Read Ebook: An Deutschlands Jugend by Rathenau Walther
Font size:
Background color:
Text color:
Add to tbrJar First Page Next Page Prev Page
Ebook has 324 lines and 31018 words, and 7 pages
So fand sich bei uns niemals ein anerkanntes Vorbild der Lebensform, des Benehmens und der Gesellschaft; unzusammenh?ngende Konventionen wurden unverstanden gelehrt und als Unterscheidungszeichen gewertet, zur Schaffung eines geschlossenen ?usseren Erscheinungsbildes reichten sie nicht aus. Der erzieherische Nachteil dieses scheinbar ?usserlichen Mangels f?r jedes heranwachsende Geschlecht wird untersch?tzt. Er l?sst den jungen Menschen die W?rde und Sicherheit einer anerkannten Schulung entbehren, verf?hrt zu einem billigen Individualismus, der nur Formlosigkeit ist, erschwert die Sch?tzung und Gemeinschaft einer k?rperlichen Kalokagathie, bewirkt R?ckschl?ge in eine pomadisierte P?belhaftigkeit und erm?glicht die Entstehung von wechselnden Zerrbildern, die nirgends in der Welt geduldet werden w?rden, und von denen das der achtziger Jahre ein teuer bezahltes Beispiel bildet.
Diese Sorge ist vor?ber, denn kommende Zeiten werden die Spaltung der Kasten nicht kennen, der aristokratischen, milit?rischen und bureaukratischen Vorbilder nicht bed?rfen, sondern ihre Wertungen aus menschlichen und volkst?mlichen Vorstellungen sch?pfen. F?r uns bestand sie, euch blieb sie erspart.
Denn ihr hattet das Gl?ck, im Widerspruch zu erwachen. Eure Kindheit hat der beginnende Wohlstand des Landes gepflegt, ein erwachendes Schrifttum, eine nicht volkst?mliche Kunst hat euch ein Widerspiel zur Gegenwart und Wirklichkeit geschaffen, euer Bewusstsein erweckt und durch Kontrast befruchtet. Die schmerzhafte L?sung von der Autorit?t, die einigen von uns gl?ckte, andere brach, war f?r euch kein Problem, denn ihr seid frei geboren. Eure V?ter konnten euch nicht die Unwiderleglichkeit grosser Sch?pfung entgegenhalten, sie hatten nur die Mechanisierung emporgehoben, der sie fruchtlos dienten, den Staat und ihr eigenes Machterbe verwahrlost, und euch mit einer gewaltt?tigen, rauschenden und schimmernden Zivilisation umgeben, die sich anpreisen aber nicht verteidigen konnte. Freilich waren auch unter ihnen grosse M?nner, deren Arbeit Gutes schuf und ohne ihr Wissen K?nftiges bereitete, doch die Welt war entseelt, der Glauben erstorben bis auf seine Wurzeln des sch?pferischen Zweifels, und die ?usserlich gl?nzendste Epoche, die je der Erde beschieden war, die dicht an das k?nstliche Paradies der Schmerz- und Sorglosigkeit, der technischen Schrankenlosigkeit und des ewigen Wohlstandes r?hrte, erstarb im Geiste.
Ihr durftet zum Bewusstsein erwachen, und wenn uns ?lteren ein Anteil an der Freude dieses Erwachens zufiel, so war es der, dass einige von uns versucht hatten, der prachtvoll untergehenden Zeit ins Auge zu blicken, ihr das Gesetz ihrer Sterblichkeit zu entreissen und mit der Gewissheit der aufsteigenden Seele heimzukehren. Selbst eure V?ter hatten euch vorgearbeitet; sie waren der alten Strenge und Herrschgewalt nicht f?hig, denn die fordert zweifelfreie ?berzeugung und ?berlieferung, sie aber hatten nichts zu bieten als schwankende Relativit?t, die verstehen wollte, aber nicht werten. Unschl?ssig lockerten sie das Band der Schule; da floss viel Bildung ab; edle Substanz, die euch fehlen wird, und schwer entbehrlich dem Deutschen, der ein Ordner, Verwalter und Richter des geistigen Erdenguts sein soll. Daf?r wurdet ihr freier, und lerntet f?hlen, dass Jugend, blosse Jugend, ohne Beziehung auf Dinge des Wollens und Handelns ein erf?llendes Gl?ck ist. Ihr wandtet euch ab von gepriesenen Werken und K?mpfen, dahin, wo alle Unbestechlichkeiten vor euch den Trunk ihres Durstes gesucht hatten, zur Natur, und dahin - dies ist euer sch?nster Gewinn - wohin nicht viele Geschlechter gedrungen sind, zur Menschenliebe, Gemeinsamkeit und Freundschaft. Viel fehlte nicht, so h?ttet ihr euch von jedem lastenden Erbteil der Vergangenheit losgesagt und den Weg zur alten Menschenfreiheit gefunden.
Ihr schweiftet durchs Land und lerntet die Freundschaft zu B?umen, Tieren und Menschen. Manches Lied und mancher Vogelruf wurde euch vernehmlich, und ihr achtetet auf Gestirne, Wind und Wolken und lerntet die Namen der Kr?uter und die Spuren der Tiere auf morgendlichen Wegen. In N?chten sasset ihr beisammen und sprachet von freier, verantwortlicher Bestimmung des Lebens, von einem Dasein ohne Hass und Gier und vom Erwachen des Geistes.
Den D?monen konnte dies Dasein ein tr?umerisches Spiel scheinen, zu leicht und gl?cklich selbst f?r die Jugend Erdgebundener. Da geschah die Berufung, die euch vor anderen Geschlechtern traf und zur Mannheit schlug und eure Stirn mit dem Lose der Verantwortung f?r k?nftige Wende zeichnete: der Sturm des Krieges ergriff euch und viele durften siegend sterben. Der Zeiger der Geschichte steht still, solange die Urkr?fte und Titanen ringen; die letzte Antwort, die ihr schuldet, ist nicht Aufbruch und Kampf, sondern Heimkehr und Einkehr.
Unsere Herzen sind zumeist bei denen von Euch, die ihre Unschuld und ihr reines Gl?ck, furchtlos, das Seiende segnend, ohne Zweifel und ohne Frage ins Feld getragen haben. Sie sind der bl?hende Leib und die lebendige Kraft des neuen Volkes. Heute noch sind sie mit der Meinung und Wertung des Tages zufrieden, mit leichten Erkl?rungen einverstanden, leiblich und geistig im Dienst, der Gegenwart zugekehrt. So aber werden sie sich auch der neuen Gegenwart zukehren, und wenn sie reinen Herzens bleiben, tun, so Gott will, was not ist.
Jene anderen aber, denen im Herzen der Krampf und das Weh der Erde zum zweiten Male sich abspielt, die in der Angst der Schuld und in der Qual des sch?pferischen Zweifels vergehen, ihnen ist das harte Los bestimmt, sich loszuringen, in die Tiefe zu fahren und neue Gestaltung emporzutragen. Ihre Verantwortung ist es, wenn die Dinge des Landes und des Erdteils so bleiben, wie sie sind, wenn Neid und Habsucht die treibenden Kr?fte von Volk zu Volk bleiben, wenn die V?lker als Fremdlinge, als Objekte in den H?usern ihrer Staaten sitzen, wenn Ungerechtigkeit, Hass, Gier und Entseelung den entfleischten Erdteil von Kampf zu Kampf in Brudermord und Vernichtung treiben. Ihre Gefahr ist Zerm?rbung der grossen Aufgabe und ihrer selbst durch unergriffene Kl?gelei, durch selbstverliebte Theoretik, durch flache Originalit?t. Erschreckt nicht vor dem einfachen Gedanken! Selten liegt die Wahrheit in der verschmitzten neuen Formel, meist liegt sie offen zutage, vor aller Augen, nur durch ihre Offenkundigkeit verborgen; das reine Herz muss sie finden.
Mit ihnen, den Zweifelnden, muss ich reden. Nicht als einer, der weiss und sicher ist, sondern als einer von denen, die mit ihnen leiden und suchen, die f?hlen, dass alle Gemeinschaft ein Bekennen ist.
Zuerst steigt der Urzweifel auf. Was ist wirklich? Es gibt nur t?uschende Erscheinung. Was ist erstrebenswert? Es gibt keine absoluten Werte. Was ist ein Ziel? Ein Zustand, von dem man, sobald er erreicht ist, zu neuen Zielen hinwegstrebt - oder eine unertr?glich s?sse, falsche Seligkeit. Was sind menschliche Triebkr?fte? Genuss und Macht. Was ist Tat und Opfer? Zwang unfreien Willens. Was ist Sittlichkeit? Eine Konvention des Zeitalters und der Umwelt. Was ist Geschichte? Die wechselnde Ausdrucksform des Nahrungskampfes. Was ist Dasein? Eine Verirrung des Absoluten, aus dem es nur den Ausweg gibt in Traum und Nichts.
Es ist niemand verwehrt, einen, mehrere oder alle dieser S?tze f?r wahr zu halten. Nur sollte er dann so ehrlich sein, wie es Skeptiker und Pessimisten nicht immer gewesen sind, wo nicht auf Handlung, so auf G?ltigkeit der Handlung zu verzichten. Er sollte nicht versuchen, mit d?rftiger und verhohlener Anleihe aus anderen geistigen Breiten eine H?tte zu zimmern, in der man den ungeselligen, unbequemen, unmassgeblichen Hausrat der Weltflucht oder Indifferenz, des Zynismus oder Epikur?ertums stillschweigend und verstohlen gegen wohnlichere Ger?tschaften vertauschen kann.
Dr?ngt uns das Herz, bestimmend zu handeln, so haben wir schon unbewusst und unbeirrt die Wahl getroffen. Unser Wollen erh?lt nicht mehr sein Licht aus der D?mmerwelt des Intellekts, sondern aus dem h?heren und reineren geistigen Bezirk der Seele, die sich nicht vor unteren Instanzen zu verantworten hat, sondern die selbst die h?chste, an der Grenze des Irdischen waltende Instanz ist. In ihrem Reiche haben wir den Boden des Glaubens betreten, aus dem von jeher jede Quelle h?heren menschlichen Willens entsprungen ist, gleichviel, ob der geometrische Verstand sich nachtr?glich entschliesst, aus handfesten Brocken, Symbolen der Erscheinungswelt, Brunnenr?nder und Deiche zu erbauen. In diesem Reiche, das alles Sittliche umschliesst und uns mit dem G?ttlichen verbindet, sind wir frei und bed?rfen keiner Beweise und ?berredungen, denn was wir aus heiligem Bezirk unber?hrt herniedertragen, leuchtet und leuchtet ein, es ?berzeugt durch sich selbst, aus eigener Kraft. Nur dann jedoch wird das prometheische Werk armer menschlicher Kraft gelingen, wenn wir dies Reich der Seele nicht verleugnen, wenn wir streben, auf seinem Boden Heimat zu gewinnen, wenn wir den Glauben wollen, ohne den wir nichts wollen k?nnen, wenn wir an den Willen glauben, ohne den wir nichts glauben k?nnen. Hier liegt die Synthese des Transzendenten und des Rationalen. Unber?hrbar, aus hohem Reich gegeben ist der Wille und das Ziel, allen Geisteskr?ften verb?ndet und anheimgestellt ist das Wollen und der Plan.
Der n?chste Zweifel kommt von der Schulweisheit. Alle Weltverbesserung ist Utopie. Nie hat sich das innere Wesen des Menschen ge?ndert, Entwicklung erlebt nur das Wie, nicht das Was, das Gl?ck des Menschen vermehrt sich nicht. Ja freilich, Technik und Wissenschaft! Sie kommen vorw?rts. Doch wer auf eine ?nderung, gar eine Veredelung der menschlichen Triebkr?fte, auf eine Versittlichung der Gesellschaft, der Wirtschaft hofft, der verkennt das Wesen der unfehlbaren Theorie und mag Narren tr?sten.
Das sagen meist die Privatdozenten und solche, die es werden wollen, in der forschen ?berzeugung ihrer forscherischen ?berlegenheit. Dann wenden sie sich wichtigeren Tagesfragen zu, etwa dem Einfluss der Pappd?cher auf den Geburten?berschuss, und vergessen, dass wenn die Welt im Grossen nicht gebessert werden kann, es keinen Sinn hat, im Kleinen damit anzufangen.
Nie bin ich m?de geworden zu erwidern: Wenn wissenschaftliche Betrachtung einen Wert hat, so liegt er darin, dass sie uns zeigen kann, wie sehr von Urzeiten und Urst?mmen her das Wesen des Menschen sich ge?ndert hat. W?re dies Wesen aber auch in sich selbst unver?nderlich, so erleben wir von Jahrhundert zu Jahrhundert die ?nderung der herrschenden sittlichen Bewertungen und mit ihnen die Umstellung alles Benehmens. Wenn in einer Beamtenschaft, einer Armee, einer Kaste oder einem Volke die herrschenden Sittenbewertungen etwa auf die Begriffe der Unbestechlichkeit, des Mutes, der Wahrhaftigkeit eingestellt werden - und das sind Vorg?nge, f?r die wir im eigenen Lande Beispiele haben -, so ist die Er?rterung m?ssig, ob damit ?ber lang oder kurz alle zur Lasterhaftigkeit Gestempelten aussterben; sicher ist, dass die Bestechlichen, die Feigen und die L?gner mit ihren Lastern nicht mehr frei hervortreten, und dass diese Laster aufgeh?rt haben, die Gemeinschaft zu beherrschen. Immer wieder ?bersieht man, dass alle Gemeinschaften eine in ihrer Zusammensetzung sehr ?hnliche Mischung aller sittlichen Qualit?ten enthalten, und das sittliche Aussehen und Wirken weniger von den ?berwiegenden Qualit?ten bestimmt wird, als von denen, welchen gestattet wird, an die Oberfl?che zu treten. Welchen aber diese freie Bewegung gestattet wird, und welche anderen gezwungen werden, sich im Untergrunde zu verbergen, das entscheidet die sittliche Bewertung, also im Gegensatz zu ?berkommenen Eigenschaften, der freie sittliche Gemeinschaftswille, der hierdurch zur eigentlichen herrschenden Kraft wird.
Ist somit der sittliche Wille der Bindung aus Herkunft und Vergangenheit dadurch enthoben, dass er nicht auf der Ebene physischer Umgestaltung, sondern auf der Ebene bewusster Wertung t?tig wird, ist somit die Frage nach der Ver?nderlichkeit des Gemeinschaftscharakters eine falsch gestellte Frage, so wird auch die Pr?fung des Problems vom wachsenden Gl?ck ergeben, dass dieser Zweifel die Grundfragen des menschlichen Wollens leichtfertig verkennt.
Wir sind nicht da um des Gl?ckes willen. Unser Wille ist nicht da, noch weniger ist Entwicklung da, um unser Gl?ck zu vergr?ssern. Wir schreiten nicht den Weg der Begl?ckung, sondern den Weg der Vervollkommnung, den Weg zur Seele, gleichviel, ob unser Gl?ck dar?ber zugrunde geht. Und wir schreiten diesen Weg nicht bloss, weil wir m?ssen, sondern weil wir wollen, weil es noch andere treibende Kr?fte gibt, die in uns selbst liegen.
Es gibt viele, die an ihre Kindheit mit Wehmut zur?ckdenken und sagen, damals seien sie gl?cklich gewesen, jetzt seien sie es nicht mehr. Trotzdem wollen sie nicht zur Kindheit zur?ck, denn die Art kindlichen Gl?cks w?gt die Art erwachsener Schmerzen nicht auf. W?rde uns nachgewiesen, eine niedere Sch?pfungsgattung sei mit einem absoluten Mass an Gl?cksgef?hlen begabt, das alles Mass unserer seligsten Empfindungen weit ?bertrifft: wir wollten mit diesem Stand nicht tauschen. Denn es entscheidet das Gef?hl der Vervollkommnung, die Gl?cksstufe ist mehr als die Gl?cksmenge. Wir sind geneigt, in romantisierender Anwandlung das Geschick alter Zeiten und V?lker, etwa der Griechen h?herzustellen als das unsere. K?nnten wir uns entschliessen, alles zu vergessen, was wir sind und haben, erleiden und ersehnen, um Griechen der Vergangenheit zu sein? Wir, die wir den Blick ?ber den Erdball, die Zeiten und die Naturkr?fte richten, die wir von der Kunst aller grossen Epochen, von der deutschen Musik, vom n?rdlichen Fr?hling, vom Glauben des Ostens und Westens, von zehntausendj?hriger Geschichte, von der Philosophie der V?lker und der vergleichenden Naturbetrachtung eines Weltsystems leben: K?nnten wir uns in engen Landst?dten, in ger?telosen Kammern, in gleichf?rmigen Marktversammlungen, mit einer auserw?hlten aber vergleichlosen Lebensform und Kunst begn?gen? Die Polyphonie unseres Lebens, die an sich kein Gl?ck, wohl aber eine Stufe ist, duldet keine R?ckkehr zur einstimmigen Melodie.
Dies sind nur Bilder und Vergleiche. Des Beweises bed?rfen wir nicht; denn in uns eingepflanzt ist der Drang nach oben, in Sehnsucht, Wollen und Handeln. Ein Denken, das diesen Drang zu vernichten strebt, macht uns zu Verzagten des Gewissens, zu St?mpern des Tuns. Ein Denken, ?ber das man sich, bewusst oder unbewusst, stets hinweggesetzt hat und hinwegsetzen wird, um recht zu leben, lohnt nicht gedacht zu werden. Eine niedere Instanz, der intellektuelle Geist versucht, uns ihr Urteil aufzudr?ngen, und wir antworten ihr: du bist unzust?ndig, ?berdies ist dein Urteil falsch und unvollstreckbar.
Ein anderer Zweifel kommt von der deutschen Wissenschaft. Ein Engl?nder hat es gelehrt, wir haben die Lehre aufgenommen und mit unserer Gr?ndlichkeit hundert Jahre lang zu Tode gehetzt: Alles Geschehen spriesst aus den Wurzeln der Zeiten, des Bodens, der St?mme, der ?berlieferung. Durchdringt man mit rastloser Liebe und emsiger Forschung die Gegebenheiten der Geschichte und der Erdfl?che, die Gepflogenheiten der Sitten und Einrichtungen, so verwandelt sich alle Willk?r des Geschehens in sanften Fluss des Wachstums, alles ?berraschende ordnet sich ein, alles unheimatlich Fremde wird abgeschieden. Diese Betrachtungsweise hat f?r den Gelehrten den Vorteil, dass sie alles Denken durch gef?hlvolles Wissen ersetzt. Unersch?pfliche Ankn?pfungen lassen sich finden, alles Bestehende rechtfertigt sich durch immer neu vertiefte Forschung, alle Taten grosser M?nner, ja alle Naturereignisse und Wirrnisse erscheinen als Erf?llungen einer Urverheissung, die in der jeweiligen Gegenwart gipfelt. Denn leider reicht die Kette immer nur bis zur jeweiligen Gegenwart; Wissenschaft ist nun einmal nicht prospektiv, sie kann niemand sagen, wie er es machen soll, und was, und ihre Prophezeiungen sind meistens falsch. Neue Kr?fte, welche die geradlinige Verl?ngerung des Systems bedrohen, erscheinen als St?rungen, als feindliche M?chte - freilich werden sie, wenn sie Erfolg haben, nachtr?glich in die Ordnung eingegliedert und mit den erforderlichen Vergangenheitswurzeln bedacht -; im Vorblick wirkt die historische Methode konservativ und ist daher im offiziellen Deutschland willkommen, ja unentbehrlich.
F?r die Geschichtschreibung wird sie es bleiben, und auf diese sollte sie sich beschr?nken. Die Gestaltung der Zukunft wurde uns durch die gem?tvolle Verf?hrung der wissenschaftlichen Romantik lange genug gehemmt; eine Zeitlang muss wieder einmal, wie bei jeder grossen Wende, die Idee herrschen. Romantisch betrachtet erscheint freilich die Idee fremd, abstrakt, rational, der lokalen F?rbung und des gewohnten heraldischen Zierats ermangelnd. So fremd erschien vielleicht dem l?ndlichen Steinmetzen der Aufriss einer Kathedrale. Ist die Idee verwirklicht, der Turm gebaut, so erkennt man ihre Bodenst?ndigkeit, die eben durch die Verwirklichung gewonnen wurde.
Nur aus der Verm?hlung des abstrakt Idealen mit dem greifbar Bestehenden stammt Entwicklung; der Baum, der nicht in den Himmel wachsen will und nur seinen Standort bedenkt, w?chst nicht und wird von anderen ?berschattet; dass er nicht in den Himmel wachse, daf?r ist gesorgt, seine eigenen Wurzeln werden ihn zur?ckhalten. Alexander h?tte nicht den Osten hellenisiert, Karl nicht die Sachsen bekehrt, Napoleon nicht die neue Zeit emporgef?hrt, wenn sie sich von Professoren ?ber Bodenst?ndigkeit h?tten beraten lassen; nachtr?glich h?tten sie vielleicht einige aufkl?rende Zustimmung erlangt. Der Vorblick ist vom R?ckblick verschieden; leicht weist man auf, wie die Frucht am Stengel, der Stengel am Zweig, der Zweig am Ast, der Ast am Baum sitzt. Ein anderes ist es zu sagen, welche Knospe sich zum fruchttragenden Ast entwickeln und welche verdorren wird. Die Wissenschaft untersch?tzt die Fliehkraft des sch?pferischen Willens, der um so erdenm?chtiger wird, je weniger er sich um die irdische Bindung k?mmert.
Ein ganz tats?chliches Moment sollten die Verehrer des ruhigen Flusses und der ?berlieferungskr?fte nicht vergessen: Die V?lker, mit denen die nationale Erinnerung sich in feierlichen Augenblicken identifiziert, leben nicht mehr. Die Italiener sind keine R?mer, die Franzosen keine Franken und die Deutschen keine Germanen. Die Verschmelzung mit Unterworfenen und mit den eigenen unbekannten Unterschichten hat die V?lker nicht nur von Grund auf gewandelt, sondern auch weit mehr, als man zuzugeben geneigt ist, untereinander ange?hnlicht. Die geistigen und k?rperlichen Verschiedenheiten der Proletariate Europas, die heute schon die ?berwiegenden Massen der V?lker ausmachen und daher auch die eigentlich Kriegf?hrenden sind, erweisen sich als sehr gering. Der Umschichtungsbewegung, die in Deutschland die letzten f?nf Jahrhunderte erf?llt, entstammt die ganze sichtbare ?nderung unseres V?lkerlebens; die Einrichtungen sind den ?nderungen der Substanz nicht vorausgeeilt, sondern zeitweise um grosse Strecken zur?ckgeblieben; man erinnere sich der kleinen Einzelz?ge: dass vor dem Kriege das Wort Volk in der offiziellen Sprache verp?nt war und nicht an den Reichstagsgiebel geschrieben werden durfte, und dass jede Verteidigung des Begriffes der Demokratie an Staatsverbrechen r?hrte. Zweierlei sollten die kryptokonservativen Denker im Auge behalten: einmal, dass die Wasser der Weltgeschichte unaufhaltsam zum Tale laufen, das Freiheit heisst, und sich niemals haben umkehren lassen, sodann, dass ?berlange Stauung die D?mme bricht.
Der ernsteste Zweifel ist der chaotische.
Es kann geschehen, dass das Entsetzen der Zeit in einem Menschen so m?chtig wird, dass er Heilung nur noch in der Vernichtung sieht, in der Feuerverzehrung selbst, im restlosen Niederbrennen des Brandes. Das Entsetzen der Zeit - ist denn dieses Entsetzen gr?sser als das Entsetzen fr?herer Kriege? Ist denn die Zahl und Masse das M?chtige, ist denn der Mord der Millionen schw?rzer als der Mord eines Einen? Sind denn geschlachtete St?dte und Landstriche der Grossk?nige und Pharaonen, Khane und C?saren mildere Opfer gewesen als die der Handgranaten und Gase? Freilich nicht; menschliches Elend w?chst nicht ?ber sich selbst hinaus durch angeh?ngte Nullen, die Million ist an sich nichts anderes als die Myriade. Dennoch ist diese wissenschaftlich geregelte Feuerflut das vorbildlose Grauen der Jahrtausende, und es ist begreiflicher, dass manche, die es erleben, an allem verzweifeln, als viele, die es erleben, an nichts verzweifeln.
Alles fr?here Elend war ein Geisselschlag, der auf den R?cken der gesunden Erde sauste. Getroffen wurden von der Furie zwei Heere und was ihnen in den Weg kam, das andere blieb gesund. Der Dreissigj?hrige Krieg war das Vorbild der fressenden Kriegsseuche, doch sie blieb im Raume beschr?nkt. Den wahren Vergleich dessen, was wir erleben, nein zu erleben beginnen, bietet der f?nfhundertj?hrige Brand, in dem ein Weltzeitalter sich l?ste. In der Schmelzglut versank die s?dliche Antike und die m?nch-ritterliche Strenge des Nordens stieg empor. Doch auch diese Krisis war innerlich milder, denn sie betraf unbewusste Geschlechter in der Gestalt eines objektiven Schicksals.
Was wir erleiden ist die furchtbare Konsequenz der Sinnlosigkeit, die selbstgeschaffene H?lle. Nicht Eine verantwortungsvoll lebendige Seele will das Leiden, und jede ist verflucht, wissentlich und willentlich, in Duldung und Hass, in Widerstreben und Furcht das Leid des anderen und das Leid der Welt zu mehren. Jeder, der lebt, und wenn er nur sein t?gliches Brot verzehrt, ist mitschuldig, sch?digt und t?tet, keiner kann sich dem Geisseltanz entziehen, je heisser er blutet, desto wilder muss er schlagen. Keiner weiss den Sinn, keiner den Grund, keiner den Zweck, es bleibt ihm als Trost nur der selbstentfachte Hass und die zitternde Emp?rung ?ber die Schlechtigkeit des anderen. Niemand sieht den Ausweg, denn wem es schlecht geht, der kann nicht beenden, und wem es gut geht, der wird gezwungen, seine Forderung zu steigern. Ein jeder aber, dessen Herz nicht stumpf ist, f?hlt, dass die Schlechtigkeit des anderen es nicht allein sein kann, dass hinter allen Schlechtigkeiten ein b?ses Schicksal steht, und dass dieses Schicksal die Ungerechtigkeit aller ist. Und deshalb wiederum f?hlt man die Unabwendbarkeit der selbstgeschaffenen Not, f?hlt man, dass sie nicht zu Ende gehen kann wie die Entscheidung eines Zweikampfes, die Recht und Unrecht durch Busse und Erstattung l?st. Noch immer zwar, weit tiefer als man weiss und zugibt, ist die Welt durchs?ttigt von der Vorstellung des Gottesurteils, von der Verwerfung des Besiegten, von der Rechtfertigung des Siegers, dass der Sieg an sich nach Gottes Wohlgefallen neues Recht und neue Sittlichkeit schafft, dass der Unterworfene von der Gottheit selbst dem Unterwerfer unter die F?sse gelegt wird zur Schonung oder Vernichtung nach freiem Ermessen, wie der Ausdruck lautet: auf Gnade und Ungnade. Daher bei jedem Misserfolg ein tieferes Gef?hl als Entt?uschung und Kummer, n?mlich die sittliche Angst vor der Verwerfung, bei jedem Erfolg ein h?heres als Freude, n?mlich die Sicherheit, auf der Seite des k?mpfenden Gottes zu stehen; daher die wachsende Hemmung gegen Verst?ndigung: Denn wie sollte der jeweils vom Gott Beschirmte, der Tr?ger des Schicksals, mit dem Gezeichneten, dem vor aller Welt Widerlegten und Entrechteten paktieren? Und die urzeitliche Vorstellung wird bekr?ftigt durch den ?ffentlichen Wettbewerb der Beteiligten um die Gunst des Schlachtengottes, von dem man annimmt, dass sein Entschluss durch Gebet, Danksagung, Ehrenbezeigung und Busse wo nicht ge?ndert, so doch gest?rkt werden k?nne.
Der neuzeitliche Mensch, dem es nicht mehr gegeben ist, das Entsetzen auf den Kometen und den Zorn der D?monen abzuw?lzen, der in seinem Inneren alle Schuld und Verantwortung f?r das widerwillig selbstgeschaffene Leid sucht und findet, kann von Verzweiflung so ?berw?ltigt werden, dass er aus seiner Not ins Chaos fl?chtet. Es kann ihm geschehen, dass er getrieben wird, alle Werte anzutasten, dass er die Frage wagt, ob jene G?ter, die Christus nicht als G?ter kannte, Vaterland, Nation, Wohlstand, Macht, Kultur wahrhaft so hoch erhaben, so tief gegr?ndet sind, dass in ihrem Namen die Welt friedlich und kriegerisch sich in die ewige S?nde der Feindschaft, des Hasses und Neides, der Ungerechtigkeit und Unterdr?ckung, der staatsm?nnischen R?nke, der Gewalt und des Mordes verstricken d?rfe. Der Zweifel kann sich versteifen, wenn berufene Ausleger des Wortes, zwischen Schrift und Wirklichkeit gestellt, die Gebote der Liebe ausser Kraft setzen oder durch gewagte Deutung den k?mpfenden M?chten unterwerfen. Ist denn nicht den Armen und Ohnm?chtigen das Himmelreich verheissen? Ist nicht die Verk?ndung allen V?lkern gepredigt? Ist es nicht g?ttlich, Unrecht erleiden? Ist es das Wissen, das selig macht? Ist nicht ein Vater im Himmel und ein Land die Erde?
Warum sollen nicht die V?lker in der Menschheit l?sen, die Staaten im guten Willen, die M?chte in g?ttlicher F?gung, das Handeln im Dulden?
Der Mensch ist ein Gesch?pf des Gleichgewichts, und niemandem steht es mehr an als dem Deutschen, der ?ber Zeiten und R?ume blickt, die h?here Menschheitsstufe zu begreifen. Nicht das Gleichgewicht des Tieres, das den Anspr?chen der eigenen und der umgebenden Natur gen?gt, wenn es widerspruchlos sich den einfachen Trieben und Wallungen seines Wesens ?berl?sst; sondern das wiedergewonnene schwebende Gleichgewicht, dessen die Kunst das sch?nste Bild ist, das Gleichgewicht der Wiedergeburt aus den Wirrnissen unaufl?slicher Widerspr?che. Es ist der Stolz unseres Daseins und der Beweis, dass wir hart an der Grenze des g?ttlichen und des animalischen Reiches stehen: dass die widerspruchsvollen Bedingungen, denen die Sch?pfung uns unterworfen hat, schlechthin unl?sbar sind, und dass dennoch die Dichterkraft einer Lebensharmonie uns zugemutet wird. Die Gewalt der Sinnlichkeit und die Inbrunst der Erdenflucht, die Standkraft der Selbstbehauptung und die Entsagung der N?chstenliebe, die Sorglosigkeit der Vernichtung und die Marterschaft des Opfers, die Klugheit der Naturbezwingung und die Kindlichkeit des Aufblicks, der Eigensinn der Arbeit und die Selbstvergessenheit der Tr?umerei, die Herrenkraft der Verantwortung und die Demut des Dienstes, die Vermessenheit des Zweifels und die Einfalt des Glaubens, die H?rte der Gerechtigkeit und die Zartheit des Mitleids, der Wille zum Gl?ck und die Sehnsucht zum Leiden, die D?monie der Leidenschaft und die Stille der Verkl?rung: Diese Gegengewalten hat eine Gottheit gewoben, so unentwirrbar und so unentrinnbar, dass die Unerf?llbarkeit des Gleichgewichts uns schlechthin als das Sinnbild unerf?llbarer Vollkommenheit erscheint. Die Problematik der menschlichen Kontraste aber wirkt sich aus in der Unvereinbarkeit der objektiven Ideale; kann man im Inneren das Wollen und Dulden nicht vereinen, so lassen sich im ?usseren die Forderungen der Macht und Gerechtigkeit nicht verm?hlen.
Einseitigkeit ist der Ausweg, den der einzelne ahnungslos oder resigniert betritt, und aus der Mannigfaltigkeit der Einseitigkeiten kann einer individualistischen Nation wie der unseren noch immer die volle Rundung der Allseitigkeit erwachsen. Wenn sie Heilige und Leidenschaftliche, T?tige und Betrachtende, Schaffende und Geniessende in rechter Mischung enth?lt, so kann sie den Schein eines vollendeten Volkes und einige seiner Richtkr?fte noch immer bewahren. Das Ziel, dem wir zustreben, ist jedoch nicht Vollkommenheit aus der Mannigfalt der M?ngel, sondern Vollkommenheit des Ganzen aus Vollkommenheit der Teile, das Ziel der Hellenen muss das Ziel der Deutschen sein. Ganz und gar muss es aber unserem deutschen Denken widersprechen, aus Furcht vor dem Kampf um Vollendung die Einseitigkeit der Nation zu wollen. Uns hat man fr?her nachgesagt, dass uns vor anderen der ungetr?bte Blick f?r alles Vorz?gliche geschenkt war, uns steht es auch in Zukunft nicht an, den Verzicht der Beschr?nktheit zu w?hlen. Uns steht nicht an, was dem Orientalen gew?hrt ist; selbst um der Heiligkeit willen d?rfen wir nicht auf T?tigkeit, um der Betrachtung willen nicht auf Naturbeherrschung verzichten. Unser abendl?ndisches und deutsches Los verlangt zum Innerlichen das Gestalten, zum Empfangen das Geben, zum Leiden das Schaffen, zum Fernsten das Nahe. Auf dem Wege zur Menschheit d?rfen wir nicht die Familie und nicht die Nation ?bergehen, auf dem Wege zur Sittlichkeit nicht die Ordnung, auf dem Wege zum Geistigen nicht das Greifbare: Boden, Wohlstand und Macht. Dieses sage ich euch, den Zweifelnden; den Selbstgewissen aber, die nicht denken und pr?fen, sondern bekr?ftigen, werden wir immer wieder zu sagen haben, dass von den greifbaren Dingen auch die h?chsten nicht Selbstzweck sind.
Doch der chaotische Zweifel ist nicht bes?nftigt: Auch wenn wir die Ganzheit der nationalen G?ter wollen, so k?nnte es sein, dass aus der Wirrnis unserer Tage nicht mehr das T?rmen der Mittel uns rettet, sondern der Abbau, dass Raum und Luft vor allem zu schaffen sei, und sei es durch Sprengung. Auch ein Waldbrand schafft fruchtbares Land, und was bedeuten f?r die Geschichte der Zeiten die Jahrzehnte der W?stenei, aus der sich zuletzt doch wieder der wiedergeborene Wald erhebt.
Wir haben den Waldbrand im Osten erlebt. Es war das weltgeschichtlich Gr?sste von dem, was bisher im Kriege geschah und vielleicht geschehen wird, als das gequ?lteste von allen V?lkern seine Vergangenheit ausl?schte, den Krieg ausl?schte mitsamt dem Willen zur Macht und ?usseren Gr?sse, sich und die Welt zur Menschheit aufrief und den Feuerbrand in das erstorbene Dickicht seines Gewaltstaats schwang. Ein Hauch der Andacht zog ?ber die Erde. Man empfand: Hier geschieht etwas, das mehr ist als dummschlau verlogene Anerbietungen, als prahlerische Drohungen, als Nahrungs- und Moralersatz, als Diplomatenpfiff, als Erfindung neuer Todesarten. Man empfand: Eine Tat der Ent?usserung und Befreiung ist wie ein Bekenntnis, durch sie kann ges?hnt werden, durch Taten der Verschlagenheit und Erbitterung wird nicht ges?hnt.
Doch alsbald ahnte man: So leicht wird es einem Volke nicht gemacht. Nicht in einer Welt der Starrheit, des Schweisses und der Tr?nen, wo der eine ein Lebenlang, das Volk durch Jahrhunderte b?sst. Ein Volk springt nicht mit beiden F?ssen in den Himmel, wenn es sich durch unvordenkliche Knechtschaft und durch mitschuldige Duldung besudelt hat, auch wenn es ein kindliches und beseeltes Volk ist.
Das russische Volk wird alles nachholen m?ssen, was V?lker begangen und erduldet haben, den S?ndenfall der Bewusstheit, den Zweifel, die Selbstvernichtung, die Binnenk?mpfe, das innere und ?ussere Schicksal. Zun?chst steht ihm einmal der Dreissigj?hrige Krieg, die Zerstampfung durch alle Nachbarv?lker und die Selbstzerfleischung der Gebiete und Parteien bevor. Wie ihr franz?sisches Vorbild wird die russische Revolution alle Marterstufen der Schuld und Erniedrigung, der Schmach und Verleugnung, des Terror und der Reaktion durchlaufen, ihr Weg wird in Blut und Morast versinken, und dennoch wird sie wie die franz?sische Revolution in hundert Jahren die Erde umschreiten und restlos verwirklicht sein. Freilich nicht so, wie sie meint. Die franz?sische Revolution wollte das Naturreich Rousseaus und die Republik der R?mer, sie schuf, was ihrem inneren Wollen entsprang, das Reich des B?rgers, das eigens?chtige N?tzlichkeitsstreben des bourgeoisen Liberalismus und die konstitutionelle Plutokratie. Die russische Bewegung will Tolstois Reich der Gerechtigkeit und den Kommunistenstaat der Marxisten; was sie erreichen wird, ist das Reich des wirtschaftlichen Ausgleichs und die organisch durchstaatlichte Wirtschaft.
Ein gewaltiger Gegensatz aber besteht zwischen der westlichen und der ?stlichen Bewegung, den die russischen Kommunisten und ihre Anh?nger nicht erkennen: Den Franzosen lag ob, die feudale Ordnung zu brechen, um das freie Spiel der Kr?fte zu entfesseln, und ein Dekret reichte hin, um das zu vollenden. Die kommende Ordnung jedoch ist keine Aufl?sung, sondern ein Aufbau, nicht Aufst?nde und Dekrete k?nnen ihn schaffen, sondern die rastlose organische Arbeit schaffender ?onen. Vielleicht ist f?r den fehlerhaft begonnenen, wenig vorgeschrittenen Bau der russischen Staatswirtschaft und Staatsverfassung die Abtragung, die wissentliche Staatssabotage das wirksame Mittel, um Raum f?r das Bessere zu schaffen, obwohl schon hier der Blutverlust selbst die gelungene Operation mit t?dlichem Ausgange bedroht. Entwickeltere L?nder haben zu viel zu verlieren; sie haben in der Not des Krieges manches gelernt und werden in der Not des Friedens so viel dazu lernen, dass ihnen ein Umbau gelingt, bei dem die Fundamente und ein Teil der St?tzen erhalten bleiben.
Am wenigsten aber ist es den Deutschen bestimmt, Gewalt zu treiben, wo Kunst und Umsicht helfen kann. Wir waren nicht revolution?r, als es uns bestimmt war, es zu sein; die misslungene achtundvierziger Bewegung diente dazu, den oberen M?chten zu zeigen, wie wenig politischer und sozialer Wille im Volke verankert war. Wir waren und blieben gewohnt, Rechte und neue Ordnungen als widerwillige Geschenke ?rgerlicher Geber zu empfangen, und leben daher heute im seltsamsten Gemisch von Feudalismus, Plutokratie, orthop?dischem Sozialismus und undemokratischem Liberalismus. Den k?nftigen Aufbau aber werden nicht ungezogene Massen und beleidigte Autorit?ten erhandeln, sondern ein ernstes, ?berzeugtes Volk, das Hohe und Niedere umschliesst, wird ihn erarbeiten: das Volk eurer Tage.
Uns ist der Zweifel befruchtend, nicht fruchttragend. Die schaffende Liebeskraft erwacht nicht ob allem Get?se des hadernden Verstandes. Nicht die bange Sorge der Not, nicht der Rechengeist der N?tzlichkeit, nicht der Kompromiss der Interessen, nicht das schlaffe So oder anders, nicht das Achselzucken des kleineren ?bels wirkt die Wende des Zeitalters und die Wiedergeburt der Menschheit, sondern der wortlos freudige, fraglos waltende Mut der Seele. Den aber schafft der Glaube.
Glaube
Keine freiwillige Handlung, keine kleinste Regung unseres Wollens geschieht, die nicht von den tiefsten, allem Denken entr?ckten Quellen unseres und des kosmischen Daseins getr?nkt wird. Der Geist kann nur zwischen Vergleichbarem entscheiden, der Wille aber muss zwischen dem Unvergleichbaren w?hlen, und nur eine innere Richtkraft kann ihn leiten. Aus der Reihe unserer Wahlen und Entschl?sse setzt sich unser Leben zusammen, wir nennen es Charakter und Schicksal und erkl?ren es zum ?berdruss aus Erblichkeit, Umwelt und Gesetz. In Wahrheit ist es das Hineinragen des Unergr?ndlichen in unsere Welt, das Walten der Sch?pferkraft, die sich in unserer Begrenztheit zum Farbenspiel der Willensregungen bricht.
Warum wollen und lieben wir dies? Warum nicht ein anderes? Warum erschrecken wir vor jenem mehr als vor diesem? Warum halten wir dies ?bel f?r gr?sser? diese Freude f?r reiner? dieses Streben f?r h?her? diese Gestaltung f?r vollkommener? Warum w?hlen wir hier den Sinnenreiz und dort die M?he? Warum hier das gegenw?rtige ?bel statt des k?nftigen, dort das k?nftige statt des gegenw?rtigen? Warum ziehen wir hier die Ehre vor und dort den Genuss, und da die S?nde und da die Entsagung? Warum opfern wir uns einem anderen? Warum opfern wir den Inbegriff unserer Freuden einer Idee? Warum sorgen wir f?r kommende Geschlechter? Warum wollen wir Dinge nach unserem Tode?
Wir w?gen gegeneinander Besitz und S?nde, Ehre und Schmerz, eigenes Leid und fremde Freude, lebendiges Ungemach und totes Gl?ck, Tagessorge und k?nftigen Kummer, Gerechtigkeit und Entbehrung, g?ttliche Liebe und irdische Freude, wir w?gen das Unabw?gbare, vergleichen das Unvergleichbare und entscheiden bald so und bald so.
Verschm?ht man die Begr?ndung: wir handeln aus Angst und Gier, aus Furcht vor Entbehrung, Langeweile, Verachtung, g?ttlicher Strafe, Schmerz und Tod, aus Begehren nach Sinnenlust, Macht, Schein, Besitz, Belohnung und Wechsel; verschm?ht man dies menschenunw?rdige Bekenntnis, so ist anerkannt: Richtkr?fte unseres Lebens sind absolute Werte. Diese Werte k?nnen benannt, aber nicht begr?ndet werden.
So wenig der Fahrplan uns sagen kann, nach welchem Lande uns die Sehnsucht zieht, noch welches uns bestimmt ist, so wenig kann die Gedankenkunst der Philosophie uns Werte beweisen. Sie kann sagen: tust du das, so geschieht das. Mir scheint dies das gr?ssere, jenes das kleinere ?bel, dies das h?here, jenes das geringere Gut. Sie schliesst: du sollst, oder: du musst. Darauf steht es jedem frei, zu antworten: ich soll? aber ich will nicht. Ich muss? nein, ich kann auch anders.
Dann schweigt die Philosophie beleidigt, oder sie ballt die Faust und droht, oder sie wendet sich ab und schm?ht.
Das Denken schafft keine Werte. Sie sind gegeben, oder sie sind nicht. Wer ehrlich ist, weiss, dass er manchmal Folgen mit dem Verstande abgewogen hat, niemals Ziele. Er handelt wie er handeln muss, nach innerem Gesetz, und dies Gesetz ist tierisch oder es ist g?ttlich. Wer Werte ergr?belt, ist hilflosen oder kranken Geistes und nicht berufen. Die Gr?nde, die jemand nachtr?glich f?r sein Handeln gibt, sind falsch. Niemand weiss, was in irgendeinem Augenblick in ihm vorgeht; ein tausendf?ltiges Ich kreuzt seine widerspruchsvollen F?hlungen und Wollungen, und ein Innerstes entscheidet.
Werte werden nicht erdacht und erstritten, sondern geschenkt. Geschenkt dem, der reinen Herzens ist, und dessen Geist schweigen kann. Sie sind das Geschenk ?berintellektueller Kr?fte, deshalb bed?rfen sie keiner Begr?ndung und keines Beweises, sie bestehen aus eigener Kraft, denn sie entstammen dem Reich der Seele. Den Eingang zu diesem Reich erzwingt man nicht, und doch steht es himmelweit offen. Der h?chsten Menschenmacht ist es erschlossen, der Liebeskraft des Glaubens.
Glauben! Z?gernd gestehe ich euch, Freunde: ich liebe das Wort nicht. In der griechischen und r?mischen Schrift stehen die W?rter ?????? und #fides#, die heissen Treue und Trauen. Als man sie mit Glauben ?bersetzte, da stand dies sch?ne Wort seinem Ursinn n?her, jetzt ist es verwelkt und sagt nicht viel mehr als >>f?r wahr halten<<. Nur wenn wir bekennen >>ich glaube an Gott<<, so erklingt der alte Glockenton. Nichts steht dem Glauben ferner als das Meinen. Und so wie wir das schwachgewordene Wort zum reinen Sinn beleben m?ssen, ist uns das Gleichnis gegeben, wie wir die alte Worteskraft erwecken sollen.
Kr?nker ist das Wort Religion. Bei den R?mern war es stark, es hiess Bindung, eine rechte Knebelung mit Stricken, wie die Liktoren sie pflogen. Wir denken leicht an Kirchenglauben, an etwas, das in Schulen gelehrt und gepr?ft wird, an ein b?rgerliches Unterscheidungsmerkmal. Man hat Religion das >>Gef?hl schlechthiniger Abh?ngigkeit<< genannt, das betont die Bindung und entbehrt der g?ttlichen Freiheit; der Begriff der Transzendenz ist erf?llt vom Denken; zuweilen m?chte ich Gottesbund, zuweilen Gottesfreiheit und am liebsten Gottesfriede sagen.
Wollen wir vom Glauben reden und gar von kommendem Glauben, so lasst es uns in grosser Freiheit und ohne Sch?men beginnen. Wir, die wir nicht in Gemeinden knien k?nnen, wir wagen vor besch?mter Ehrfurcht nicht, die h?chsten Worte auszusprechen und f?rchten uns, unsere Seelen zu entbl?ssen. Wird es uns schwerer als den berufenen Glaubensverk?ndern, diese Scham zu ?berwinden, um zu bekennen, wie es in unseren Herzen um den Glauben steht, so soll es um so r?ckhaltloser geschehen, ja wir wollen vor allem den Versuch wagen, in harter Selbsterforschung das zu offenbaren, was jenen nicht obliegt: den unbewussten Widerwillen gewissenhafter Menschen unserer Zeit gegen den Glauben.
Die erste Hemmung ist die der sittlichen Haltung. Abendl?ndische Sittlichkeit und Erziehung beruht auf der alten Verherrlichung des Mutes, der Verdammung der Furcht. Mut mit seiner Gefolgschaft der Wahrhaftigkeit, Treue, Herrenhaftigkeit, des vornehmen Verzichts; Furcht mit ihrer Sippe der Heimlichkeit, L?ge, Zweckhaftigkeit, Unterw?rfigkeit, Begehrlichkeit und Zudringlichkeit. Der Begriff der S?nde besteht nicht. Verwerflich ist nicht das Menschliche an sich, am wenigsten Ungehorsam und Selbstherrlichkeit; verwerflich ist nur das Unehrenhafte, die Feigheit und was sie verr?t. Keiner Erl?sung bedarf es, der anst?ndige Mensch getraut sich, mit Welt und ?berwelt aus eigener Kraft fertig zu werden, allenfalls mit Hilfe mutfreudiger M?chte, die den Tapferen, als einen ihres Gleichen, nicht im Stiche lassen.
Add to tbrJar First Page Next Page Prev Page