einem schlechten Theaterst?ck das er gesehen; dann fuhr er fort: >>Ich bewohne zwei elende Zimmer im Gasthof, hoch oben im dritten Stock, denn wegen der N?rnberger Messe ist alles ?berf?llt. Doch hat mir dieses Ungemach zu einem kleinen Abenteuer verholfen. In dem Fenster gegen?ber ist eines Abends ein junges M?dchen aufgetaucht. Wir haben einander in die Augen gesehen wie zwei Wesen von verschiedenen Sternen. Sie ist mehr als jung, das Blut in ihren Adern singt vor Jugend; dabei ist sie melancholisch wie alle Aufwachenden, mit ihren schwarzen Judenaugen klagt sie mir das Leiden von vielen Geschlechtern, und ihre Geb?rden sind unbeholfen wie bei Gefangenen. Wenn ich mit de Vriendts Schach spiele, denke ich an sie, wenn ich durch die ?den S?le der Residenz gehe, um meine geliebten Tiepolos anzusehen, begleitet sie mich wie eine flehende Sklavin. R?tst du mir, sie zu verf?hren, Agathe? Sie zu verf?hren, nur um sie loszuwerden? Ich weiss, du legst auf eine Treue kein Gewicht, die sich nur um des Scheines willen behauptet. Du h?ltst ja wenig von den Sinnenfreuden, zu wenig vielleicht, um mich ganz zu verstehen. So weit ich Tier bin, duldest du mich, deine Nachsicht ist zu ?berirdisch, als dass sie mich nicht dem?tigen sollte.<<

Agathe liess das Blatt sinken und ihre Augen tr?bten sich gedankenvoll. Das klang wie Ironie; f?r Ironie fehlte ihr das Verst?ndnis. Nach einer Weile las sie weiter: >>Ich war nie der Ansicht, dass Blutstrieb ein Brandmal der Kreatur sei. Soll ich meinen Gel?sten eine Larve aufstecken, mit der sie heuchlerisch in mein Leben grinsen? Liebe ist etwas sehr Weihevolles, aber auch etwas sehr Irdisches, und wir m?ssen nicht f?rchten, gemein zu werden, wenn wir unschuldig genug sind, unsern K?rper zu achten. Ich mache mir nichts aus der schmachtenden Orientalin, ich mache mir aus keiner was, es ist nur Begehrlichkeit, und nur lahme Seelen sind begehrlich. Meine Seele ist lahm, Agathe, sie muss geheilt werden. Ich werde meinen Aufenthalt ver?ndern. Wohin ich gehe, kann ich noch nicht sagen; wann ich zur?ckkehre, kann ich auch nicht sagen. Hab Geduld und vergiss f?r einige Zeit deinen Sylvester.<<

Es war Agathe zumute, als fliesse Quecksilber ?ber ihre Finger. Sie fasste nicht die Worte; aus einem vertrauten Antlitz sprach eine unbekannte Stimme; ein b?ser Geist t?uschte die Gestalt eines Freundes vor. Er ist krank, fuhr es ihr durch den Sinn, und da nun Silvia mit gross fragenden Augen vor sie hintrat, als ahne das Kind den Schmerz und Zwiespalt der Mutter und fordere stumm eine entscheidende Handlung, beschloss sie zu ihm zu gehen. Es war Abend geworden, als sie diesen Vorsatz gefasst hatte, sie schickte zum Inspektor hin?ber und bestellte den Wagen. Am andern Tag, in ziemlich fr?her Morgenstunde, fuhr sie in die Stadt.

Es war um eine Stunde zu sp?t.

Agathe stammte aus einer angesehenen Adelsfamilie, die im Nassauischen beg?tert war. Ihr Vater hatte lange Zeit in Frankreich gelebt, hatte dann in Deutschland t?tigen Anteil an der Revolution genommen und war in den M?rztagen durch einen ungl?cklichen Schuss get?tet worden. Sie war die j?ngste unter sieben Schwestern, die man wegen ihrer Sch?nheit die Plejaden nannte. Ihren Gatten hatte sie bei einem Hofball in Darmstadt kennen gelernt, Sylvester stand damals im achtundzwanzigsten Lebensjahr. Er hatte nicht die Absicht, zu heiraten. Er hatte ein Vorurteil gegen die Ehe, das ihm berechtigt schien, weil es durch vielfache Erfahrung und mancherlei Einblick in das Eheleben anderer Menschen erzeugt und erh?rtet worden war. Er wollte seine Freiheit nicht verlieren; er hatte Angst davor, an ein Haus, an eine Stube, an einen Tisch gefesselt zu werden; er w?nschte nicht, seine Selbstbestimmung einzub?ssen; er trug kein Verlangen nach Familienfrieden und ungest?rter Idylle, er war zu sehr an die Aufregungen des Ungef?hrs, an die Zuf?lle und Abenteuerlichkeiten des Umherschweifens gew?hnt. Er hatte viel von der Welt gesehen, aber doch nicht genug, die Lockrufe in ihm waren noch nicht verstummt. Dies alles sagte er Agathe. Er sagte ihr, dass er nicht f?r sich b?rgen k?nne.

Allein Agathe wusste ihn zu ?berzeugen, dass eine gemeinschaftliche Existenz mit ihr zu seinem Gl?ck ausschlagen werde, und je l?nger er sie kannte, je mehr war er geneigt, ihr zu glauben. Er nahm eine Art von Tatkraft in ihr wahr, die er noch an keinem menschlichen Wesen bemerkt hatte. Es war die Tatkraft gewisser Pflanzen, die aus zartesten Anf?ngen zu einer unwiderstehlichen Gewalt emporwachsen, mit der sie Abgr?nde ?berbr?cken und Felsen zerreissen. Dieser nicht zu beirrende Wille machte ihn zum Untertan Agathes, ohne dass er es wusste. Er bewunderte sie, ohne es zu wissen. Sie konnte ihn einfach rauben, denn der Widerstand, den er ihrer Liebe entgegensetzte, hatte seine Quelle in einer sonderbaren Furcht vor ihr, Furcht vor ihrer Entschlossenheit, vor ihrem Mut, ihrer naiven Leidenschaft und dem st?rmischen Tempo, in dem sich ihr Geist und ihr Herz bewegten, lauter Dinge, denen er sich nicht gewachsen f?hlte. Er war nicht stark in Handlungen, nicht einmal in ?berlegungen, nur seine Eindr?cke waren von grosser Tiefe und Unvergesslichkeit. Sie liebte ihn mit dem ganzen Ungest?m ihrer Natur. Er liess sich von ihr lieben, und an diesem Punkt begann seine Schuld. Obwohl er ihre Liebe erwiderte, gab er sie nicht freiwillig her, sondern er gew?hnte sich so daran, sein Gef?hl erobern zu lassen, dass er v?llig passiv wurde und jeden Zoll zu bezahlen vers?umte. Sie verlebten gl?ckliche und reine Tage, aber Agathe bemerkte nicht, dass sie ihrem Mann bequem wurde. Sie schien ihm zur Gef?hrtin auserlesen, ja er sah in ihr das Wunder einer Gef?hrtin, aber mit der Zeit wurde ihm dies selbstverst?ndlich. Sie liess ihm nichts zu erraten ?brig, sie enth?llte sich in jedem Augenblick, und in jedem Augenblick ohne R?ckhalt und ohne Vorbehalt. W?re sie nicht so reich erschaffen worden, in seiner N?he h?tte sie bald verarmen m?ssen, denn alles was in ihm schenken und bauen konnte, wurde ihr gegen?ber stumm und lustlos. Trotzdem war ihm ihre Gesellschaft unentbehrlich, die Jahre gingen hin, die aufwachsende und zum Menschen werdende Silvia kettete sie noch fester aneinander, bis eines Tages eine Unruhe in Sylvester erwachte, ?ber die er sich lange keine Rechenschaft geben konnte.

An einem Morgen fing es an, als er in ihr Schlafzimmer trat. Agathe sass vor dem Spiegel und frisierte sich. Dieses Schauspiel habe ich schon viele tausendmal gesehen, zuckte es Sylvester durch den Kopf. Agathe begann von Wirtschaftssorgen zu sprechen, und er h?rte nicht den Sinn ihrer Worte, sondern nur den Klang ihrer Stimme. Und irgend etwas in dieser Stimme, sei es der bekannte Tonfall, sei es die bekannte Folge der Worte, erbitterte ihn in einer h?chst ungerechten und sein eigenes Gef?hl beleidigenden Weise. Er wartete, welche Bewegung sie machen w?rde und riet im stillen, dass sie den Kopf an einer genau von ihm bestimmten Stelle fassen und auf die linke Hand st?tzen w?rde. Es geschah so, und seine Erbitterung verwandelte sich in Widerwillen. Er sah ihre auf den St?hlen liegenden Kleider, die Schuhe, B?nder und W?schest?cke, und jeder einzelne dieser Gegenst?nde vermehrte seinen unheimlichen Hass. Die Decke ihres Bettes war zur?ckgeschlagen, und der Geruch des Frauenk?rpers, der dem Linnen zu entstr?men schien, erweckte keine Begierde oder Z?rtlichkeit mehr in ihm.

Von jener Stunde an wuchsen Unlust und Unzufriedenheit best?ndig in seinem Innern. Dass sie darunter litt, blieb ihm nicht verborgen, und er freute sich dessen; ihm war, als m?sse er Rache an ihr ?ben, ihm war, als h?tte er durch Agathe seine Jugend verloren, als w?re sie die Diebin seiner Illusionen und seiner Hoffnungen. Die zehn Jahre, die er an ihrer Seite verbracht, erschienen ihm wie ebenso viele Jahre der Verbannung und der Kerkerhaft. Eine schreckliche Angst vor dem Altwerden packte ihn, und der Spiegel wurde ihm zum Zeugen der Zerst?rung. Der Anblick der Furchen auf seiner Stirn und der Unebenheiten seiner Wangen verfinsterte seinen Geist, und oft, wenn er ?ber den Vernichter gr?belte, der so t?ckisch unter der Epidermis w?hlte, ?ber dies langsame Hinschwinden und Niederbrennen, erfasste ihn eine qu?lende, aber in ihrem innersten Kern begl?ckende Sehnsucht, die er anfangs nicht zu bet?uben versuchte.

Eines Nachmittags sass Agathe mit der kleinen Frau des Inspektors zusammen. Sie schwatzten ?ber Frauensachen, Sylvester hatte am Tisch Platz genommen und las in einem Buch; bisweilen blickte er zu den beiden hin?ber und da bemerkte er, dass die kleine Inspektorin ebensooft einen raschen, erkundenden Blick auf ihn warf. Er beobachtete sie sch?rfer, und sie sp?rte es sofort, denn sie versteckte die F?sse unter dem Kleid, und Schultern und Arme zeigten jene koketten halben Bewegungen, die zu gefallen berechnet sind. Es lag darin etwas Belebendes f?r Sylvester. Die sinnliche Str?mung, die zwischen ihm und dem fremden Weib entstanden war, machte ihn feurig und froh. Er erhob sich und ging an den Frauen vor?ber, und er tat es nur deshalb, damit er im Vor?bergehen mit seinem ?rmel das Gewand der Inspektorin streifen konnte; in der Sekunde, in der es geschah, glaubte er sie zu besitzen; in derselben Sekunde wurde ihm auch bewusst, dass er fort musste, fort von Agathe und dem Kind, dass er dadurch seinen Untergang vielleicht herbeif?hren w?rde, dass aber sein Bleiben diesen Untergang nicht verh?ten k?nne. Er stellte sich dann hinter Agathes Stuhl, Agathe schaute zu ihm empor, und sie l?chelte vergn?gt, weil sie ihn l?cheln sah. Aber sein L?cheln galt nicht ihr, es galt der andern, die auch zu ihm aufblickte. Und obwohl ihm Agathes Z?ge vertraut und angenehm vertraut waren, da ihre Art zu sprechen, zu denken, zu lachen, zu weinen ihnen die ihm allein entr?tselbaren charakteristischen Formen verliehen hatte, obwohl ihr Antlitz ihm wie ein Gef?ss voll zarter und heiliger Erlebnisse war, die sein Dasein ver?ndert und versch?nert hatten, hingen seine Gedanken und Empfindungen doch an dem gew?hnlichen und leeren Gesicht der Fremden, die nichts weiter als h?bsch war, h?bsch, jugendlich und unbekannt.

Er hatte danach die Inspektorin weder gesprochen, noch hatte er das fl?chtige Spiel zum zweitenmal anzufangen versucht. Aber er hatte sich selbst begriffen. Er sah ein Gleichnis f?r seine Not. Jemand will eine Reise antreten; auf dem Weg zum Bahnhof begegnet ihm ein Freund, der ihm die Reise dringend widerr?t; die Gesellschaft des Freundes entz?ckt ihn, sie verbringen Tage, Wochen, Jahre miteinander, endlich aber schl?gt dem Zur?ckgehaltenen das Gewissen; war es gleich kein bestimmter Auftrag, der ihn einst zu der Reise veranlasst, so war es doch sein innerer Trieb; ihm ist, als sei er sich selber ungehorsam gewesen, als habe er sich selbst betrogen; ihn peinigt der Gedanke an die Sch?nheit der Landschaften, die er nicht gesehen hat, an die M?glichkeiten und Aussichten, die ihm entgangen sind, und mag sein gegenw?rtiges Gl?ck noch so gross sein, das Gef?hl des unwiederbringlichen Verlustes wird ihn nicht zur Ruhe kommen lassen.

Sylvester wollte noch einmal frei sein. Weiss ich denn, an welchem Tag sich die Pforte hinter mir schliessen wird? fragte er sich. Weiss ich denn, was mich hinschleudern, kraftlos, wunschlos, m?de machen wird? Ihm tauchten Bilder auf von mannigfacher Lockung. Es riefen ihn Stimmen von allen Seiten. Er wollte leben, ohne Ziel und ohne Mass leben. Nicht der Luxus der St?dte, nicht Feste und Geselligkeit zogen ihn hin; es kam wie von einem Traum. Ergreifen und ergriffen werden waren Worte, vor denen er wie vor einem Urwald stand. Wenn er an die unendlichen Gestaltungen des Lebens dachte, ?berlief ihn ein Schauer, den er seit seiner Jugend nicht mehr versp?rt hatte. Er taumelte dahin und suchte Platz. Die Vielzahl der Wege ber?ckte seine Augen. Eine wechselvolle Erwartung st?rmte wie Brandung in ihm. Es mussten nicht nur l?chelnde Gesichter sein, auch Tr?nen zu sehen war er bereit. Schon ahnte er, wie sein Herz verstrickt wurde; noch ist es nicht zu sp?t, sagte er sich, noch ist der wunderbare Magnetismus in mir, den ich verloren zu haben gef?rchtet. Und darauf eben kam es an. Dies war zu erproben. Seine Seele war erf?llt von einer Schar bunter Genien; wenn er im Walde ging oder einsam lag und vor sich hinsann, gewahrte er Frauen und M?dchen mit sch?nen Augen und sch?nen Haaren; sie warteten auf ihn; jede war in einer stillbeschlossenen Bewegung; jede begl?ckte ihn durch ihre eigent?mliche Weise, zu sein. Aber auch die Wirklichkeit hatte einen neuen Zauber f?r ihn gewonnen: eine, die am Brunnen stand und Wasser sch?pfte; eine, die am Fenster ihrer Kammer sass und zum Mond emporschaute; eine, die hinterm Zaun auf ihren Geliebten wartete; eine, die verschleiert in einem Wagen zur Kirche fuhr; eine, die vor seinem Blick err?tete und sich dann niederbeugte, um ihr Schuhband zu kn?pfen. Jede hatte ihr Geheimnis; die Augen einer jeden Frau waren geheimnisvoll; er liebte ihre Augen bis zum Schmerz; jedes Auge war ihm eine unerforschte Welt; dies war das G?ttliche, das Geisterhafte; aber das Sinnliche, das Nahe waren ihre H?nde, sanfte, stolze Wesen f?r sich, sonderbar entkleidet, herrlich gegliedert, unbewusst die geh?tetsten Regungen verratend.

Sein Herz verschmachtete nach Z?rtlichkeit, denn es war ihm klar geworden, dass er die Leidenschaft nicht kannte. Er hatte geliebt, oft und heftig; er hatte als junger Mann vieles Ungew?hnliche erlebt an Begegnungen, an Hingabe, manche Stunde der Gnade und der Lust, manche Wochen des Rausches, manche Nacht jener halb gern gelittenen Leiden, die traurig und erfahren machen, aber ein Gef?hl, das alles bisherige Leben t?tet und ein neues daf?r schafft, das aufl?st und sammelt in einem Atem, von dem jeder zu wissen scheint und zu welchem doch nur Gottes Lieblinge erw?hlt werden, das kannte er nicht. Er wollte es kennen lernen. Und wenn er heimkehren musste, ohne es gefunden zu haben, dann wusste er wenigstens, dass es ein solches Gef?hl f?r ihn nicht gab.

Die junge J?din erschien immer zu einer bestimmten Stunde des Abends am Fenster. Die Gasse, die Sylvester von ihr trennte, war nicht zwei Arml?ngen breit. Man musste nur vermeiden, sich ?ber das Sims zu beugen, dann konnte man von den tief unten gehenden Menschen nicht gesehen werden. Nachbarn waren nicht zu f?rchten; auf der einen Seite endeten beide H?user im Strasseneck, auf der andern erhob sich ein Torturm.

Der von einer Lampe erhellte Raum, in den Sylvester t?glich schauen konnte, hatte gr?ne Tapeten; an der gegen?berliegenden Wand hing das Bildnis eines alten Mannes, der einen goldnen Becher in der Hand trug. Sylvester h?rte, wie dr?ben die Uhr tickte; auf ihrem geschweiften Mahagonigeh?use stand ein alabasterner Adler mit ausgebreiteten Fl?geln.

Schon am ersten Abend hatte Sylvester das M?dchen beobachtet. Schweren Herzens war er im dunklen Zimmer herumgegangen, zu vergessen gewillt, dass er ein Haus auf dem R?cken schleppte und dass ein Weib ihm folgte, unf?hlbar fesselnd; da sah er wie in einem Panorama durch die beiden ge?ffneten Fenster beider H?user die an den Tisch hingelehnte Gestalt; eine Hand, die den Kopf st?tzte, lag im schwarzen Haar vergraben, das Gesicht hatte einen Ausdruck von tr?umerischem Enthusiasmus, aber die feuchten Augen besassen die Glut einer Nonne, die sich mitten im Gebet an eine s?ndhafte Vision verliert.

So sehen sie aus, dachte Sylvester, die Schl?ferinnen, wenn das Seelchen zwischen Jubel und Qual seiner selbst inne wird. Ein Weib zu belauschen, das sich allein w?hnt, das heisst, der Natur ihr am meisten bewachtes Geheimnis zu entreissen, dachte er weiter; wie nackt ist solch ein Seelchen, wie menschenhaft! Bittet und lockt, wenn das Schicksal schweigt, und zuckt und wimmert, wenn es spricht. Er war versucht, sie anzurufen.

Eine leichte Unruhe in den Z?gen des M?dchens belehrte ihn ?ber die Kraft, die der ungewusste Blick eines andern auszu?ben vermag. Sie erhob sich pl?tzlich und ging zum Fenster, um es zu schliessen. Ihr K?rper war entt?uschend klein, in der Senkung der Schultern verriet sich Zaghaftigkeit als eine gewohnte Last. Sylvester beugte sich ?ber die Br?stung, und das M?dchen stiess einen hauchenden Schrei aus; es duckte den Kopf und starrte in das j?h emporgetauchte, unbestimmt erhellte Gesicht des fremden Mannes. Aber er haschte f?rmlich nach ihr, er hielt sie fest durch Blick und Willen. Er redete; er wusste, dass er nicht laut sein durfte; in zwei S?tzen erriet er sie ganz, ihr Leben, ihre W?nsche, ihre Tr?ume, und sie, nicht ahnend, wie leicht dies sei, umklammerte mit den Fingern den Fensterpfosten und staunte ihn gross an. Die nie Umworbene braucht nur begehrt zu werden, und sie begehrt selbst; sie gleicht dem Schlafwandler, der beim ersten Laut aus Menschenmund sich gefangen gibt; ihre Liebe ist Vorrat, ihre Hingebung der Fall einer reifen Frucht, ein Abenteuer verleiht ihr Bestimmung.

Den Mut zu antworten fand sie noch nicht. Aber es folgten andere Abende. Sie war immer zu dieser Stunde in der Wohnung allein. Sie ging zum Fenster wie ein Hungriger zur Mahlzeit. Sie fragte nicht: wer bist du da dr?ben? sie glaubte an den unerwartet Erschienenen blindlings. Vielleicht hielt sie ihn f?r einen jungen Menschen, doch um sie zu t?uschen, h?tte es der Dunkelheit kaum bedurft, sie sah nur, wonach sie verlangte. Ihre Ausdrucksweise war der eines Kindes ?hnlich, ihr Vertrauen zur Welt war durch den Argwohn eines tyrannischen Vaters nur um so schrankenloser geworden. Sie hiess Rahel und sie war achtzehn Jahre alt. Ihr Vater war ein Antiquit?tenh?ndler, und so lange Rahel denken konnte, lebte er einsam mit ihr in diesem schmalen, hohen und finstern Haus. Ihre Mutter hatte sie nicht gekannt, sie wusste nichts von ihr, der Vater sprach nie von ihr. W?hrend des Tages musste sie bei ihm drunten im Laden bleiben; hinter dem Laden war eine kleine K?che, und dort kochte sie. Es war ihr verboten mit den Menschen zu reden. Wenn es dunkel wurde, sperrte der Vater den Laden zu, schleppte seine Geldtruhe ?ber die drei Stiegen hinauf, und dann ging er zum Gottesdienst. Seine Furcht vor den Menschen grenzte an Wahnsinn. Zitternd lag er in seinem Bett, wenn des nachts die Trunkenbolde auf der Strasse l?rmten, und stets verzerrte sich angstvoll sein Gesicht, wenn der B?cker am Morgen die Hausglocke zog. Er bewachte jeden Blick und Atemzug der Tochter; als sie einmal einem Vor?bergehenden, der sie um den Weg gefragt, Auskunft erteilt hatte, kauerte er bei ihrer R?ckkehr in den Laden in seinem Polsterstuhl und heulte dumpf in sich hinein, so dass sie mit Beteuerungen und ihren eigenen Tr?nen seinen Kummer stillen musste. Ohne seine Begleitung durfte sie nicht ?ber die Strasse gehen, und er geriet schon in Unruhe, wenn sie die Augen aufschlug. So war ihr die Welt zum verbotenen Fest geworden, und wenn es eine Ungeduld gibt, die Ketten sprengen und Kerkermauern st?rzen kann, die ihre war von solcher Art.

Die abendliche Fensterstunde war schon Erl?sung; das Beisammensein mit der Strasse als Abgrund dazwischen reizte Sylvester zu verwegenen Pl?nen; Rahel liess sich gen?gen, bis sie die sch?renden Worte des Freundes besser begriff. Ihr war ja das Wort noch neu; es musste keimen, vom Mund zum Ohr konnte es noch nicht Beute der Sinne werden, aber von der Nacht zum Morgen schlug es Wurzeln, und dann kam sie ergl?ht wieder. Sie war ohne die Gabe der Verstellung; ihre Freude, ihre Hoffnung, ihr Erstaunen, alles pr?gte sich in frische M?nze des Ausdrucks um; wenn er ihr Blumen hin?berreichte, wurde sie stumm und bleich vor Dank, und sogleich malte sich die Ratlosigkeit in ihren Z?gen, wie sie das Geschenk vor den Augen des Vaters verbergen k?nne.

Einmal brachte er ihr rote Rosen; sie geriet ausser sich; sie hatte nicht gewusst, dass man im November Rosen haben k?nne, und sie schaute ihn an wie einen Zauberer. Mit einem fast verst?rten Entz?cken fragte sie wieder, wohin sie damit solle; Sylvester sagte, sie m?ge sie unter das Kopfkissen ihres Bettes legen, doch eine, bat er, m?ge sie an ihrer Brust bewahren. Sie nickte, und ein L?cheln huschte ?ber ihr Gesicht; da verlangte er, dass sie es vor seinen Augen tun solle, aber sie fragte verwundert, weshalb er dies w?nsche. Er antwortete nur, indem er seine Bitte dringlicher wiederholte. Rahel sch?ttelte betr?bt den Kopf. Nun stellte sich Sylvester verletzt, und sie, mit erstickter Stimme, beschwor ihn, von solcher Forderung abzulassen. Er entgegnete kalt, ob sie an ihrer Sch?nheit zweifle, er selbst m?sse zweifeln, weil sie sich so ziere, und sogleich machte er Anstalten sich vom Fenster zu entfernen. Als sie sah wie ernst es ihm schien, war sie bereit, ihm zu willfahren, und obwohl ihr anzumerken war, wie sie sich vergebens m?hte, den Sinn seines Willens zu ergr?nden, ?ffnete sie ihr Gewand und steckte die erbl?hteste unter den Rosen zwischen das Hemd und den K?rper.

Sylvester gewahrte die weisse Haut; dunkel bewegt faltete er die H?nde gegen Rahel. Endlich verstand sie ihn. Wie ein Licht strahlte es aus ihren Augen, in dieser Sekunde erwachte das Weib in ihr. Es dr?ngte sie, seine Hinneigung, von der sie Gewissheit zu haben glaubte, zu belohnen und ihm durch eine Tat zu beweisen, dass sie sie verdiene; da streifte sie mit einer keuschen L?ssigkeit Kleid und Hemd v?llig von den Schultern und der B?ste herunter und stand vor ihm wie eine Herme aus Opal. Es sah aus, als ob der Lampenschein ihren Leib durchgl?he, und die sch?ne Rose, deren Stengel noch innen hinter dem G?rtel festgehalten war, glich zwischen den weissen Br?sten einem Wundmal. Ein s?ss bescheidener Triumph lag in ihrer Haltung, und w?hrend Sylvester sie regungslos anschaute, gr?sste sie ihn mit einem fast m?tterlichen Neigen des Hauptes, dann schloss sie das Fenster und zog die Gardine zu.

Es wird Zeit, dies Gespinst zu Ende zu spinnen, sagte sich Sylvester in einer angenehmen Trunkenheit; es soll mich nicht fesseln, es soll mich nur besch?ftigen. Am andern Abend warf er ihr ein Briefchen hin?ber, dessen sorgsam berechnete Leidenschaftlichkeit Rahels Herz entflammte. >>Komm zu mir,<< hatte er geschrieben, >>komm, wenn es Nacht ist, komm zu einem Durstigen, du selbst Verschmachtete. Lass mich nicht unw?rdig um dich betteln, Gl?ck ist ein schnellbeleidigter Gast, nur einmal wirft es dir den goldnen Schl?ssel auf den Weg. Keine Reue ist brennender als die um das Vers?umnis. Das Schicksal pr?ft dich, sei nicht sparsam mit dir, sonst r?cht es sich durch einen Geiz, der dich f?r immer zu fruchtloser Sehnsucht verdammt. Komm, ich warte. Nenn' am Tor meinen Namen, frag' nach meinem Diener, er soll dich ?ber die Treppen geleiten.<<

Den Abend darauf stand er wieder am offenen Fenster. Ein kalter Regen fiel. Vom Dom schlug es sieben, es schlug viertel und halb acht, und die dumpfen Schritte der auf der Gasse Gehenden klangen sp?rlicher. Rahels Fenster blieb geschlossen. Will sie mir nicht einmal Antwort geben? dachte er zornig, und er f?hlte wieder jenen bleiernen ?berdruss in sich aufsteigen, der ihn solange beherrscht hatte. Aber jetzt knarrte hinter ihm die T?re seines Zimmers. Er wandte sich langsam um. Die Lampe war nicht angez?ndet, es flackerte nur eine Kerze auf dem Tisch. In dem entstehenden Luftzug wehte der Vorhang wie eine Fahne weit ins Zimmer hinein. Rahel schritt z?gernd ?ber die Schwelle, machte leise die T?re zu, blieb dann stehen und dr?ckte die H?nde gegen die Brust. Sie heftete die Blicke auf den Boden, und ihr Gesicht hatte einen Ausdruck von Tiefsinn und Verlorenheit.

Sylvester ging auf sie zu und schloss sie in seine Arme. Sie wagte ihn anzusehen; ihre Augen schienen zu flehen: sag' mir, wer du bist. Er sp?rte den warmen K?rper unter dem Gewand, er sp?rte das z?rtlich ungest?me Blut, doch in seine Freude mischte sich eine wunderliche Trauer, und je l?nger er sie hielt, je k?hler wurde ihm ums Herz. Nachdenklich strich er mit der Hand ?ber Rahels Haar, und ebenso nachdenklich k?sste er die Schaudernde auf die Stirn und auf die Augen; pl?tzlich lauschten beide erschrocken. Vom Flur herein drangen streitende Stimmen. Gleich darauf wurde die T?re mit Heftigkeit ge?ffnet und ein alter Mann mit einem weissen Bart trat ein.

Bei seinem Anblick duckte sich Rahel; ihr Kopf fiel wie gebrochen gegen die Brust. Sylvester wollte den Eindringling zur Rede stellen, aber er begegnete einem Blick voll solcher Raserei, dass ihm der Mut verging und er sich nur mit einer fragenden Miene an seinen Diener Adam Hund wandte, der mit philosophischem Ernst auf der Schwelle stand und einem Wachtposten glich, dem man zu seiner Verwunderung das Gewehr weggenommen hat. Eine Magd und ein Kellner hatten sich in den stattgefundenen Wortwechsel gemengt und sp?hten neugierig ins Zimmer.

Eine Weile betrachtete der alte Mann stumm seine Tochter. Die unz?hligen Falten in seinem Gesicht sahen aus wie Striche auf einem radierten Blatt; die weissen Haarringeln, die von der Stirn herabfielen, waren nass vom Regen. Auf einmal packte er das M?dchen bei den Haaren und warf es nieder; Sylvester und Adam sprangen herzu, aber er rollte die Augen wie ein Wahnsinniger und stiess mit den F?ssen nach ihnen. Mit einer Kraft, die ihm niemand zugetraut h?tte, schleifte er Rahel an den Haaren zum Zimmer hinaus, ?ber den Flur, ?ber die Stiege hinunter, so dass man die Schuhe der Ungl?cklichen auf den Stufen klappern h?rte, schleifte sie drunten an einigen Leuten vorbei, die versteinert zuschauten, weil das Entsetzliche des Vorgangs jeden Entschluss l?hmte, schleifte sie ?ber den Gang bis zum Tor und dann noch ?ber die Strasse in sein Haus. W?hrend alles dies mit ihr geschah, hatte das M?dchen nicht einen Laut h?ren lassen.

Zu sp?t gewann Sylvester Besinnung und ?berlegung zur?ck. Als er die Treppe hinuntergerannt und vor dem Haus des H?ndlers angelangt war, hatten sich ungeachtet des str?menden Regens eine Menge Menschen in der engen Gasse versammelt. Sylvester r?ttelte an der T?r, sie war verriegelt. In seiner Erregung forderte er die Umstehenden auf, dass sie ihm helfen m?chten, das Schloss zu sprengen, doch keiner folgte seinem Geheiss, sp?ttisch und finster sahen sie ihn an. Da kehrte er um, und als er ?ber die Stiege hinaufging, fand er einen von Rahels Schuhen dort liegen. Er hob ihn auf und nahm ihn mit. In der Wohnung des Juden blieb es den ganzen Abend ?ber dunkel. Niemals erfuhr Sylvester, auf welche Weise der Alte von Rahels Flucht unterrichtet worden war, ob sie ihm selbst einen Hinweis gegeben, ob ihr Gef?hl und Trieb sie verraten, ob er die Gefahr mit dem Instinkt der Argw?hnischen gewittert und sie heimlich beobachtet hatte, ehe sie selbst noch gewusst, was in ihrem Innern vorging.

Sylvester benutzte einen Teil der Nacht dazu, um seine Koffer zu packen. Am andern Morgen reiste er ab.

Als Agathe in der Stadt ankam, blieb ihr die Besch?mung nicht erspart, von den Hotelbediensteten erfahren zu m?ssen, dass Herr von Erfft abgereist sei. Kaum brachte sie es ?ber sich, zu fragen, ob er nicht eine Adresse hinterlassen habe. Die Antwort lautete verneinend.

Dann stand sie auf der Strasse und ?berlegte. >>Zum Baron de Vriendts,<< befahl sie dem Kutscher.

Der Domherr Baron de Vriendts wohnte in einem alten palast?hnlichen Hause am Residenzplatz. Sie wurde ?ber eine breite, mit roten Teppichen belegte Stiege in einen Saal gef?hrt und ?bergab dem livrierten Diener ihre Karte. Aus einem entfernten Raum t?nte das Spiel einer Orgel. De Vriendts galt f?r einen grossen Liebhaber der Musik, und man erz?hlte sich, dass eine junge Verwandte bei ihm lebe, manche behaupteten auch, dass es eine Fremde sei, ein elternloses adeliges M?dchen, das eine Virtuosin auf der Orgel war.

In fr?heren Jahren war de Vriendts h?ufiger Gast bei Sylvester und Agathe gewesen; jetzt litt er dermassen am Podagra, dass er nicht mehr sein Zimmer, geschweige denn die Stadt verlassen konnte. Das k?rperliche ?bel hatte auch seiner Umg?nglichkeit Abbruch getan; so oft Sylvester in der Stadt gewesen, hatte er gegen Agathe Klagen gef?hrt ?ber die zunehmende Verd?sterung des einst so lebensfrohen Mannes.

Der Lakai kam zur?ck und sagte, Hochw?rden lasse bitten. Sie ging durch ein Zimmer, in welchem Kupferstiche hingen und alte geschriebene Folianten auf schmalen Pulten lagen, und durch ein zweites, in dem sich eine M?nzensammlung befand. Dann musste sie ?ber einen Korridor schreiten, der Diener ?ffnete die T?r, und eine ?berheizte Luft schlug ihr entgegen. Bei ihrem Eintritt h?rte das Orgelspiel auf, sie vernahm einen raschen, leichten Schritt hinter dem Instrument und sah durch den Spalt einer sich schliessenden Tapetent?r ein weisses Gewand. De Vriendts lag in einem Polstersessel; seine F?sse staken in dicken Verb?nden. Auf einem Tischchen vor ihm war ein Schachbrett aufgestellt, und die majest?tisch hinrollende Fuge schien ihn nicht daran gehindert zu haben, die Position auf dem Brett zu studieren. Neben ihm in einem K?fig mit versilberten St?ben hockte ein gr?ner Papagei unbeweglich wie aus Stein; zwischen dem Kamin und der T?re hingen sechs venezianische Marionetten, deren bunte Kleider und wilde Gesichter etwas Gespenstisches hatten. Agathe erschrak bei dem Anblick de Vriendts. Sein Gesicht war eingefallen und aschfahl; die furchtbare H?sslichkeit der Z?ge wurde nur durch den Ausdruck des Leidens gemildert. Die Entfleischtheit des Kopfes bot einen schaurigen Gegensatz zu dem dicken und aufgequollenen K?rper, aus dem hart und laut ein gepresster Atem brach. Agathe musste sich Gewalt antun, um ihr Entsetzen, in das sich Abscheu mischte, zu verbergen. De Vriendts lud sie mit einer m?hsam liebensw?rdigen Bewegung zum Sitzen ein. >>Wie jung Sie sind, wie schlank,<< sagte er mit einer hohlen, gellenden, angestrengten Stimme, und etwas wie Neid und Hass war in seinen h?chst unruhigen Augen.

Stockend brachte Agathe ihr Anliegen vor und fragte, ob de Vriendts nicht wisse, wohin sich Sylvester gewandt habe. De Vriendts zog die Brauen hinauf und erwiderte, er wisse nichts von Sylvester, der seit vier Tagen nicht mehr bei ihm gewesen sei. Er heftete einen misstrauischen Blick auf Agathe und fragte ein wenig lebhafter: >>Ja, ihr lieben Leute, wart ihr denn nicht gl?cklich miteinander?<<

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