Read Ebook: Stories of a Governess by Fisler Annie
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Ebook has 236 lines and 44468 words, and 5 pages
An diesem Nachmittag erschien ihm Lina angenehmer als sonst. Ihre G?te und Unterw?rfigkeit tat ihm wohl, schon die weiche klagende Stimme verscheuchte ein wenig seine Sorgen. Das war doch ein befreundeter Mensch, auf den man sich verlassen konnte. O, ein Gl?ck, dass er die hatte, so ein braves anst?ndiges M?dchen! Er dr?ckte ihr warm die Hand, doch eilig, denn heute hatte er ihr besonders viel zu diktieren und anzuregen, ihre Feder flog nur so. Es fiel ihm zugleich ein, dass er Unrecht tat, ihre Liebe so auszubeuten, sein moralischer Sinn war gleichsam durch die Unterredung mit Philipp gesch?rft. Sie tat ihm leid. Doch heftiger erf?llte ihn wie ein Nebel die Angst um die eigene n?chste Zukunft, tausend Rettungspl?ne, das Notwendigste f?r den Moment. Es war, als entfache das drohende Fiasko nun noch die letzten Reserven seiner Willenskraft und Anspannung, seine ?ussersten Gedanken. Heute bewunderte er sich selbst, und als er gegen Abend den Haufen der fertiggestellten Briefe ?berschaute, darunter ein paar wirklich gelungene, -- um vorzubeugen, R?ckzug zu sichern -- atmete er zufrieden auf ... Ein Schrei Linas erschreckte ihn. Der kleine Gerhart war nicht da, verschwunden. Sie suchte vor der H?tte, ?berblickte von den Stufen des Amphitheaters aus die Rennbahn, vergebens. Verzweifelnd gab sie sich, nur sich selbst alle Schuld an dem gr?sslichen Unfall, sie hatte heute weniger aufgepasst als sonst, das Kind mochte sich verirrt haben, ins Wasser gefallen sein, Gott im Himmel, was war da zu tun! -- Arnold forschte indessen die Arbeiter in der N?he aus. Ja, man hatte den Kleinen auf dem Wege zum Weidengestr?pp gesehn, das auf der andern Seite der Flugwiese in menschenleerer ?de sich erstreckte, gegen den Fluss zu. Schon eilte Lina in dieser Richtung, Arnold ihr nach. Sie kreuzten durch die niedrige Wildnis, b?ckten sich unter verflochtenen ?sten durch, rissen sich wund, schwitzten. Der Boden wurde schwarz und fett; setzte man den Fuss auf ihn, so quoll kotiges Wasser hervor. Die Weiden standen dicht wie ein Kornfeld beisammen, Lina bog sie auseinander, hielt sie fest, um dem Nachfolgenden Raum zu geben, liess sie aber doch noch einen Augenblick zu fr?h los, so dass sie ihm gerade recht ins Gesicht peitschten. Gereizt bat er sie umzukehren. Sie waren ?ber glitschrige Steine an das Schilfufer des Flusses gelangt. Man sah fast gar nichts mehr, denn der Tag war regnerisch gewesen und jetzt gegen Abend erf?llte warmer aufsteigender Dunst die Luft. Nun wateten sie durch Binsen und R?hricht zur?ck, gerieten wieder in die B?ume ... pl?tzlich erblickten sie, beide zugleich, durch eine dichte Brombeerhecke von ihnen getrennt, das Kind, das arglos ruhig auf einem steinigen Pl?tzchen einen Sandturm aufbaute. Ein Anblick, so voll Kontrast zu der angstzerrissenen Stimmung der beiden, dass sie trotz ?rgers und Kopfsch?ttelns und Hastens wie auf einen Schlag stehn blieben und, wie man es einer Vision gegen?ber tun mag, unter langsamem H?ndeaufheben beide die Lippen zu einem notwendigen, gar nicht lustigen L?cheln dehnten ... Den Sand hatte das Kind offenbar in seinem kleinen Blechk?bel vom Flugplatz hierhergetragen, beschwerlich, in mehrmaligen G?ngen, und es gefiel ihm so gut, in dieser neuen Umgebung zu schippen, wo es eigentlich von rechtswegen gar keinen Sand gab, als ein kleiner Herrgott also, dass es Augen und Ohren an sein Spiel verloren hatte ... Lina, aus dem Bann erwachend, unterdr?ckte einen Jubelschrei, ihre Augen gl?nzten dankbar gegen Arnold, als schulde sie ihm den gl?cklichen Ausgang dieses Zwischenfalls. Einen Moment lang fand er sie wirklich sch?n, in diesem feuchten dunklen gr?nen Laubwerk, mit ihren gl?nzenden roten Wangen, der klopfenden Brust. Lau brodelte es aus dem Moos, den alten St?mmen, wie ein Bad, das alle Glieder in Wohlbehagen l?st. Dicke Fliegen setzten sich ihm auf die Stirn, die Augenlider, und wenn er sie verscheuchte, fielen sie wie besinnungslos wieder auf ihn zur?ck, ber?hrten ihn heftig zitternd, kleinen schweren H?ndchen gleich. Es schien ihm, als tr?gen sie ihm Linas K?rperduft n?her, als balle er sich um diese schwarzen K?rperchen, ja als seien die Fliegen nichts als kompakte Pillen dieses bet?ubenden Geruches, o dieses gar nicht mehr fremden, nein wohlvertrauten Geruches einer Frau, die er schon oft gek?sst, gek?sst, aber nur gek?sst hatte, ... die jetzt so dicht bei ihm war, wie in einem Zimmer bei ihm. Und das spielende gerettete Kind so nah, so nichts ahnend, so unwissend, blind gegen das, was jetzt sofort neben ihm geschehn wird: diese eigent?mliche Vorstellung, die ihn wie mit der allerdurchtriebensten Freude erf?llte, entschied. Vielleicht wirkten auch die vielen ?berstandenen Aufregungen dieses Tages mit. Pl?tzlich f?hlte er sich sicher, nicht wie sonst im Kurw?ldchen von Menschen bedr?ngt. Eine seltsam qualvolle Lust ergriff ihn, wie ein letzter Ausl?ufer der raschen Gehbewegungen vorhin, die nicht unvermittelt abbrechen wollten, er strauchelte vorw?rts, ?ber eine Wurzel, er fasste mit beiden H?nden geradeaus langend, die beiden Br?ste des M?dchens, diese vorstehenden nachgiebig-festen Br?ste, die ihn immer so gelockt hatten, fasste sie mit einem Griff, dem man h?tte anmerken k?nnen, dass er ihn in eben dieser Art und mit dem gl?hendsten Feuer in Gedanken oft schon ausgef?hrt hatte, er dr?ckte sie wie Ballons, wie um sie auszupressen, wie um sich an ihnen festzuhalten, ?ber einem Abgrund schwebend gleichsam, und nun, keuchend, heiss, ausser sich, mit h?pfenden Augen, die Haare gestr?ubt, singend, matt, verz?ckt, dr?ngte er Lina an den n?chsten Baum, dessen trockene Rinde in kleinen St?ckchen herabsplitterte. Einen Augenblick sp?ter war sie sein.
Seine Empfindung sofort nachher war ohne jeden ?bergang: eine masslose Wut gegen sich selbst. Also doch, also doch war es geschehn, trotz allen Inachtnehmens, also doch, also doch ... Er war still, w?hrend Lina sich abwandte und nach einer Weile, da nichts mehr geschah, das Kind holte. Das Geschrei des kleinen Lausbuben, der seine Bauten nicht verlassen wollte, zergellte ihm die Ohren. Er begleitete sie nach Hause, niedergeschlagen, doch so weit gefasst, dass er noch einiges sprach, was sanft klang, weil seine Wut sich inzwischen in eine uns?gliche Traurigkeit verwandelt hatte. Lina fl?sste ihm mit jeder ihrer Bewegungen Furcht ein, sie war ihm unheimlich, bald weil sie nach seiner Meinung eine Wendung ins Z?rtliche machte, bald weil er sich von ihr verachtet glaubte. Und dieses Kind, dieses Teufelskind war schuld an allem, diesen Gerhart h?tte er kaltsinnig erw?rgen m?gen. Los werden die zwei, das war sein einziger Wunsch, den er durch R?cksichtnahme und galante, dankbare Anwandlungen verf?lschte, der aber zum Schluss den Abschied doch bedeutend abk?rzte. Arnold hatte das Gef?hl, als m?sse er auf die Erde stampfen und mit gerecktem Arm die beiden weit von sich wegschicken. Er zwang sich noch zu einigen Phrasen; als aber Lina immer noch nicht ging, drehte er sich auf dem Absatz herum und geriet rasch in immer schnelleren Schritt ... ?ber die dunkle Ebene jagte er seiner Baracke zu. Dort st?rzte er nieder, konnte nicht mehr weiter. O ein Wigwam, fragte er sich h?hnisch, nein ein Brettersarg ist das! Er trat ein. Ohnmacht und Reue erf?llten seine Seele, doch zugleich erschienen wie von einem tieferen Grunde herauf unzusammenh?ngende Bilder, halb vergessene, ungerufen zogen sie vorbei und lenkten den armen wirren Geist in ihre Tr?umerei ... Da sah er sich, sah sich als kleinen Knaben, an der Hand der teuren Mama im Schulsaal zum erstenmal, bei der Aufnahme in die Schule. Und w?hrend ihn der Lehrer f?r die erste Klasse einschrieb, hatte das Knirpschen schon den Mund offen: warum hier zwei Tafeln ?bereinander seien, nicht eine, wie er es in Puppenschulen bisher gesehn. Freundlich belehrte ihn der Herr Lehrer: >>Ja, wenn die eine vollgeschrieben ist, dann ziehn wir eben die obere leere hinunter, nichtwahr. Siehst du, so macht man das, so ...<< und hatte es ihm gezeigt, w?hrend er sich zugleich lobend zur Mutter wandte: >>Ein aufgeweckter Junge.<< O Gott, warum hatte ihn denn damals jeder lieb gehabt und jeder gestreichelt, sich ?ber ihn gefreut, und so unschuldig, spielend alles -- und jetzt war es doch nur derselbe Trieb, der ihn in Schuld und Schande verstrickt hatte, genau ebendieselbe Glut, die damals allen so wohl getan hatte, er konnte gar nicht mehr daf?r als damals f?r seinen kindlichen Reiz ... Zum erstenmal ?berblickte er sein ganzes Leben und fand es erschreckend wie ein Gewitter in der Nacht, fand es sinnlos, trostlos und sich selbst immer unter demselben Stachel ungerecht leidend, preisgegeben, verschmachtend, ein Spielzeug ?berm?chtigen himmlischen Zorns. O wer kannte seine Qualen! Wer stand ihm bei! Wer hatte Mitleid mit der Unbesonnenheit des verblendeten Kindes, mit dem Unseligen Mitleid!... H?tte er nur ein Herz gehabt, einen Freund, Eltern, die ihn verst?nden! O auf die Berge h?tte er steigen m?gen und wie Giessb?che seine Arme ausstrecken nach einem guten menschlichen Herzen ... Doch nein, da hatte man ihn immer weiter rennen lassen, zur?ck ?bersah er es bis hinab zu seiner dunklen Fussballeidenschaft, zu den ersten Tollheiten, immer weiter hatte man ihn rennen lassen, den Hitzigen, und so war er bis hierher gerannt, niemand hatte ihn gewarnt, bis hierher auf diesen Fleck und auf diese Stunde, wie blind, w?hrend von allen Seiten die W?nde des Engpasses immer n?her und drohender zusammenr?ckten, aber blind immer weitergerannt, bis hierher, wo es kein Zur?ck mehr gab ... Tr?nen entstr?mten ihm bei diesem Gedanken, er weinte, ein tiefes Erbarmen mit sich selbst hatte ihn erfasst, mit seiner reinen verlorenen Jugend, ja mit der ganzen Welt ... Nur eine Weile. Dann kehrte der Zorn zur?ck. Er erinnerte sich -- o war das nicht Warnung genug gewesen? -- dass er schon mitten in dem kurzen Genuss vorhin den Widerwillen gesp?rt hatte, den dieses verdammte Weib ihm einfl?sste, einen Ekel und eine Notwendigkeit zugleich, wie wenn man etwa fr?h in den noch ungesp?lten Mund ein Glas Wasser aus Durst hinunterschlucken muss. Er spie aus ... Da lagen ja noch die Briefe, ein ganzes Paket. Er verfluchte seine Energie, sie war zu nichts nutze. Und mit einem gewaltigen Druck riss er mitten an dem Stoss, es ging nicht, da teilte er ihn in zwei Lagen, hierin wenigstens konsequent, und zerfetzte jede in kleine St?cke. Mochte alles werden, wie es wollte, er gab's auf ...
Eine Idee kam ihm. Die Markensammlung verkaufen, und nach Amerika!... Da waren doch f?nfzehntausend Mark nach Senff, ein Kapital, ein Anfang!... Er fuhr in die Stadt, und obwohl schon bald zehn Uhr war, beschloss er, Lambert zu besuchen. Der hatte kommissionsweise die Eink?ufe vermittelt, sicher wusste er einen K?ufer, vielleicht war er sogar selbst geneigt ... Er klingelte. Jetzt erst bemerkte er, wie unschicklich es war, mitten in der Nacht mit dieser Verkaufsangelegenheit einzudringen; er fasste schnell den Plan, seine Absicht zu maskieren. >>Ich habe da ein Angebot<<, rief er, >>es muss sofort entschieden werden, telegraphisch. Soll ich zwanzig S?tze Jubil?umsmarken bestellen? Das macht so etwa f?nfhundert Kronen.<< Lambert, geschmeichelt durch dieses Zutraun zu seiner Fachkenntnis, r?ckte sich zurecht. In seinem taubengrauen Schlafrock mit dunkleren Schn?ren, im Lederfauteuil, jetzt Zigaretten anbietend und der Sitte gem?ss sofort sich erhebend, um einen Lik?r aus dem K?stchen zu holen, war er ein Musterbild reifer, gesetzter Jugend, ein Beispiel f?r jene merkw?rdige Leichtigkeit und Unbedingtheit, mit der gewisse Naturen den ?bergang von unverantwortlichem Knabentum zur w?rdigen repr?sentativen Mannheit vollziehn. Arnold, so tief unterlegen gerade in diesem wirren Moment er dem Gefestigten war, f?hlte doch eine gewisse l?cherliche Schw?che an ihm heraus, in der er sich instinktiv sofort festnistete: >>Ich komme zu Ihnen als einem Kenner, Sie wissen ja ...<< >>Nun, ich glaube<<, holte Lambert aus, >>das ist ein gutes Gesch?ft. Die Verwaltung gibt nur eine sehr beschr?nkte Anzahl aus. Schliesslich ist doch Bayern kein Costa Rica oder sonst ein exotischer Staat, der an Jubil?en Geld verdienen will.<< ... Wie langweilig waren f?r Arnold diese selbstverst?ndlichen Gedankeng?nge, mit denen Lambert sich ein Ansehen gab. Seine aufgeregte Hast k?mpfte mit der Klugheit, den Schw?tzer ausreden zu lassen, endlich fiel er doch ein: >>Ich weiss. Gut, aber das hat man bei der vorigen Emission auch gesagt. Und da kamen Nachtr?ge. Von Rarit?ten ist nicht viel zu sp?ren ... Schlechte Spekulation. Ich hab's ?berhaupt satt. Wissen Sie nicht, wie ich die ganze Sammlung loswerden k?nnte?<< ... Lambert blieb noch eine Weile im alten Geleise, sei es, dass er Arnolds Wendung f?r eine blosse Gespr?chslaune hielt, sei es, dass er auf eine so fernliegende Abschweifung ?berhaupt nicht aufgepasst hatte. Er redete also weiter von steigenden Werten, Neudrucken, Facsimilien, bis ihn ein nochmaliges Andr?ngen Arnolds aufhielt. Nun erst ging er mit gleichgiltiger Miene auf das neue Thema ein: >>Ja, das ist eine schwere Sache. Man m?sste die Sammlung ausschreiben, in Fachzeitungen, das dauert lang und dann werden Ihnen die besten St?cke herausgeklaubt und der Schund bleibt. Oder Sie tragen das Ganze zum H?ndler, der gibt Ihnen gar einen Pappenstiel. Es bleibt also nur irgend ein grosser Privatsammler.<< ... >>Ja, ein Privatsammler<<, wiederholte Arnold gierig. >>Wissen Sie also einen?<< ... Lambert ?berlegte ... >>F?r zehntausend,<< begann Arnold, und da Lambert ?berrascht l?chelnd aufblickte, fuhr er fort: >>F?r zweitausend Kronen gebe ich alles. Denken Sie, Altsachsen vollst?ndig.<< ... Lambert machte ein spitzfindiges Gesicht, wie am Schlusse seiner ?berlegung angelangt, als habe er es jetzt herausgebracht: >>Ja, wer legt aber so leicht zweitausend Kronen auf den Tisch? Das ist ein sch?nes Geld. Das tut einem weh.<< ... >>Wie kommt das aber?<< fragte Arnold betr?bt und kindlich ... Lambert erging sich in Vergleichen. Sammelwert sei etwas anderes als Wert im Allgemeinen. Und wenn man einen neuen Pelz kaufe oder ein Schmuckst?ck, ein M?belst?ck, wieviel bekomme man beim Weiterverkauf, auch f?r die besten, wie neuen St?cke ... Das Gespr?ch verlor sich ins Allgemeine, Arnold lobte Lamberts Einrichtung, eine echte Junggesellenwohnung, dabei sah er im Innern ein, dass hier nichts zu holen war. Ersch?pft und bleich blieb er noch ein Weilchen sitzen, fand nicht die Kraft, aufzustehn und wegzugehn, seine Gewandtheit hatte eben auch ihre Grenzen. Endlich empfahl er sich. Lambert meinte im Weggehen: >>Also wegen der Jubil?umsmarken k?nnen Sie ganz unbesorgt sein. Dabei riskieren Sie nichts. Eventuell beteilige ich mich.<< ... Arnold h?tte am liebsten laut aufgelacht. >>Und unser Meeting morgen<<, f?gte er noch hinzu, probierend, >>das wird ein sch?ner Humbug, was?<< Er zwinkerte dabei. Auch Lambert l?chelte verschmitzt und kniff ein Auge halb zu, mit kleinen F?ltchen: >>No, das glaub ich.<< Sie sch?ttelten einander die H?nde, wie in vergn?gtem Einverst?ndnis ... >>Und gegen dieses niedertr?chtige Leben<<, sagte sich Arnold, indem er Stufe um Stufe hinunterschritt -- Lambert leuchtete, ?ber die Gel?nderbr?stung gebeugt, klingelte dem Hausmeister, im finstern Gang unten erschien etwas Undeutliches, Warmhauchendes, Mann oder Weib, f?hrte Arnold ans grosse Eisentor, stellte die Laterne auf den Steinboden, steckte den Schl?ssel ein und gab endlich mit leichter Hand der massiven Pforte einen ganz kleinen Stoss -- >>und gegen dieses niedertr?chtige durchdachte kolossale Leben habe ich mit Spielereien ank?mpfen wollen, mit Papierschnitzeln. Da seh' ich erst, wie ahnungslos ich war ... ein Kind, in allem ...<< Von neuem traten ihm Tr?nen in die Augen.
Auf seinem Schreibtisch zu Hause lag ein Brief. Gottfried Eisig, der vor einigen Tagen einen Journalistenposten in Berlin angenommen hatte, schrieb ihm begeistert von seinem jetzigen Leben, von der Weltstadt. Ob er nicht hinkommen wolle? Ein dritter Feuilletonredakteur werde eben gesucht. -- ?rgerlich warf Arnold den Brief weg. Ja, neue Wirren, neue Verlockungen, das w?re so das Rechte! Man kannte ihn ja, man hielt ihn schon f?r f?hig zu jeder Dummheit.
Da trat sein Vater herein: >>Weisst du es schon? Die Grossmutter liegt im Sterben ... Pst! Die Mama darf es nicht wissen. Ich hab sie nur ein bisschen vorbereitet. Da lies die Karte von Lichtnegger.<<
Arnold las, ohne Bewegung, gedankenlos.
>>Den letzten Satz hab ich ihr gar nicht gezeigt. Trotzdem f?hrt sie morgen Nachmittag nach Wintertal. Ich kann nicht mit, jetzt in der Hochsaison. Wenn sie sich nur nicht zu sehr aufregt ...<<
So viel L?rm wegen einer alten Frau, dachte Arnold. Pl?tzlich fiel ihm ein: >>Wenn du willst, begleite ich die Mama ...<<
>>Du wolltest?... Aber morgen ist ja euer Schauflug.<<
>>Ja richtig, der Schauflug!<< Arnold machte, als ob er sich erst jetzt darauf bes?nne. Dann zog er mit dem letzten Rest seiner Energie den Mund m?nnlich zusammen: >>Das kommt nicht in Betracht. Ich fahre mit der Mama nach Wintertal.<<
Der Vater sprach noch eine Weile, bereitete nun auch ihn gleichsam auf das Unvermeidliche vor: Die Grossmutter sei ja schon vierundneunzig Jahre alt, was f?r ein Leben ... man k?nne sich denken ... man m?sse froh sein ... einmal w?re sie jetzt so wie so eingeschlafen, aus Altersschw?che ... nun diese Lungenentz?ndung, das w?rde sie wohl nicht ?berstehn. -- Und in allem Sanftmut schien er dieses baldige Ende f?rmlich von der Natur zu fordern, als Best?tigung seiner regelm?ssigen Ansichten ... >>Sie wird sich freun, wenn sie dich noch einmal sehn kann<< schloss er >>du bist ja ihr besonderer Liebling.<<
Arnold wich zur?ck: >>Ich -- ihr Liebling? Ist das ein Witz?<<
>>Nat?rlich. Wie sie vor f?nfzehn Jahren hier war, hat sie sich mit niemandem vertragen, nur mit dir. Sie ist ja, unter uns gesagt, eine wahre Furie ... Immer noch erz?hlt sie von dir, was f?r ein braver Junge du warst.<<
Um Arnold sauste es. Er musste die F?uste ballen, um diesem Sturmwind standzuhalten. >>Die auch,<< murmelte er und seine gleissnerische Stellung in der Welt, all der l?genhafte gute Ruf, der so ungerechtfertigt sein hirnloses Zappeln umgab, fiel ihm wie h?hnischer Vorwurf auf die Seele.
Der Vater trat besorgt n?her. >>Was sagst du?<<
>>Nichts, Papa. Gute Nacht also. Ich bin todm?de. Morgen weiter.<<
Erst im Eisenbahnkoupee wurde Arnold ruhiger. Nur ein dunkler Missmut blieb ihm zur?ck, unten auf dem Grund, den auch die St?sse des Zuges nicht aufr?ttelten und nach dessen einzelnen Bestandteilen zu forschen er sich wohl h?tete.
Die Mutter hatte eine Unzahl von Paketchen mitgebracht, die er t?tig ins Netz schlichten half: Obst und Buttersemmeln als Reisekost, f?r die treue Frau Lichtnegger W?rste und einen grossen Schinken, f?r die Grossmutter Magenlik?r, den sie immer verlangte, Brustbonbons und andere Kleinigkeiten ... Erst als sie alles in Ordnung wusste, heiterte sich ihr Gesicht auf, und indem sie sich bequem zurechtsetzte, gab sie Arnold Anweisungen, wie er sich verhalten m?sse. Laut reden, nat?rlich -- und sich nichts draus machen, wenn er manches nicht verstehe, die Mutter spreche eben noch wie die alten Leute -- er solle nur recht lustig sein, ihr Witze erz?hlen, auch sagen, dass er schon Geld erspart habe, das sei die Hauptsache -- und warum er so eine schlechte Krawatte anhabe, er solle in Wintertal gleich eine bessere kaufen, darauf gebe die Mutter sehr viel, letzthin habe sie zum Beispiel ihr Reisekleid nicht elegant genug gefunden.
>>Auf solche Sachen gibt sie noch acht?<< meinte Arnold zerstreut. Jetzt etwa begann der Flug in Waldbrunn.
>>O sie gibt auf alles acht. Du w?rdest staunen. ?berhaupt, gescheit ist sie ...<< Es klang so wie: Ja wenn alles an ihr so gut w?re ...
>>Ist sie wirklich so b?s?<< fragte Arnold gleich, etwas ?bereilt, da er eben nicht ganz bei der Sache war, trotz innerer Anstrengung.
Der Mutter aber schien diese Wendung nicht unangenehm zu sein; sie begann gleich von ihrer Jugend zu erz?hlen, als gingen ihr alle diese Dinge schon recht eifrig im Kopf herum. Durch die Reise in ihre Heimatstadt war die Vergangenheit n?her an sie heranger?ckt. Was f?r Qualen!... Sie hatten eine Glasperlenerzeugung gehabt, die Mutter am Platz, der Vater immer auf der Reise, denn zu Hause war ja die H?lle. Oft mussten die Kinder N?chte und Tage lang Kn?pfe auf kleine Kartons befestigen, bis ihnen die Augen zufielen. Wenn nicht so und so viel Gros fertig waren, mussten sie auf Erbsen knien und weiterarbeiten. >>Wir haben mehr Schl?ge gekriegt als zu essen.<< Und dabei war solcher Fleiss gar nicht n?tig, denn das Gesch?ft ging ja damals noch sehr gut, sie kauften sogar sp?ter ein eigenes Haus. Aber die Kinder mussten weiter arbeiten, nur aus Geiz, dass ihnen die Finger wund wurden, auf einem Schammerl stehn und grosse Kisten packen und wehe, wenn etwas zerbrach! Dann auf den Markt fahren, nach Pilsen. Und immer L?rm, Schimpf, Pr?gel, dass schon die Nachbarn sich dessen annahmen. Einmal wurde die ?lteste Schwester, die Marie, im Hemd hinausgejagt, mitten im Winter, weil sie geantwortet hatte. Und niemand da, um die Kinder zu sch?tzen. Nur der Vater sandte manchmal aus der Ferne zehn Kreuzer, ein Papierzehnerl an jedes Kind, das war alles. Marie lief denn auch bald fort in die Fremde, sie wollte Kinderg?rtnerin werden, war gebildet, an einem gewissen Ort hatte sie heimlich zu Hause B?cher gelesen -- anderswo, das w?re ihr schlecht bekommen! Aber unbeh?tet, unerfahren, wie sie war, geriet sie an einen Kellner, einen Schwadroneur -- nie hatte sie mit einem Mann reden d?rfen, immer zu Hause eingesperrt, kein Tanz, kein Vergn?gen, jetzt war sie nat?rlich von dem ersten besten entz?ckt -- der hatte sie geheiratet, in Not und Elend, und so war sie untergegangen, gestorben -- so sch?ne Z?hne, sch?ne Haare, alles weg -- und wie oft hatten die Geschwister, auch der Bruder, der Poldi, die Alte auf den Knien gebeten, mit aufgehobenen H?nden, ihr doch mit etwas beizustehn. Die hatte ja immer Geld. Nein, nur ihre Fl?che waren der verbotenen Ehe gefolgt, als Mitgift. Und ebenso der Ehe des Poldi. Indessen hatte auch der Vater das Heim verlassen, eine andere Frau in Serbien irgendwo genommen, Prozesse waren gefolgt, wegen Bigamie, und lauter solche schreckliche Sachen, dann hatte man vom Vater nichts mehr geh?rt; verschollen. Die H?tte aber in Wintertal hatten irgendwelche Feinde angez?ndet, so sagte wenigstens die Grossmutter, kurz sie war abgebrannt. Das ganze Verm?gen ging zu Grunde, nur noch Herr Beer als Br?utigam, der das g?nzlich hilflose M?dchen nahm, rettete etwas. Denn auch sie -- Mama, als letzte -- war einmal auf dem Pilsner Markt der Grossmutter entwichen: >>Und wenn du jetzt machst, was du willst, wenn du dich auf den Kopf stellst, ich gehe nicht mehr mit nach Hause<< ... Sie hatte zuerst bei Marie gewohnt und mittags, statt zu essen, hatten die zwei armen M?dchen halt ein bissl geweint. Mit N?harbeiten auf der Maschine sich das Brot verdienen, das ging nicht so leicht. Gl?cklich waren sie, wenn sie t?glich f?nf Kreuzer auf eine Wurst hatten. Und drei Jahre lang k?mmerte sich niemand um sie, nicht Vater, nicht Mutter, Waisen waren sie in der grossen Stadt bei lebendigen Eltern, niemand fragte, ob sie einen Bissen in den Mund zu nehmen h?tten, ob sie noch anst?ndig seien. Jetzt freilich, wenn man der Grossmutter zuh?re, habe sie sich den Kopf f?r sie ausgesorgt. >>Meine s?sse Marie, was hast du sterben m?ssen.<< Sie k?nne solche Reden gar nicht anh?ren ... Best?rzt blickte Arnold in den dunklen Abgrund, aus dem er selbst emporgetaucht war, zu r?tselhaftem Geschick. Er kannte ja diese Familiengeschichte, aber nur unvollst?ndig, nur aus dritter Hand. Nie noch hatte er die Mutter so erz?hlen geh?rt, jetzt war er ergriffen, und w?hrend der Zug an reizenden W?ldchen, heiteren Villen vorbeilief, tappte er wie im Finstern nach ihrer Hand.
Auch die Mutter meinte: >>Nun, das ist ja alles jetzt vorbei und ich trag ihr's nicht nach. Kann sie denn daf?r? Schliesslich ist sie ja doch nur die Mutter. -- Wenn man nur mit ihr auskommen k?nnt. Neulich, vor zwei Monaten, wie ich dort war, bin ich doch auch im B?sen fortgefahren ...<<
>>Warum denn?<< Arnold bewunderte immer mehr die unendliche G?te seiner Mama, die er ja kannte, die sich ihm aber noch nie in so ausf?hrlicher Entwicklung gezeigt hatte. Gegen die alte Frau dagegen, seine Grossmutter, versp?rte er immer entschiedenere Abneigung, ja Hass.
>>Sie ?rgert sich halt vielleicht, dass wir sie nicht zu uns nehmen. Aber geht das denn? K?nnte das ein Mensch aushalten?... Und dann spricht so vieles dagegen. Der Doktor meint, dass nur die Landluft da draussen sie so lang gesund erh?lt; sie w?rde nicht einmal mehr die lange Fahrt vertragen.<< Sie schloss in einiger Verlegenheit.
Arnold verstand sie wohl, und um auf ein anderes Thema zu kommen, aber nicht auff?llig, erkundigte er sich, wovon denn die Frau da draussen lebe.
Man schickte ihr Geld, doch erst seit heuer, bis dahin hatte sie eigensinnig keins angenommen und sich selbst?ndig ern?hrt, Gott weiss, womit. Sie mache Gesch?fte unter den Leuten, verborge Geld, kaufe und verkaufe allerlei. Und das treibe sie auch jetzt noch, unverdrossen, nur halte sie es nicht mehr so aus. Wahrscheinlich beschwindelten sie ja auch die Leute, sie k?nne ja weder lesen, noch schreiben, noch rechnen, f?r sich selbst stelle sie an der Stubent?r mit Kreide irgendwelche seltsame Zeichen zusammen. -- ?berdies habe sie Geld in der Sparkasse, f?nf B?chel zu zweihundert Gulden, aber das r?hre sie um keinen Preis der Welt an, das sei ihr gr?sster Stolz, dass sie einmal jedem ihrer Enkerlen zweihundert Gulden hinterlassen w?rde, was nach ihren Begriffen eine enorme Summe sei. >>Besonders dir, Arnold, du bist ja ihr Liebling.<<
Arnold war, wie gestern Abend, nicht angenehm ber?hrt. Er beichtete der Mutter seine Erinnerung, den Streit mit der Grossmutter vor Jahren.
>>Aber das ist eine Kleinigkeit. Solche Sachen macht sie hundert im Tag. Das hat sie l?ngst vergessen. -- Jedenfalls bist du jetzt ihr Gott. Und dein Papa, das ist der Obergott.<<
>>Warum?<<
>>Ich weiss nicht. O ja, er war ja die gute Partie. Marie und Poldi haben arm geheiratet ... Nicht h?ren kann sie noch jetzt von ihren Familien. Und wie sie schimpft.<<
Die arme Mama schauerte zusammen. Doch angeregt durch die sch?ne Landschaft draussen, den Tiergarten und das Schloss von Sichrov, erinnerte sie sich an heitere Dinge ihrer Jugend, an die sp?rlichen Lichtblicke -- einmal hatte sie an einer Dilettantenb?hne mitgewirkt. >>Der Herr Registrator auf Reisen<<, das war der Titel des St?ckes. O, sie k?nne noch die Rolle auswendig, das w?rde sie wohl nie vergessen. Was f?r M?hen waren das aber gewesen, um die Grossmutter zur Zustimmung zu ?berreden. Das ganze Dorf musste bitten kommen. Der Lehrer selbst. Auf Lehrer habe die Grossmutter ?berhaupt sehr viel gegeben, und dass einmal einer, der selige Herr Schmidt, die kleine Sch?lerin ger?hmt, das vergesse sie niemals zu erz?hlen. Nun, er werde ja diese Anekdote morgen selbst h?ren. -- Diese Wendung brachte sie auf die nahe Zukunft zur?ck. Sie ?usserte Besorgnisse. >>Wie werden wir sie antreffen.<< Und Arnold, der besser unterrichtet war, dachte im Stillen, ohne besondere Regung, nur um die Mutter besorgt, man werde diesmal wohl gerade zum Begr?bnis zurechtkommen.
Gleich nach der Ankunft, noch Abends, als man kaum das Gep?ck im Hotel untergebracht hatte, gingen sie zu Lichtneggers. Die Mutter eilte so, voll ?ngstlichkeit, und Arnold, der sie nur als friedliches und ziemlich ausdrucksloses Gestirn durch gegl?ttete Zimmer wandeln gesehn hatte, wunderte sich, wie erregt sie hier und dort auftauchenden Lauten des schlesischen Dialekts nachlauschte: >>Ai der Bohne -- h?rst du -- das heisst: an der Bahn -- ja, so spricht man bei uns, ich kann's aber nicht mehr, ich versteh's nur.<< Sie sprach von der Heimat, den ?rtlichkeiten, an denen sie vorbeigingen. Alles kannte sie genau, auch die letzten Ver?nderungen, da sie mindestens alle Vierteljahre einmal hierher zu Besuch kam. Sie erkl?rte Arnold, wer diese Lichtnegger eigentlich seien, eine Maurerfamilie hier, Jugendfreunde, Christen, nur aus Gef?lligkeit h?tten sie den schweren Dienst ?bernommen, t?glich bei der Grossmutter nachzusehn und von Zeit zu Zeit Nachricht von ihr zu geben. Und sie danke es ihnen schlecht, es sei ein Malheur halt. So habe sie neulich in der Stadt herumerz?hlt, Frau Lichtnegger komme nur deshalb zu ihr, weil Herr Beer ihr das kleine Seifengesch?ft eingerichtet habe. Eine vollst?ndige L?ge, solche Dinge setze sich die alte Frau ganz aus sich selbst zusammen. Und diese Launen ... Nun, er solle nur bei Lichtneggers recht freundlich sein, man k?nne ihnen gar nicht genug danken ... Und Arnold fand ganz erstaunt, mit was f?r Dingen, die er noch gar nicht kannte, er im Grunde zusammenhing. Nun gar mit einer Maurersfamilie. Davor hatte er doch einen kleinen aristokratischen Abscheu und fragte: warum Mama nicht lieber gleich zur Grossmutter nachschauen gehe. -- >>Nein, ich muss mich zuerst erkundigen. Sie ist vielleicht im Spital. Und das ist sehr weit von ihrer Wohnung und auf dem Berg, hoch oben. Ja, hier geht das nicht wie in unserer Stadt, alles h?bsch gradaus, in Wintertal geht's bergauf, bergab.<< Und als h?tte sie damit etwas sehr Lobendes gesagt, in grossem Stolz zeigte sie die Reihen winziger Lichter, die sich in der schwarzen Ferne hoch oben zeigten, wie mit einer Nadelspitze in den Nachthimmel gestochen. Sie standen in einer Richtung, in der man Sterne, nicht H?user vermutet h?tte, auf hohen Bergen rings um den Kessel. Und auch die Strasse, die Mutter und Sohn jetzt durchschritten, war steil, an vielen Ecken f?hrten Stiegen zum Trottoir empor, um die Steigung auszugleichen, der kalte Gebirgswind ergoss sich wie durch eine R?hre l?ngs der H?userw?nde herab. Frau Beer lief immer erregter, und obwohl Arnold ihre Liebe zu dieser alten b?sen Frau unbegreiflich fand, sagte er sich, dass er seiner Mutter zuliebe einen vergeblichen Weg bergauf nicht gescheut h?tte. Diese Halbheit, diese M?ssigung in der Besorgtheit verstand er nicht.
Er konnte sich nicht ?berwinden und, vor dem Haus der Familie Lichtnegger angelangt, bat er die Mutter, warten zu d?rfen. Seine goldenen Manschettenkn?pfe raschelten, und irgend ein hoher adeliger Offizier, mit dem er noch gestern angelegentlich sich unterhalten hatte, trat ihm vor die Augen ... Die Mutter kam bald wieder: >>Mir scheint, diesmal ist es arg. Sie hustet und hat Schmerzen, hat auch schon heute zweimal nach mir gefragt, warum ich noch immer nicht komme und man soll nur noch einmal schreiben.<< ... Arnold dachte: Also sie lebt noch, wirklich unverw?stlich ... >>Aber denk dir nur. Gestern noch hat sie der Frau Lichtnegger, die sich so um sie bem?ht und sie pflegt, einen Skandal gemacht. Die hat geweint, die ?rmste, wie sie mir's erz?hlt hat. Frau Lichtnegger, hat die Mutter gesagt, Sie haben da eine sch?ne Sch?rze, genau so eine ist mir vor ein paar Tagen gestohlen worden ... Was soll man da sagen?... Und dabei w?rde sie doch elend zugrunde gehn, wenn sie die Frau nicht h?tte, kein Mensch w?sste was davon.<< -- >>Hast du ihnen den Schinken und das andere gegeben?<< -- >>Sie wollten nichts nehmen, erst nach langen Reden. Es sind so anst?ndige gute Menschen.<< -- Arnold bekam aufs Neue Wut gegen die Alte: >>Gehn wir jetzt noch hin?<< Er wollte ihr mal seine Meinung sagen. -- >>Nein, sie schl?ft jetzt. Und das ist recht, da soll man sie nicht st?ren. Frau Lichtnegger ist eben dortgewesen ...<<
Im eisigen Hotelbett erst ?berfielen ihn die eigenen Sorgen. Unruhig tr?umend sah er den missgl?ckenden Flug, die ganze Stadt hinausgelockt nach Waldbrunn, die Regierung, die Spitzen der Vornehmheit, und alle murrend in einem einzigen tiefen Donnerlaut; dann eine Photographie: sich selbst, das Aerodrom verlassend, in grossen Schritten mit gehobenen Schuhsohlen, und sein Gesicht mit emporgehobener Handfl?che vor dem Photographen sch?tzend, wie er dies bei Bildern von Prozessber?hmtheiten gesehn hatte --, in diesem Schreck wurde er ein wenig wach, haderte mit sich wegen aller Dinge, aber noch ganz besonders wegen seines phantastischen R?ckhalts an Lambert und der Sammlung -- jetzt war der Flug l?ngst entschieden -- ein ganz klarer Gedanke: morgen fr?h gleich die Zeitung lesen, nicht vergessen -- er schlummerte wieder ein wenig, da trat Lina ins Zimmer, sie hatte ein Kind geboren, nein, Zwillinge mit ebensolchen Glotzaugen, wie sie sie hatte, grosse gesunde rote Kerle von Kindern, so gross wie Gerhart, dieser dumme Bursch, auch ihm ziemlich ?hnlich, wenn man's recht nahm -- von neuem riss es Arnold empor, und die einsamen kahlen W?nde anstarrend, die sich schon im Morgengrauen erhellten, ?berlegte er hastig, wozu er eigentlich nach Wintertal gekommen sei, wieder so ein unsinniger Streich, denn hier sich verbergen, bis zu Hause alle die Geschichten vergessen seien, das ginge doch nicht -- aber vielleicht ins Gebirge fliehn -- er begann von Lawinen zu tr?umen, die sich in St?sse blauen Briefpapiers verwandelten, auf seine Baracke losst?rmend; nun war das H?ttchen ?bersch?ttet, ein paar Schn?rkel einer M?dchenhandschrift stiegen aus dem Papier, tanzten wie Rauch ?ber den Tr?mmern, sie wollten sich zu Worten ordnen, ein Wind aber trieb sie immer wieder auseinander, sie waren Schilfrohr, nein, ein Fussball fuhr zwischen sie, ein roter, die Sonnenkugel ... Am Morgen erwachte Arnold ganz gedem?tigt und sanft; fast ohne zu reden, folgte er der Mutter durch die sonnigen k?hlen Strassen.
Sie bog hinter einem zweist?ckigen H?uschen ein, das, in einer Nebenstrasse gelegen, noch ganz das Aussehn eines Grossstadthauses hatte, mit Fensterkr?nungen, Quadern, Balkonen, nur etwas verkleinert. Dahinter lief ein grasiger Fusspfad steil bergab, zwischen freien und bewachsenen Erdh?geln, wie man sie auf Baupl?tzen sieht. Eine Ziege, an einen Baumstamm gebunden, weidete da. Links f?hrte ein Nebenweg zu einem verz?unten Garten, der auf einem H?gel lag, neben ihm die stattliche H?tte. Eine unansehnlichere trat quer gegen den Fusspfad vor, so dass sie ihn mit einer Spitze ber?hrte. Zu dieser bog die Mutter ein ... >>Hier also?<< fragte er beklommen. Er zitterte ein wenig, in so etwas d?rfisch Armem, Zusammengeducktem lebte also etwas wie sein eigen Fleisch und Blut. >>Warte ein bisschen<< sagte die Mutter >>ich will sie doch vorbereiten.<< W?hrend sie vorausging, betrachtete Arnold, fast mitf?hlend, den dunklen niedrigen Holzbau, die W?nde aus Balken und Latten, in denen nur die kleinen Fensterchen, weiss eingerahmt und mit Blumen, eine Farbe hatten, dar?ber dann das grosse, mit schwarzer alter Pappe bezogene Dach, russig und wie zerfallen; wie eine faltige Haube, h?her als das ganze ?brige Geb?ude, dr?ckte es mit unverh?ltnism?ssiger Kraft herab und armselig sah eben deshalb solch ein Bauwerk aus, dessen Hauptkraft in dem unwohnlichen, sich verj?ngenden Dache liegt. Und die kurze Treppe, die zu einer Art Plattform vor der T?re herauff?hrte, o diese Plattform aus grossen rohen Steinen, mit einem ureinfachen Gel?nder -- wie wenig bequem, wie l?ndlich das alles!... Die Mutter stand nun wieder in der engen T?re, in ihrer Stadtjacke und im Hut seltsam abstechend. Sie winkte. Arnold betrat die Treppe, durchschritt ein von dunklem Ger?t verstelltes modriges Vorhaus, durch das eine m?chtige Holzleiter, zum Boden vielleicht, emporf?hrte; etwas Helles und Dunkles, Undeutliches, verwirrte seine Augen, jetzt eine wie mit einem Sofapolster verlegte T?r, an der ein Anklopfen unh?rbar geblieben w?re und die die Mutter vor ihm ?ffnete, w?hrend sie ihm nochmals zufl?sterte: >>Sei nur h?bsch lustig ...<<
Er trat ein, sich b?ckend.
Im Bett der T?r gegen?ber, unterschied er ein winziges gelbes, von Falten unendlich tief zerdr?cktes Gesicht, das der Zimmerdecke zugekehrt auf dem Kissen lag, wie im Schlaf oder Tode. Aber eine leise deutliche Stimme sagte, w?hrend er z?gernd sich n?herte: >>Arnoldele, mei Gold, ges?nd sollst de sein bis ?ber h?ndert Jahr. Soll dir Gott geben, was du werst brauchen, mei Gold ...<< Er beugte sich, um eine kleine Hand zu k?ssen, die warm war. Da sah er nebenan seine Mutter das Taschentuch ziehn und schnell an die Augen pressen. Und auch die Augen der Grossmutter ver?nderten sich, diese beinahe hundert Jahre alten Augen, sie weinte nicht, aber die Augen wurden tr?be wie graue Regentropfen, loschen ganz aus -- und dieser Anblick r?hrte ihn so, dass er seine Kehle, den Hals noch tiefer unten sich zusammenziehn f?hlte ... Wie ein Gebet murmelte die Grossmutter leise fort, aber durchaus nicht erregt: >>Gross bist de geworden, unberufen, e Gewure von e Menschen, Gott soll ...<< Er verstand einige Worte nicht und sagte nun selbst: >>K?ss die Hand, Grossmutter, no du siehst ja gut aus, es fehlt dir also nichts, nichtwahr ...<< Sie fl?sterte weiter, wie in sich hinein, mehrmals wiederholte sie mit einem ganz schwach singenden, einschmeichelnden Ton: >>Was tu ich dir nur f?r e Kowed an, Arnoldele?...<<
Die Mutter soufflierte ihm die ?bersetzung: >>Kowed -- Ehre --<<, und w?hrend er sich an sie wandte: >>Ich weiss ja<<, steckte sie ihm die D?te mit Brustzelteln in die Hand.
>>Ich bin froh, dass ich bei dir bin<< sagte Arnold laut und seine reine Aussprache erschien ihm gegen?ber dem stets modulierten, undeutlichen Herzensmurmeln der Greisin hart und geziert: >>Schau, was ich dir mitgebracht hab. Ich hab geh?rt, dass du das gern hast ...<< Er wollte sagen: >>magst<<, doch erschien es ihm pl?tzlich notwendig, die einfachsten Worte zu gebrauchen.
>>Ich hob immer gew?sst, dass du e braves Kind bist ...<< Auf mehrere deutliche Worte folgten immer ein paar unverst?ndliche. Dann, an die Mama gewendet, erhob sie ein wenig den Kopf: >>Ich sog dir, Regie, von dem Kind wirst de ka Herzlad haben und immer Freiden sollst de erleben. Er hat Herz und Gem?t.<<
Arnold reichte ihr die D?te.
>>Nimm dir, du wirst doch jetzt etwas essen, von deinem Enkerl<< sagte die Mutter, die Gelegenheit ben?tzend, und zu Arnold leise: >>Sie hat zwei Tage lang nichts zu sich genommen.<<
>>Ich hab ka Appetit.<<
>>No eine Kleinigkeit<< schmeichelte er >>wenn ich dich sch?n drum bitt.<<
Sie kam mit ihrer Hand der seinen, die das Bonbon reichte, schwach entgegen und steckte es in den Mund. Resigniert schloss sie die Augen, wie eben ein Wohlerfahrener, der dem minder Erfahrenen zum Spass einmal nachgibt. Darauf fiel ihre Hand langsam wieder auf die Decke zur?ck: >>E Mensch soll nix essen, wo er ka Appetit hat ... f?r e kranken Menschen is das nix ...<< Sie seufzte auf. >>Nur her?mgehn wenn ich k?nnt ...<<
>>Es wird schon wieder werden<< tr?stete die Mutter. >>Nur Geduld. Eine gute Patientin, was? Noch ein bisschen Fieber?<< Sie tastete ihr auf die Stirn. >>Nicht so arg.<<
>>Das verfluchte Fieber, ja ja ...<< Die Kranke keuchte wieder und hustete ein wenig, wobei es den Anschein hatte, als ?bertreibe sie, aus Zorn, nicht v?llig gesund zu sein oder als spiele sie die Wehleidige, wie ein Kind, um sich interessant zu machen. Dieses regelm?ssige Keuchen erweckte jedenfalls keine Besorgnis. >>Wie ich voriges Jahr operiert bin worden, hab ich gar ka Fieber gehabt, und jetzt diese Geseres. Alle Kr?nk auf krumm Gitel ...<<
>>Das ist die Medizin, nichtwahr.<< Die Mutter kramte am Fensterbrett >>wo ist aber das L?fferl?<<
>>Ich hab ka L?fferl -- ich trink mir e bissel aus dem Fl?schel.<<
>>Aber da kannst du doch nie wissen, wie viel.<<
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