Read Ebook: Sämtliche Werke 5-6: Die Dämonen by Dostoyevsky Fyodor Merezhkovsky Dmitry Sergeyevich Contributor Moeller Van Den Bruck Arthur Editor Rahsin E K Translator
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Ebook has 5411 lines and 282556 words, and 109 pages
>>Ich kann nicht ... es ist ehrlicher ... es ist meine Pflicht ... ich sterbe, wenn ich ihr nicht alles gestehe, alles!<< antwortete er nahezu fiebernd und sandte den Brief tats?chlich ab.
Gerade darin aber lag der Unterschied zwischen ihnen, dass Warwara Petrowna einen solchen Brief niemals abgesandt h?tte. Freilich, er liebte ?ber alle Massen zu schreiben, schrieb ihr selbst damals, als sie noch in demselben Hause wohnten, schrieb in hysterischen F?llen sogar zweimal am Tage. Ich weiss genau, dass Warwara Petrowna immer mit der gr?ssten Aufmerksamkeit diese Briefe durchlas, auch wenn sie ihrer zwei am Tage erhielt, um sie dann, nummeriert und sortiert, in einer besonderen Schatulle aufzubewahren; ausserdem aber hob sie sie noch in ihrem Herzen auf. Und nachdem sie dann ihren Freund den ganzen Tag vergeblich auf eine Antwort hatte warten lassen, benahm sie sich ihm gegen?ber am n?chsten Tage, als w?re so gut wie nichts Besonderes geschehen, als l?ge gar nichts vor. Auf die Weise hatte sie ihn allm?hlich so zugestutzt, dass er schon von selbst nicht mehr an das Vorgefallene zu erinnern wagte und ihr nur eine Weile in die Augen sah. Doch vergessen tat sie nichts, er aber vergass manchmal schon gar zu schnell, und ermutigt durch ihre Ruhe, konnte er oft schon am selben Tage wieder lachen und beim Champagner allen m?glichen Unsinn treiben, wenn ihn seine Freunde gerade an dem Tage besuchten. Mit welchen verbitternden Gef?hlen muss sie in solchen Augenblicken auf ihn gesehen haben, er aber bemerkte ?berhaupt nichts! Es sei denn, dass ihm nach einer Woche, einem Monat oder erst nach einem halben Jahr in einem besonderen Augenblick zuf?llig irgendein von ihm gebrauchter Ausdruck in so einem Brief einfiel und nach und nach der ganze Brief mit allen Einzelheiten und Umst?nden, und dann verging er pl?tzlich vor Scham und qu?lte sich mitunter dermassen, dass er wieder an seinen Anf?llen von Cholerine erkrankte. Diese ihn heimsuchenden eigent?mlichen Anf?lle, die an Cholerine erinnerten, waren in gewissen F?llen der gew?hnliche Ausgang seiner nerv?sen Ersch?tterungen und stellten ein in ihrer Art interessantes Kuriosum seiner Physis dar.
Ja, Warwara Petrowna hat ihn gewiss und sogar sehr oft gehasst; er aber hat bis zum Schluss nur eines nicht an ihr erkannt: dass er n?mlich zu guter Letzt f?r sie zu einem Sohn geworden war, zu ihrem Gesch?pf, ja man kann sagen, zu einer Erfindung von ihr, dass er schon Fleisch von ihrem Fleisch war und dass sie ihn keineswegs >>aus Neid<<, >>um seiner Talente willen<< bei sich hielt und unterhielt. Und wie m?ssen solche Verd?chtigungen sie verletzt haben! In ihr verbarg sich eine gewisse unertr?gliche, unduldsame Liebe zu ihm, mitten unter ununterbrochenem Hass, unter Eifersucht und Verachtung. Sie besch?tzte ihn vor jedem St?ubchen, gab sich unerm?dlich zweiundzwanzig Jahre lang mit ihm ab, und die Sorge h?tte ihr den Schlaf geraubt, wenn man seinen Ruf als Dichter, als Gelehrter, sein Wirken im kulturb?rgerlichen Sinne angetastet h?tte. Sie hatte ihn sich ausgedacht und war selber die erste, die an die Wirklichkeit ihrer eigenen Dichtung glaubte. Er war so etwas wie ihr Traumbild. Aber sie verlangte von ihm tats?chlich viel daf?r, manchmal geradezu sklavischen Gehorsam. Und nachtragend war sie bis zur Unglaublichkeit. ?brigens werde ich doch lieber gleich zwei F?lle erz?hlen.
Einmal, gerade in der Zeit, als sich die ersten Ger?chte von der Aufhebung der Leibeigenschaft im Lande zu verbreiten begannen, beehrte ein Petersburger Baron, ein Mann mit den allerh?chsten Verbindungen, der noch dazu von Amts wegen der mit Jubel erwarteten Neuerung sehr nahe stand, auf der Durchfahrt Warwara Petrowna mit seinem Besuch. Sie liebte und pflegte solche Bekanntschaften ausserordentlich, zumal ihre Verbindungen mit der hohen Gesellschaft nach dem Tode ihres Mannes betr?chtlich abgenommen hatten und schliesslich ganz aufzuh?ren drohten. Der Baron verweilte etwa eine Stunde bei ihr und trank Tee. Von ihren Bekannten war sonst niemand zugegen, nur Stepan Trophimowitsch ward von ihr eingeladen und sozusagen zur Schau gestellt. Der Baron hatte denn auch richtig schon fr?her von ihm geh?rt, oder tat wenigstens, als habe er von ihm geh?rt, doch wandte er sich beim Tee selten an ihn. Nat?rlich h?tte sich Stepan Trophimowitsch gesellschaftlich nie irgendwie blamieren k?nnen, er hatte ?berhaupt die feinsten Manieren; obschon er, glaube ich, nicht von hoher Herkunft war. Aber er war von der fr?hesten Kindheit an in einem vornehmen Moskauer Hause aufgewachsen, also sehr gut erzogen; Franz?sisch sprach er wie ein Pariser. Der Baron musste mithin auf den ersten Blick erkennen, mit welchen Menschen Warwara Petrowna sich umgab, wenn sie auch in der Provinz lebte. Allein, es sollte anders kommen. Als n?mlich der Baron die neuen Ger?chte von der bevorstehenden grossen Reform ausdr?cklich best?tigte, da konnte Stepan Trophimowitsch pl?tzlich nicht an sich halten und rief ein >>Hurra!<<, wobei er mit der Hand noch eine Geste machte, die Begeisterung ausdr?cken sollte. Er rief es ?brigens nicht laut und geradezu elegant; ja, vielleicht war die Begeisterung sogar wohl?berlegt und die Geste absichtlich vor dem Spiegel einstudiert, eine halbe Stunde vor dem Tee; doch offenbar missgl?ckte ihm hierbei irgend etwas, so dass der Baron sich ein kaum merkliches L?cheln erlaubte, wenn er auch sofort ?beraus h?flich eine Phrase ?ber die allgemeine und erkl?rliche Ergriffenheit aller russischen Herzen angesichts der grossen Begebenheit einflocht. Darauf empfahl er sich bald und vergass dabei nicht, Stepan Trophimowitsch zum Abschiede zwei Finger zu reichen. Als Warwara Petrowna in den Salon zur?ckkehrte, schwieg sie zun?chst etwa drei Minuten lang und tat, als suchte sie etwas auf dem Tisch; doch pl?tzlich wandte sie sich zu Stepan Trophimowitsch und stiess, bleich, mit blitzenden Augen, halblaut zischelnd hervor: >>Das werde ich Ihnen nie vergessen!<<
Am anderen Tage verhielt sie sich zu ihrem Freunde als w?re nichts geschehen, ?ber das Vorgefallene verlor sie weiter kein Wort. Erst nach dreizehn Jahren, in einem tragischen Augenblick, erinnerte sie ihn pl?tzlich an diesen Vorfall und wieder erbleichte sie dabei genau so wie damals. Nur zweimal in ihrem Leben hat sie zu ihm gesagt: >>Das werde ich Ihnen nie vergessen!<< Der Fall mit dem Baron war schon der zweite Fall; aber auch der erste war an und f?r sich so charakteristisch und hat, wie mir scheint, im Schicksal Stepan Trophimowitschs so viel bedeutet, dass ich mich entschliesse, auch ihn zu erw?hnen.
Das war im Jahre 1855, im Mai, kurz nachdem man in Skworeschniki die Nachricht vom Tode des Generalleutnants Stawrogin, des leichtsinnigen alten Herrn, erhalten hatte, der auf der Reise nach der Krim zur ?bernahme eines Kommandos in der aktiven Armee unterwegs an einer Magenerkrankung gestorben war. Warwara Petrowna war also nun Witwe und ging in tiefstem Schwarz. Freilich, innerlich konnte ihre Trauer nicht sehr gross sein, denn schon die letzten vier Jahre hatten die beiden Gatten wegen der Charaktergegens?tze vollkommen getrennt gelebt und sie hatte ihm nur eine Art Pension ausgesetzt. Nichtsdestoweniger hatte die Pl?tzlichkeit der Nachricht sie ersch?ttert und so zog sie sich denn in die Einsamkeit zur?ck. Selbstredend befand sich Stepan Trophimowitsch ununterbrochen bei ihr.
Der Mai stand in voller Bl?te; die Abende waren wundervoll. Maulbeerb?ume dufteten. Die beiden Freunde kamen allabendlich im Garten zusammen, sassen bis in die Nacht hinein in einer Laube und breiteten ihre Gef?hle und Gedanken voreinander aus. Es gab manchen poetischen Augenblick. Unter dem Eindruck ihrer Schicksals?nderung sprach Warwara Petrowna mehr als gew?hnlich. Sie schmiegte sich gleichsam an das Herz ihres Freundes, und das setzte sich so mehrere Abende fort. Pl?tzlich kam Stepan Trophimowitsch ein eigent?mlicher Gedanke: Wie? rechnete die ersch?tterte Witwe jetzt vielleicht auf ihn? Erwartete sie etwa nach Ablauf des Trauerjahres einen Heiratsantrag von ihm? -- Ein zynischer Gedanke; aber gerade die H?he der Organisation beg?nstigt doch mitunter noch die Neigung zu zynischen Gedanken, schon allein durch die Vielseitigkeit der Entwicklung. Er begann zu ?berlegen und fand, dass es wirklich diesen Anschein gewann. Er wurde nachdenklich: >>Ein riesiges Verm?gen, das ist allerdings wahr, aber ...<< In der Tat, Warwara Petrowna war nicht gerade das, was man unter einer Sch?nheit versteht: sie war eine grosse, gelbe, magere Frau, mit einem ?berm?ssig langen Gesicht, in dem irgend etwas entfernt an einen Pferdekopf erinnerte. Stepan Trophimowitsch schwankte immer mehr unter solchen Betrachtungen, qu?lte sich mit Zweifeln und weinte sogar zweimal wegen seiner eigenen Unentschlossenheit . An den Abenden, also in der Laube, nahm sein Gesicht einen kaprizi?sen Ausdruck an, und zuweilen war sogar etwas Ironisches, etwas Kokettes, und zugleich Hochm?tiges darin. Das geschieht ganz unwillk?rlich, und sogar je edler der Mensch ist, um so bemerkbarer wird es. Ob nun Stepan Trophimowitschs Bef?rchtungen grundlos waren oder nicht, das ist schwer zu sagen: am wahrscheinlichsten ist, dass Warwara Petrowna an eine Heirat ?berhaupt nicht dachte -- jedenfalls h?tte sie sich wohl niemals entschliessen k?nnen, ihren alten Namen, den der Stawrogins, mit dem seinen zu vertauschen, selbst wenn sein Name in der Literatur noch so ber?hmt gewesen w?re. Vielleicht war es von ihr aus nur ein weibliches Spiel, der Ausdruck eines unbewussten weiblichen Bed?rfnisses, das ja in manchen weiblichen F?llen doch so nat?rlich ist. ?brigens kann ich mich f?r nichts verb?rgen, die Tiefe des Frauenherzens ist sogar bis heute noch unerforschlich! Doch ich fahre fort.
Es ist anzunehmen, dass Warwara Petrowna aus dem eigent?mlichen Gesichtsausdruck ihres Freundes bald erriet, was in ihm vorging; sie war feinf?hlig und verstand zu beobachten, er aber war manchmal schon gar zu naiv. Trotzdem vergingen die Abende nach wie vor poetisch und bei anregender Unterhaltung. Einmal jedoch, bei Anbruch der Nacht, trennten sie sich nach einem besonders lebhaften, interessanten und poetischen Gespr?ch mit einem heissen H?ndedruck an der Treppe des Gartenhauses, in das Stepan Trophimowitsch in jedem Sommer aus dem riesigen Herrenhause von Skworeschniki ?berzusiedeln pflegte. Als er eingetreten war, nahm er zun?chst, gleichsam zerstreut und doch wie in Gedanken versunken, eine Zigarre, z?ndete sie aber noch nicht an, sondern trat erm?det ans offene Fenster und schaute regungslos den wie Flaum leichten, hellen W?lkchen zu, die an dem klaren Monde vor?berglitten, als pl?tzlich ein leises Ger?usch ihn aufschreckte und er sich umsah. Vor ihm stand wieder Warwara Petrowna, von der er sich vor kaum vier Minuten im Garten getrennt hatte. Ihr gelbes Gesicht war fast bl?ulich, ihre Lippen schienen sich krampfhaft zusammenzupressen und die Mundwinkel zuckten. So sah sie ihm wohl volle zehn Sekunden lang schweigend in die Augen, mit festem, unerbittlichem Blick, und pl?tzlich stiess sie in schnellem Gefl?ster hervor:
>>Das werde ich Ihnen nie vergessen!<<
Als Stepan Trophimowitsch mir zehn Jahre sp?ter diese traurige Geschichte erz?hlte, fl?sternd, nachdem er zuvor die T?r verschlossen hatte, versicherte er mir, er sei damals auf der Stelle so erstarrt, dass er weder geh?rt noch gesehen habe, wie Warwara Petrowna wieder verschwand. Und da sie sp?ter kein einziges Mal den Vorfall auch nur erw?hnt hatte und alles seinen Lauf ging, als w?re nichts geschehen, so war er sein lebelang geneigt, anzunehmen, dass das Ganze nur eine Halluzination vor der Erkrankung gewesen sei, zumal er tats?chlich noch in derselben Nacht erkrankte und ganze zwei Wochen lang das Bett h?ten musste, was denn auch, ?brigens sehr zur rechten Zeit, den Gespr?chen in der Laube ein Ende machte.
Doch ungeachtet seiner Idee von der Halluzination war es dennoch, als erwartete er jeden Tag, w?hrend der ganzen Jahre, so etwas wie eine Fortsetzung und sozusagen Erkl?rung dieses Geschehnisses. Er glaubte nicht, dass es damit auch beendet sei! Und wenn er das nicht glaubte, wie sonderbar muss er dann doch manchmal auf seinen >>Freund<< geschaut haben!
Sie hatte sogar das Kost?m f?r ihn erdacht, das er seitdem best?ndig trug. Es war geschmackvoll und charakteristisch zugleich: ein langer schwarzer Rock, fast bis oben zugekn?pft, der aber prachtvoll sass; ein weicher Hut mit breiter Krempe; eine Halsbinde aus weissem Batist, mit grossem Knoten und h?ngenden Enden; ein Stock mit silbernem Knauf, dazu das Haar fast bis auf die Schultern. Er war dunkelblond und erst in der letzten Zeit begann er ein wenig zu ergrauen. Den Schnurrbart und Bart rasierte er. Man sagt, in seiner Jugend sei er ein ?beraus sch?ner Mensch gewesen. Doch meiner Meinung nach war er auch im Alter eine ungemein eindrucksvolle Erscheinung. Aber kann man denn bei dreiundf?nfzig Jahren ?berhaupt von Alter reden? Doch aus einer gewissen >>B?rger<<-Eitelkeit machte er sich nicht nur nicht j?nger, sondern war sogar gleichsam stolz auf die Solidit?t seiner Jahre, und in diesem Kost?m, hoch von Wuchs, hager, mit dem langen Haar erinnerte er gleichsam an einen Patriarchen, oder noch besser: an das Portr?t des Dichters K?kolnik, das in den dreissiger Jahren als Lithographie in irgendeiner Ausgabe erschien, besonders wenn er im Sommer im Garten sass, auf einer Bank unter bl?hendem Flieder, die H?nde auf den Stock gest?tzt, ein aufgeschlagenes Buch neben sich und in poetisches Sinnen versunken beim Anblick des Sonnenuntergangs. ?brigens in betreff der B?cher muss ich bemerken, dass er in der letzten Zeit das Lesen gewissermassen aufzugeben begann. Aber das geschah doch erst in der allerletzten Zeit. Die Zeitungen und Zeitschriften dagegen, die Warwara Petrowna in Menge sich zuschicken liess, die las er best?ndig. F?r die Fortschritte der russischen Literatur interessierte er sich gleichfalls unausgesetzt, freilich ohne dabei seiner eigenen W?rde auch nur das geringste zu vergeben. Eine Zeitlang befasste er sich auch eifrig mit dem Studium unserer inneren und ?usseren Tagespolitik, doch alsbald gab er das resigniert wieder auf. Es kam aber auch anderes vor: dass er z. B. einen Band Tocqueville in den Garten mitnahm, in seiner Rocktasche aber einen Paul de Kock versteckt hatte. Doch das sind ?brigens Belanglosigkeiten.
Zu dem Portr?t von K?kolnik m?chte ich hier nur in Klammern bemerken: dass dieses Bild Warwara Petrowna zum erstenmal in die H?nde geraten war, als sie noch in Moskau in einem adeligen M?dchenpensionat erzogen wurde. Sie verliebte sich sofort in dieses Bild, nach der Gewohnheit s?mtlicher jungen M?dchen in Pensionaten, die sich nun einmal in alles zu verlieben pflegen, was ihnen nur zu Gesichte kommt, aber zugleich auch in ihre Lehrer, und zwar vornehmlich in die der Sch?nschreibe- und Zeichenkunst. Im vorliegenden Fall jedoch war das Bemerkenswerte nicht diese Eigenschaft junger M?dchen, sondern lediglich der Umstand, dass Warwara Petrowna die erw?hnte Lithographie noch im f?nfzigsten Lebensjahr unter ihren teuersten Kostbarkeiten aufbewahrte, also vielleicht nur deshalb auch f?r Stepan Trophimowitsch jenes besondere Kost?m erdacht hatte, das dem auf diesem Bilde dargestellten zum Teil so ?hnlich war. Aber auch das ist nat?rlich nur eine Nebensache.
In den ersten Jahren oder, genauer gesagt, in der ersten H?lfte seines Aufenthalts bei Warwara Petrowna hatte Stepan Trophimowitsch immer noch an schriftstellerische T?tigkeit gedacht und sich eigentlich jeden Tag ernstlich vorgenommen, mit dem Werk, das ihm vorschwebte, zu beginnen. In der zweiten H?lfte aber begann er offenbar, die fr?heren Vorstudien schon zu vergessen. Immer h?ufiger sagte er zu uns: >>Man sollte meinen, jetzt k?nnte ich mit der Arbeit beginnen, das Material ist zusammengetragen, und doch entsteht nichts! Es will einfach nicht in mir arbeiten!<< und wehm?tig liess er den Kopf h?ngen. Zweifellos sollte gerade das ihn in unseren Augen noch mehr erh?hen, ihn als einen M?rtyrer der Wissenschaft hinstellen; aber im Grunde und f?r sich selbst verlangte ihn doch nach etwas anderem. >>Man hat mich vergessen, niemand braucht mich!<< entrang es sich ihm mehr als einmal. Diese gesteigerte Schwermut bem?chtigte sich seiner besonders ganz am Ende der f?nfziger Jahre. Warwara Petrowna begriff schliesslich, dass die Sache ernst war. Zudem konnte auch sie den Gedanken nicht ertragen, dass ihr Freund vergessen sei und niemand ihn brauche. Um ihn zu zerstreuen, aber zugleich auch um seinen Ruhm zu erneuen, reiste sie damals mit ihm nach Moskau, wo sie mit einigen tadellosen Vertretern der Literaten- und Gelehrtenwelt bekannt war; doch es erwies sich, dass auch Moskau nicht zufriedenstellen konnte.
Es war damals eine besondere Zeit; etwas Neues brach an, etwas, das der vorhergegangenen Stille schon gar zu un?hnlich war, etwas schon gar zu Seltsames, das jedoch ?berall gesp?rt wurde, selbst in Skworeschniki. Verschiedene Ger?chte drangen auch dorthin. Die Tatsachen waren ja im allgemeinen mehr oder weniger bekannt, aber es war klar, dass ausser den Tatsachen noch eigent?mliche sie begleitende Ideen aufzutauchen begannen, und zwar, was das Wichtigste war, Ideen in aussergew?hnlicher Menge. Gerade das aber wirkte verwirrend: es war ganz und gar unm?glich, sich ein Urteil zu bilden und genau zu erfahren, was diese Ideen eigentlich bezweckten. Warwara Petrowna wollte, infolge der weiblichen Konstruktion ihrer Natur, unbedingt ein Geheimnis in ihnen verborgen wissen. Sie begann nun zun?chst selber die Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, dazu ausl?ndische verbotene Ausgaben und sogar die damals aufkommenden Proklamationen ; doch ihr wurde davon nur schwindlig. Sie begann dann Briefe zu schreiben; man antwortete ihr wenig und je weiter man ging, um so unverst?ndlicher wurde es. Stepan Trophimowitsch ward darauf feierlichst von ihr gebeten, ihr >>alle diese Ideen<< ein f?r allemal zu erkl?ren; doch seine Erkl?rungen befriedigten sie entschieden nicht. Der Standpunkt, von dem aus Stepan Trophimowitsch die allgemeine Bewegung beurteilte, war ein im h?chsten Grade hochm?tiger; bei ihm lief alles darauf hinaus, dass man ihn vergessen habe und niemand ihn brauche. Da aber geschah es, dass man sich schliesslich auch seiner erinnerte; zuerst in ausl?ndischen Zeitschriften als eines verbannten M?rtyrers, und danach sofort auch in Petersburg, als eines ehemaligen Sternes in einem bekannten Sternbilde; man verglich ihn aus irgendeinem Grunde sogar mit Radischtscheff. Darauf schrieb jemand in einer Zeitung, er sei bereits gestorben, und stellte einen Nekrolog ?ber ihn in Aussicht. Stepan Trophimowitsch belebte sich nach diesen Erw?hnungen seines Namens im Nu wie ein Auferstandener, und nahm eine h?chst w?rdevolle Haltung an. Der ganze Hochmut in seinem bisherigen Verhalten gegen?ber den Zeitgenossen fiel im Handumdrehen von ihm ab und statt dessen ergl?hte in ihm der Wunsch: sich der Bewegung anzuschliessen und seine Kraft zu zeigen. Warwara Petrowna begann sofort von neuem und an alles zu glauben und war ganz Eifer f?r die Sache. Es wurde beschlossen, ohne den geringsten Aufschub nach Petersburg zu reisen, alles an Ort und Stelle in Erfahrung zu bringen, pers?nlich zu ergr?nden, und sich hinfort, falls ang?ngig, ganz und ungeteilt der neuen Aufgabe zu widmen. Unter anderem erkl?rte sie sich bereit, eine eigene Zeitschrift zu gr?nden und dieser von nun an ihr ganzes Leben zu weihen. Als Stepan Trophimowitsch sah, wieweit es gekommen war, wurde er noch selbstbewusster, und begann bereits unterwegs, sich zu Warwara Petrowna fast g?nnerhaft zu verhalten, -- was sie sich sofort merkte und in ihrem Herzen aufhob. ?brigens hatte sie noch einen anderen sehr wichtigen Grund zu dieser Reise, n?mlich die Erneuerung ihrer Beziehungen zu den h?heren Kreisen. Man musste sich, soweit das m?glich war, in der Gesellschaft wieder in Erinnerung bringen, musste wenigstens den Versuch machen. Doch offiziell war der Anlass zu dieser Reise ein Wiedersehen mit ihrem einzigen Sohn, der damals seine Studien im Petersburger Adelslyzeum beendete.
Am folgenden Tage aber erschienen bei Warwara Petrowna bereits fr?h morgens f?nf Literaten, von denen ihr drei ganz unbekannt waren, ja die sie noch nie auch nur gesehen hatte. Mit strenger Miene teilten sie ihr mit, sie h?tten die Angelegenheit der von ihr geplanten Zeitschrift gepr?ft und in der Sache einen Beschluss gefasst. Warwara Petrowna hatte entschieden niemanden beauftragt, diese Angelegenheit zu pr?fen und ?ber ihre Zeitschrift etwas zu beschliessen. Der Beschluss bestand darin, dass Warwara Petrowna, nachdem sie die Zeitschrift gegr?ndet, diese unverz?glich mitsamt dem Kapital ihnen zu ?bergeben habe, mit den Rechten einer freien Handelsgesellschaft; sie selbst aber solle nach Skworeschniki zur?ckkehren und nicht vergessen, Stepan Trophimowitsch mitzunehmen, der mit seinen Anschauungen >>veraltet<< sei. Aus Zartgef?hl erkl?rten sie sich bereit, ihr das Eigentumsrecht zuzuerkennen und ihr allj?hrlich ein Sechstel des Gewinnes zuzusenden. Das R?hrendste war dabei, dass von diesen f?nf Menschen vier ganz gewiss nicht die geringste eigenn?tzige Absicht hatten und nur um der >>allgemeinen Sache<< willen diese M?he auf sich nahmen.
>>Wir waren wie bet?ubt, als wir abfuhren,<< erz?hlte Stepan Trophimowitsch, >>ich konnte noch ?berhaupt nichts fassen, und ich erinnere mich, zum Rattern der R?der murmelte ich immer nur vor mich hin: >Wjek, Wjek, Wjek ... Ljeff Kambeck--beck--beck ... Wjek, Wjek, Wjek ...< und der Teufel weiss was noch alles, bis wir in Moskau eintrafen. Erst in Moskau kam ich wieder zu mir -- als h?tte ich dort tats?chlich etwas anderes gefunden? Oh, meine Freunde!<< rief er vor uns manchmal ergriffen aus, >>Sie k?nnen sich ja gar nicht vorstellen, welch eine Trauer und welch eine Wut einem die ganze Seele erf?llen, wenn die grosse Idee, die Sie schon lange heilig halten, von Unwissenden aufgegriffen und zu ebensolchen Dummk?pfen, wie jene selbst sind, auf die Strasse hinausgeschleppt wird, und pl?tzlich begegnet man ihr schon auf dem Tr?delmarkt, wo sie kaum wiederzuerkennen ist, im Schmutz, unsinnig aufgestellt, schief, ohne jede Proportion, ohne Harmonie, als Spielzeug dummer Kinder! Nein! Zu unserer Zeit war es nicht so, unser Streben ging nicht nach der Richtung. Nein, nein, ganz und gar nicht nach der Richtung. Ich erkenne nichts wieder ... Aber unsere Zeit wird von neuem anbrechen und wird alles Wackelnde, Gegenw?rtige wieder auf den festen Weg lenken. Denn was sollte sonst wohl werden? ...<<
>>Alles Unsinn!<< urteilte Warwara Petrowna, indem sie auch diesen Brief zu den anderen legte. >>Wenn sie bis zum Morgenrot attische N?chte verleben, dann wird er doch nicht zw?lf Stunden ?ber den B?chern sitzen. War er etwa betrunken, als er das schrieb? Was f?llt dieser Dundassowa ein, mich gr?ssen zu lassen? ?brigens, mag er sich am?sieren ...<<
Darauf trat eine stille Zeit ein und dauerte fast diese ganzen neun Jahre. Die hysterischen Ausbr?che mit dem Geschluchze an meiner Schulter wiederholten sich zwischendurch zwar regelm?ssig, st?rten aber sonst keineswegs unser Wohlbehagen. Ich wundere mich eigentlich nur, dass Stepan Trophimowitsch in dieser Zeit nicht dick wurde. Nur seine Nase r?tete sich ein wenig und seine Grossmut nahm noch zu. Allm?hlich bildete sich um ihn ein Kreis von Freunden, der ?brigens immer klein blieb. Warwara Petrowna k?mmerte sich wohl nur wenig um diesen Kreis, aber wir erkannten sie doch alle als unsere Patronesse an. Nach der Petersburger Entt?uschung hatte sie sich endg?ltig in unserem Gouvernement niedergelassen: im Winter lebte sie in ihrem grossen Hause in der Stadt, im Sommer draussen auf ihrem Gute. Nie vorher hatte sie eine solche gesellschaftliche Bedeutung und soviel Einfluss gehabt, wie in diesen Jahren, das heisst, bis zur Ernennung des neuen, unseres jetzigen Gouverneurs. Dessen Vorg?nger dagegen, der unvergessliche, weiche Iwan Ossipowitsch, war mit ihr nah verwandt, und nicht umsonst hatte sie ihm manche Wohltat erwiesen. Seine Frau zitterte geradezu bei dem Gedanken, sie k?nne Warwara Petrowna irgendwie missfallen, und so grenzte denn, nach ihrem Beispiel, die Ehrerbietung der st?dtischen Kreise vor Warwara Petrowna fast schon an s?ndhaften G?tzendienst. Bei solchen Zust?nden hatte es nat?rlich auch Stepan Trophimowitsch gut. Er war Mitglied des Klubs, verlor w?rdevoll im Kartenspiel und erwarb sich die allgemeine Achtung, wenn auch viele in ihm nur einen >>Gelehrten<< sahen. Sp?terhin, als Warwara Petrowna ihm eine eigene Wohnung zu beziehen gestattete, war unser Verkehr noch zwangloser. Wir versammelten uns etwa zweimal w?chentlich bei ihm, und dann gab es lustige Abende, besonders wenn er mit dem Champagner nicht kargte. Er bezog ihn von dem bereits erw?hnten Andrejeff und die Rechnungen wurden halbj?hrlich von Warwara Petrowna bezahlt. Der Zahlungstag war dann allerdings fast immer auch ein Tag der Cholerine.
Das ?lteste Mitglied des Freundeskreises war Liputin, ein Gouvernementsbeamter in nicht mehr jungen Jahren, sehr liberal; in der Stadt galt er f?r einen Atheisten. Verheiratet war er zum zweiten Male, mit einer jungen und sehr netten Frau, die sogar eine Mitgift in die Ehe gebracht hatte. Ausserdem hatte er drei halberwachsene T?chter. Diese ganze Familie hielt er in Gottesfurcht und hinter Schloss und Riegel, war sehr geizig und hatte sich von seinem Gehalt ein kleines Haus gekauft und sogar ein Kapital erspart. Er war ein unruhiger Mensch, dazu als Beamter nur von niedriger Rangklasse; in der Stadt wurde er nicht sonderlich geachtet und die bessere Gesellschaft verkehrte nicht mit ihm. ?berdies war er ein ber?chtigtes Klatschmaul und schon mehr als einmal daf?r bestraft worden, sogar schmerzhaft, das erstemal von einem Offizier, ein anderes Mal von einem achtbaren Familienvater und Gutsbesitzer. Wir dagegen liebten seinen scharfen Verstand, seine Wissbegier, seine eigent?mliche boshafte Lustigkeit. Warwara Petrowna mochte ihn nicht, aber er verstand es immer irgendwie, sich ihr anzupassen.
Auch Schatoff, ein anderer aus diesem Kreise, der jedoch erst im letzten Jahre in ihn eintrat, erfreute sich nicht der besonderen Zuneigung Warwara Petrownas. Schatoff war fr?her Student gewesen, war aber nach einem Studentenkrawall relegiert worden. Auf die Welt war er noch als Warwara Petrownas Leibeigener gekommen, als Sohn ihres verstorbenen Kammerdieners Pawel Fjodoroff, weshalb sie sich seiner besonders angenommen und ihn als Knaben von Stepan Trophimowitsch hatte unterrichten lassen. Sie mochte ihn nicht wegen seines Stolzes und seiner Undankbarkeit und konnte es ihm nicht verzeihen, dass er nach seiner Relegation nicht sofort nach Skworeschniki zur?ckgekehrt war. Ja, auf ihren eigens deshalb geschriebenen Brief an ihn hatte er seinerzeit ?berhaupt nicht geantwortet, sondern es vorgezogen, in der Familie eines gebildeteren Kaufmanns Kinder zu unterrichten und mit ihr ins Ausland zu fahren, mehr als Kinderw?rter, denn als Erzieher. Zugleich jedoch fuhr eine Gouvernante mit, ein junges, lebhaftes russisches Fr?ulein, und als der Kaufmann diese nach zwei Monaten, wegen >>freier Anschauungen<< wegjagte, zog es auch Schatoff vor, sich langsam davon zu machen, ihr nach Genf nachzureisen und sich dort mit ihr trauen zu lassen. In Genf verlebten sie ungef?hr drei Wochen zusammen, dann aber trennten sie sich, als freie Menschen, die durch nichts aneinander gebunden waren -- nicht zuletzt auch deshalb, weil sie kein Geld hatten. Schatoff trieb sich darauf noch eine Weile in Europa umher, lebte Gott weiss wovon: man sagt, er habe auf der Strasse Stiefel geputzt und sei in einer Hafenstadt Lasttr?ger gewesen. Schliesslich aber kehrte er doch in seine Heimatstadt zur?ck, vor knapp einem Jahre, und zog zu seiner alten Tante, die aber bereits nach einem Monat starb. Zu seiner Schwester Dascha, Warwara Petrownas Z?gling und besonderem Liebling, die bei ihr wie eine gesellschaftlich Gleichstehende lebte, hatte er nur seltene und entfernte Beziehungen. Unter uns war er immer finster und schweigsam, und nur zuweilen, wenn man an seine ?berzeugungen r?hrte, war er von einer krankhaften Reizbarkeit und dann sehr unvorsichtig in seinen ?usserungen. >>Schatoff muss man zuerst anbinden, wenn man mit ihm disputieren will,<< pflegte Stepan Trophimowitsch zu scherzen; aber er liebte ihn. Im Auslande hatte Schatoff einige seiner sozialistischen ?berzeugungen vollst?ndig ge?ndert und war zum entgegengesetzten Extrem ?bergegangen. Er war eines jener idealen russischen Gesch?pfe, die pl?tzlich von irgendeiner starken Idee getroffen und auf der Stelle gleichsam zu Boden gedr?ckt werden von ihrer Schwere, manchmal sogar f?r immer. Sie sind niemals imstande, mit ihr fertig zu werden, sondern beginnen sogleich leidenschaftlich an sie zu glauben, und so vergeht dann ihr ganzes Leben wie in den letzten Kr?mpfen unter einem auf ihnen lastenden Steine, der sie halbwegs schon erdr?ckt hat. Schatoffs ?usseres entsprach vollkommen seinen ?berzeugungen: er war plump, blond, stark behaart, von niedrigem Wuchs, mit breiten Schultern, hatte dicke Lippen, sehr dichte, ?berh?ngende, weissblonde Augenbrauen, eine finstere Stirn, unfreundlichen, hartn?ckig gesenkten, und sich gleichsam wegen irgendetwas sch?menden Blick. Sein Haupthaar bildete an einer Stelle einen B?schel, der sich um keinen Preis ank?mmen liess und daher immer in die H?he stand. Er war ungef?hr sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt. >>Ich wundere mich nicht mehr dar?ber, dass seine Frau von ihm weggelaufen ist,<< meinte Warwara Petrowna einmal, nachdem sie ihn aufmerksam gemustert hatte. Dabei bem?hte sich Schatoff, trotz seiner grossen Armut, wenigstens immer sauber gekleidet zu sein. Nach seiner R?ckkehr hatte er Warwara Petrowna wieder nicht um Unterst?tzung gebeten, sondern sich durchgeschlagen, so gut es eben gehen wollte; er arbeitete bei Kaufleuten oder sonstwie. Einmal sass er in einem Laden; darauf sollte er als Gehilfe des Transportf?hrers mit einem Frachtschiff wegfahren, aber da erkrankte er kurz vor der Abfahrt. Man kann sich kaum eine Vorstellung davon machen, welch einen Grad von Armut Schatoff zu ertragen f?hig war, und sogar ohne es zu merken. Nach der Krankheit ?bersandte ihm Warwara Petrowna heimlich und ungenannt hundert Rubel. Er erfuhr aber schliesslich, von wem die Summe stammte, sann lange nach, nahm sie dann doch an und ging geraden Weges zu Warwara Petrowna, um sich bei ihr zu bedanken. Sie empfing ihn herzlich, aber auch diesmal entt?uschte er schm?hlich ihre Erwartungen: er sass ihr nur f?nf Minuten gegen?ber, schwieg fast die ganze Zeit, sah zu Boden, l?chelte bl?de, und pl?tzlich, gerade an der interessantesten Stelle des Gespr?chs, stand er auf, machte eine schiefe und ungeschickte Verbeugung, sch?mte sich dabei zu Tode und -- krach! hinter ihm lag Warwara Petrownas kostbares und kunstvolles N?htischchen zerschlagen am Boden, und Schatoff verliess das Zimmer mehr tot als lebendig. Liputin tadelte ihn wegen der ganzen Geschichte heftig: einmal, weil er die hundert Rubel von seiner fr?heren Herrin und Despotin nicht mit Verachtung zur?ckgewiesen hatte und dann, weil er auch noch zur Danksagung hingegangen war. Schatoff wohnte am ?ussersten Ende der Stadt und er sah es nicht gern, wenn ihn jemand, selbst von uns, besuchte. Zu den Abenden bei Stepan Trophimowitsch erschien er regelm?ssig und lieh dann B?cher und Zeitungen von ihm.
Ein anderer aus unserem Kreise, ein gewisser Wirginski, erinnerte, obgleich er scheinbar in allem Schatoffs vollst?ndiges Gegenteil war, innerlich doch sehr an ihn. Es war das ein hiesiger Beamter, gleichfalls ein >>Ehemann<<, ein bedauernswerter junger Mensch von schon dreissig Jahren, mit bedeutenden Kenntnissen, die er gr?sstenteils auf autodidaktischem Wege erworben hatte. Auch Wirginski war arm, dabei verheiratet, und obendrein noch gezwungen, Tante und Schwester seiner Frau zu ern?hren. Diese drei Damen teilten die allerneuesten Anschauungen, nur dass sie bei ihnen etwas vulg?r herauskamen, gleich >>auf die Strasse geschleppten Ideen<<, wie sich Stepan Trophimowitsch einmal bei einem anderen Anlass ausdr?ckte. Sie sch?pften alles aus B?chern und waren jederzeit bereit, alles, was noch irgendwie unmodern war, zum Fenster hinaus zu werfen -- wenn nur aus den fortschrittlichen Winkeln der Hauptst?dte das zu tun angeraten wurde. Madame Wirginskaja hatte als M?dchen lange in Petersburg gelebt; jetzt war sie Hebamme in unserer Stadt. Wirginski selbst war ein Mensch von seltener Herzensreinheit, und nie in meinem Leben habe ich eine ehrlichere Begeisterung gesehen. >>Niemals, niemals werde ich von diesen lichten Hoffnungen lassen,<< sagte er zu mir mit leuchtenden Augen. Von diesen >>lichten Hoffnungen<< sprach er stets nur leise mit Wonnegef?hl und fl?sternd, wie von einem Geheimnis. Er war ziemlich hoch von Wuchs, aber sehr d?nn und schmal in den Schultern, blass, mit sehr sp?rlichem, leicht r?tlichem Haar. Den oft recht hochm?tigen Spott Stepan Trophimowitschs ?ber die eine oder andere seiner Meinungen ertrug er sanftm?tig, doch zuweilen widersprach er ihm sehr ernst und setzte ihn durch seine Einw?nde in Verlegenheit. Im ?brigen ging Stepan Trophimowitsch freundlich mit ihm um, ja und ?berhaupt verhielt er sich zu uns allen v?terlich.
>>Und ich?<< fragte Liputin.
>>Sie, -- Sie sind einfach die goldene Mitte, die sich ?berall einlebt ... auf ihre Art.<< Liputin schwieg gekr?nkt.
Man erz?hlte sich von Wirginski, und leider war es nur zu glaubw?rdig, was man sich erz?hlte, seine Frau habe ihm bereits nach dem ersten Jahr ihrer Ehe eines sch?nen Tages mitgeteilt, dass er von nun an abgesetzt sei, und dass ein gewisser Herr Leb?dkin seine Stelle einnehmen werde. Dieser Herr Leb?dkin, ein Zugereister, stellte sich sp?ter als eine sehr fragw?rdige Erscheinung heraus, die vor allem nicht das geringste Recht auf den sich selber beigelegten Titel eines Hauptmanns a. D. hatte. Was er verstand, das war lediglich den Schnurrbart zu drehen, zu trinken und den gr?ssten Unsinn zu schwatzen. Er war dabei taktlos genug, sofort zu Wirginskis ?berzusiedeln, freute sich hier vor aller Welt des freien Tisches und begann zu guter Letzt noch, den Hausherrn von oben herab zu behandeln. Man behauptete ?brigens, dass Wirginski seiner Frau, nachdem sie ihm jene Mitteilung gemacht, geantwortet habe: >>Mein Freund, bis jetzt habe ich dich nur geliebt, aber von nun ab achte ich dich.<< In Wirklichkeit wird wohl kaum ein so altr?mischer Ausspruch gefallen sein, und manche behaupten denn auch, dass er im Gegenteil schrecklich geweint habe. Eines Tages, etwa zwei Wochen nach seiner Absetzung, begaben sie sich alle, die ganze >>Familie<<, in das W?ldchen vor der Stadt, um dort mit Bekannten Tee zu trinken. Wirginski war geradezu fieberhaft lustig gestimmt und beteiligte sich am Tanz; doch pl?tzlich, und zwar ohne jeden vorhergegangenen Streit, packte er den H?nen Leb?dkin, der solo einen Cancan tanzte, mit beiden H?nden an den Haaren, riss ihn nieder und begann ihn kreischend, schreiend und weinend zu zerren und zu hauen. Der H?ne erschrak dermassen, dass er sich nicht einmal wehrte, und solange der andere ihn pr?gelte, fast nicht muckste; nachher freilich spielte er dann mit dem ganzen Feuer eines edlen Menschen den Beleidigten. Wirginski bat seine Frau die ganze Nacht auf den Knien um Verzeihung, doch die ward ihm nicht gew?hrt, da er sich immerhin nicht bereit erkl?rte, auch Leb?dkin um Entschuldigung zu bitten; ausserdem wurde ihm Mangel an ?berzeugungstreue und Dummheit vorgeworfen; letzteres deshalb, weil er >>w?hrend einer Auseinandersetzung mit einer Frau<< vor dieser auf den Knien gelegen. Der >>Hauptmann<< verschwand bald darauf und erschien erst in allerletzter Zeit wieder in unserer Stadt, mit seiner Schwester und mit neuen Absichten; doch davon sp?ter. Es war also kein Wunder, dass der arme >>Familienmensch<< bei uns Ablenkung suchte und ein Bed?rfnis nach unserer Gesellschaft hatte. Von seinen h?uslichen Angelegenheiten sprach er bei uns ?brigens nie. Nur einmal, als er mit mir von Stepan Trophimowitsch heimging, war es, als wollte er etwas ?ber seine Lage verlauten lassen, doch schon im n?chsten Augenblick rief er, indem er meine Hand ergriff, flammend aus: >>Aber das tut ja nichts, das ist ja nur eine Privatangelegenheit; das st?rt doch die >allgemeine Sache< nicht im geringsten, nicht im geringsten!<<
Es kamen auch noch andere, mehr zuf?llige G?ste zu unseren Abenden: beispielsweise der kleine Jude L?mschin, ferner ein Hauptmann Kartusoff. Vor?bergehend kam manchmal auch noch ein wissbegieriger alter kleiner Herr, aber der starb. Einmal f?hrte Liputin einen verbannten polnischen Geistlichen, Slonzewski, bei uns ein, und anfangs liessen wir ihn aus Grundsatz an unseren Abenden teilnehmen, dann aber lehnten wir ihn doch ab.
Eine Zeitlang hiess es von uns in der Stadt, unser Kreis sei eine Pflanzst?tte der Freigeisterei, der Sittenverderbnis und der Gottlosigkeit; ja eigentlich behauptete sich dieser Ruf sogar die ganze Zeit. Und dabei gab es bei uns doch nur das allerunschuldigste, liebe, echt russische, heitere, liberale Geschw?tz. Der >>h?here Liberalismus<< und der >>h?here Liberale<<, d. h. ein Liberaler ohne jedes Ziel, sind ja nur in Russland m?glich. Stepan Trophimowitsch brauchte, wie jeder wortwitzige Mensch, ganz einfach einen Zuh?rer, und ausserdem war ihm das Bewusstsein unentbehrlich, dass er die h?chste Pflicht, Ideen zu verbreiten, erf?lle. Und schliesslich musste man doch jemanden haben, mit dem man Champagner trinken und so beim Glase eine gewisse Art heiterer Gedanken ?ber Russland und den >>russischen Geist<<, ?ber Gott im allgemeinen und den russischen Gott im besonderen austauschen konnte. Aber auch dem Stadtklatsch waren wir ganz und gar nicht abgeneigt und gelangten manchmal zu strengen, hochmoralischen Verurteilungen. Wir gerieten auch auf das Thema der Weltgeschichte, er?rterten ernst das zuk?nftige Schicksal Europas und der Menschheit; prophezeiten doktrin?r, dass Frankreich nach dem C?sarismus mit einem Schlage auf die Stufe eines Staates zweiten Ranges herabsinken werde, und waren vollkommen ?berzeugt, dass das ungeheuer schnell und leicht geschehen k?nne. Dem Papst hatten wir schon l?ngst die Rolle eines gew?hnlichen Metropoliten in dem geeinigten Italien vorausgesagt, und waren vollkommen ?berzeugt, dass diese ganze tausendj?hrige Frage in unserem Jahrhundert der Humanit?t, der Industrie und der Eisenbahnen nur eine Lappalie sei. Aber der >>h?here russische Liberalismus<< verh?lt sich ja nun einmal nicht anders zu der Sache. Manchmal sprach Stepan Trophimowitsch auch ?ber die Kunst, und zwar sehr gut, bloss leider ein wenig zu abstrakt. Hin und wieder kam er auch auf seine Jugendfreunde zu sprechen -- lauter Pers?nlichkeiten, die in der Geschichte unserer Entwicklung ihren Platz haben --, er gedachte ihrer mit R?hrung und Verehrung, aber ein wenig auch wie mit Neid. Wurde es einmal gar zu langweilig, dann setzte sich das J?dchen L?mschin , der meisterhaft Klavier spielte, an das Instrument, und zwischen den St?cken, die er vortrug, ahmte er in T?nen das Grunzen eines Schweines nach, oder ein Gewitter, oder eine Entbindung mit dem ersten Schrei des Kindes usw., usw.; nur deswegen wurde er auch eingeladen. Hatten wir stark getrunken -- und das kam vor, wenn auch nicht oft --, so gerieten wir meist in Begeisterung, und einmal sangen wir sogar im Chor, zu L?mschins Begleitung, die Marseillaise, nur weiss ich nicht, ob das, was dabei herauskam, auch wirklich die Marseillaise war. Den grossen Tag des 19. Februar feierten wir nat?rlich mit Enthusiasmus, und gew?hnten uns diese Feier mit Wein und Toasten auch in den folgenden Jahren noch lange nicht ab. ?brigens: einige Zeit vor dem grossen Tage hatte Stepan Trophimowitsch sich angew?hnt, ein paar geschraubte Strophen vor sich hinzumurmeln, die damals allen bekannt waren:
>>Es nahen die M?nner, die ?xte gesch?rft, Bereiten Schreckliches vor!<<
Als Warwara Petrowna das einmal vernahm, rief sie: >>Was f?r ein Unsinn!<< und verliess erz?rnt das Zimmer. Liputin aber, der gerade zugegen war, bemerkte boshaft zu Stepan Trophimowitsch: >>Aber es w?re doch schade, wenn die fr?heren Leibeigenen den Herren Gutsbesitzern etwas Unangenehmes bereiteten,<< -- und er fuhr sich mit dem Zeigefinger um den Hals herum.
Ich muss bemerken, dass viele bei uns annahmen, am Tage des Manifestes werde etwas Ungew?hnliches geschehen; etwas von der Art, wie es Liputin andeutete. Es scheint, dass auch Stepan Trophimowitsch diese Bef?rchtungen teilte, und sogar in solchem Masse, dass er kurz vor dem grossen Tage Warwara Petrowna pl?tzlich zu bitten begann, ins Ausland reisen zu d?rfen. Aber der grosse Tag verging, es vergingen noch mehr Tage, und das hochm?tige L?cheln erschien wieder auf Stepan Trophimowitschs Lippen. ?brigens ?usserte er damals einige bemerkenswerte Gedanken ?ber den Charakter des Russen im allgemeinen und des russischen Bauern im besonderen. Er meinte schliesslich:
Liputin stimmte ihm sofort bei, meinte aber, dass sich zu verstellen und die B?uerlein zu verherrlichen damals immerhin um der Richtung willen notwendig gewesen sei; dass sogar die Damen der h?chsten Gesellschaftskreise bei der Lekt?re des >>Anton Pechvogel<< Tr?nen vergossen h?tten, und manche h?tten sogar aus Paris an ihre Gutsverwalter geschrieben, sie sollten von nun an mit den Bauern m?glichst human umgehen.
Da geschah es eines Tages, und zum Ungl?ck gerade nach den ersten Ger?chten von Anton Petrowitsch, dass es auch in unserem Gouvernement, und nur 15 Werst von Skworeschniki, zu einem gewissen Missverst?ndnis kam, so dass man in der ersten Hitze ein Milit?rkommando hinschickte. ?ber diesen Vorfall regte sich Stepan Trophimowitsch ungeheuer auf. Im Klub schrie er, wir brauchten mehr Milit?r; er eilte zum Gouverneur, um zu versichern, dass er mit diesen Umtrieben nichts zu schaffen habe, und er bat, ihn nicht in diese Sache hineinzuziehen, auf Grund der Erinnerung an Gewesenes. Zum Gl?ck ging das alles bald vor?ber und l?ste sich in nichts auf; nur musste ich mich damals doch ?ber Stepan Trophimowitsch wundern.
Drei Jahre sp?ter begann man, wie erinnerlich, vom Nationalismus zu sprechen und es bildete sich eine >>?ffentliche Meinung<<. Dar?ber spottete er sehr.
Leider stimmten wir ihm damals bei. Aber h?rt man denn nicht auch jetzt noch oft genug genau solchen >>lieben<<, >>klugen<<, >>liberalen<<, alten, russischen Unsinn?
Doch hier ergriff Schatoff Partei:
>>Nie haben diese Ihre M?nner das Volk geliebt, nie um des Volkes willen gelitten und nichts haben sie f?rs Volk geopfert, wie sehr sie sich das auch eingebildet haben m?gen!<< brummte er unwirsch mit ungeduldigem Ruck, doch gesenktem Blick.
>>Was, die sollen das Volk nicht geliebt haben!<< rief Stepan Trophimowitsch entr?stet. >>Oh, und wie haben sie Russland geliebt!<<
>>Weder Russland noch das Volk!<< rief nun auch Schatoff erz?rnt; seine Augen funkelten. >>Man kann nicht lieben, was man gar nicht kennt, sie aber hatten ja vom russischen Volke ?berhaupt keinen Begriff! Alle diese M?nner haben das russische Volk einfach ?bersehen. Belinski hat genau wie der Wissbegierige in der Kryloffschen Fabel den Elefanten im Museum gar nicht bemerkt, da er ja seine ganze Aufmerksamkeit den franz?sischen sozialistischen K?ferchen zuwandte; bei denen ist er auch ewig geblieben. Und dabei war er doch noch der Gescheiteste von euch allen! Und nicht nur ?bersehen haben Sie alle das Volk, Sie haben sich sogar mit Ekel und Verachtung zu ihm verhalten, schon aus dem einen Grunde, weil Sie sich unter einem Volk einzig das franz?sische Volk vorzustellen vermochten, und selbst von diesem nur die Pariser, und Sie sch?mten sich, dass das russische Volk nicht ebenso war. Das ist die nackte Wahrheit! Wer aber kein Volk hat, der hat auch keinen Gott! Seien Sie versichert, dass alle die, die aufh?ren, ihr Volk zu verstehen, und die Verbindung mit ihm verlieren, sofort auch den Glauben der V?ter verlieren und Atheisten oder Indifferente werden. Ich sage damit nur die Wahrheit! Das ist auch der Grund, weshalb Sie alle und auch wir jetzt alle entweder widerliche Atheisten oder indifferentes, verderbtes Pack sind und nichts weiter! Sie gleichfalls, Stepan Trophimowitsch, ich schliesse Sie keineswegs aus, hab's sogar vor allem in bezug auf Sie gesagt, damit Sie's wissen!<<
Nach einem solchen Monolog geschah es gew?hnlich, dass Schatoff nach seiner M?tze griff und sofort zur T?r hinaus wollte, in der festen ?berzeugung, dass nun alles zu Ende sei und er seine freundschaftlichen Beziehungen zu Stepan Trophimowitsch f?r immer zerst?rt habe. Doch der verstand es stets, ihn rechtzeitig zur?ckzuhalten.
>>Ei, sollten wir nicht Frieden schliessen, Schatoff, nach all diesen netten W?rtchen?<< pflegte er dann zu ihm zu sagen, indem er ihm von seinem Lehnstuhl aus gutm?tig die Hand hinstreckte.
Der plumpe, doch leicht verlegen werdende und sich sch?mende Schatoff war kein Freund von Z?rtlichkeiten. ?usserlich war er ein rauher Mensch, doch innerlich war er, glaube ich, unendlich zartf?hlend. Wohl ?berschritt er oft das Mass, aber er war selbst der erste, der darunter litt. Auf Stepan Trophimowitschs vers?hnliche Worte brummte er etwas vor sich hin, trat wie ein B?r auf demselben Fleck von einem Bein auf das andere, schmunzelte pl?tzlich ganz unvermittelt, legte die M?tze wieder aus der Hand und setzte sich schliesslich auf seinen alten Platz, den Blick die ganze Zeit hartn?ckig zu Boden gesenkt. Nat?rlich gab es dann sofort Wein und Stepan Trophimowitsch brachte einen passenden Toast aus, z. B. auf das Andenken eines jener fr?heren bedeutenden M?nner.
Zweites Kapitel. Prinz Heinz. Die Brautwerbung.
Ausser Stepan Trophimowitsch gab es auf der Welt noch ein Wesen, an dem Warwara Petrowna nicht weniger hing als an ihm: das war ihr einziger Sohn Nicolai Wszewolodowitsch Stawrogin. F?r ihn war seinerzeit Stepan Trophimowitsch als Erzieher angenommen worden. Der Knabe war damals acht Jahre alt und seine Eltern lebten bereits getrennt, so dass das Kind nur unter der Obhut der Mutter heranwuchs. Man muss es Stepan Trophimowitsch lassen: er verstand es, seinen Z?gling an sich zu fesseln. Sein ganzes Geheimnis bestand darin, dass er selbst noch ein Kind war. Ich war damals noch nicht hier, er aber bedurfte ja best?ndig eines Freundes, und er trug kein Bedenken, ein so junges Wesen zu seinem Vertrauten zu machen. Ja, es machte sich ganz von selbst, dass zwischen ihnen nicht der geringste Abstand f?hlbar ward. Oft weckte er seinen zehn- oder elfj?hrigen Freund in der Nacht auf, nur um ihm unter Tr?nen sein gekr?nktes Herz auszusch?tten oder ihm ein Familiengeheimnis zu enth?llen, ohne gewahr zu werden, dass so etwas denn doch unzul?ssig war. Sie fielen einander um den Hals und weinten. Von seiner Mutter wusste der Knabe, dass sie ihn sehr liebte; doch er selbst liebte sie wohl kaum. Sie sprach wenig mit ihm, tat ihm selten einen Zwang an, aber ihr aufmerksam ihm folgender Blick wurde von ihm immer krankhaft intensiv gesp?rt. Den Unterricht und die moralische Erziehung ?berliess sie ?brigens ganz Stepan Trophimowitsch. Damals glaubte sie an ihn noch ohne Einschr?nkung. Es ist anzunehmen, dass der Lehrer die Nerven seines Z?glings ein wenig angegriffen hat: als dieser mit sechzehn Jahren auf das Lyzeum gebracht wurde, war er schw?chlich und blass, seltsam still und nachdenklich. Anzunehmen ist ferner, dass die Freunde nachts nicht immer nur ?ber irgendwelche Familiengeschichten weinten. Stepan Trophimowitsch hatte es verstanden, im Herzen seines Freundes die tiefsten Saiten zu ber?hren, und in ihm das erste, noch unbestimmte Empfinden jener ewigen, heiligen Sehnsucht hervorzurufen, die manche auserw?hlte Seele, die sie einmal gekostet und erkannt hat, nachher schon nie mehr gegen eine billige Zufriedenheit eintauschen mag. Jedenfalls aber war es gut, dass der Z?gling und der Erzieher, wenn auch sp?t, voneinander getrennt wurden.
W?hrend der ersten zwei Jahre im Lyzeum kam der J?ngling in den Ferien nach Haus. Als dann Warwara Petrowna und Stepan Trophimowitsch sich in Petersburg aufhielten, fand auch er sich manchmal zu den literarischen Abenden im Salon seiner Mutter ein, h?rte zu und beobachtete. Er sprach wenig und war wie immer still und sch?chtern. Zu Stepan Trophimowitsch verhielt er sich mit der fr?heren zarten Aufmerksamkeit, war aber doch etwas zur?ckhaltender: von hohen Dingen und Erinnerungen an Vergangenes zu sprechen vermied er sichtlich. Als er das Lyzeum absolviert hatte, trat er auf den Wunsch der Mutter beim Milit?r ein und wurde bald in eines der angesehensten Garde-Kavallerieregimenter aufgenommen. Er kam aber nicht zur Mutter, um sich ihr in der Uniform zu zeigen, und schrieb aus Petersburg immer seltener. Geld schickte ihm Warwara Petrowna ohne zu sparen, obschon die Einnahmen von ihren G?tern nach der Aufhebung der Leibeigenschaft so zur?ckgegangen waren, dass sie in der ersten Zeit nicht einmal die H?lfte der fr?heren Summen erhielt. F?r die Erfolge ihres Sohnes in der h?chsten Petersburger Gesellschaft interessierte sie sich sehr. Was ihr nicht gelungen war, gelang dem jungen, reichen und hoffnungsvollen Offizier ohne weiteres. Er erneuerte Bekanntschaften, an die sie nicht mehr hatte denken k?nnen, und ?berall wurde er mit dem gr?ssten Vergn?gen aufgenommen. Doch schon sehr bald begannen seltsame Ger?chte ihr zu Ohren zu kommen: es hiess, der junge Mann habe ganz pl?tzlich und geradezu sinnlos toll zu leben begonnen. Nicht, dass er spiele oder trinke; aber man sprach von einer wilden Z?gellosigkeit, von Menschen, die er mit seinen Trabern ?berfahren hatte, von einer grausamen R?cksichtslosigkeit gegen eine Dame der guten Gesellschaft, mit der er in Beziehungen gestanden und die er dann ?ffentlich beleidigt habe. Ja, in dieser Sache sei sogar etwas schon gar zu unverh?llt Schmutziges hervorgetreten. Und ?berhaupt sei er, wie man hinzuf?gte, ein herausfordernder Streitsucher, b?ndele an und beleidige dann einfach aus Lust am Beleidigen. Warwara Petrowna regte sich auf und war bek?mmert. Stepan Trophimowitsch versicherte ihr, das seien nur die ersten st?rmischen Ausbr?che eines allzu reich Veranlagten, das Meer werde sich schon wieder beruhigen, und alles das erinnere nur an die Jugend des Prinzen Heinz, der mit Falstaff, Poins und Mrs. Quickly seine Streiche vollf?hrte. Diesmal rief Warwara Petrowna nicht >>Unsinn, alles Unsinn!<< wie sie es sich in der letzten Zeit Stepan Trophimowitschs Auseinandersetzungen gegen?ber angew?hnt hatte; im Gegenteil, sie h?rte sehr aufmerksam zu, liess sich alles ausf?hrlich erkl?ren, nahm dann selbst den Shakespeare zur Hand und las ?beraus achtsam das unsterbliche Werk. Doch die Lekt?re beruhigte sie nicht, auch fand sie die ?hnlichkeit nicht so gross. Fieberhaft erwartete sie die Antworten auf mehrere Briefe. Die blieben auch nicht aus; bald traf die unheilvolle Nachricht ein, Prinz Heinz habe fast zu gleicher Zeit zwei Duelle gehabt, sei bei beiden der einzig Schuldige gewesen, habe den einen Gegner auf der Stelle niedergestreckt und den anderen zum Kr?ppel geschossen und infolgedessen sei er vor Gericht gestellt. Es endete damit, dass er zum Gemeinen degradiert, seiner Rechte beraubt und strafweise in eines der Linien-Infanterieregimenter versetzt wurde, und das war noch als ein besonders gn?diges Urteil zu betrachten.
Im Jahre 1863 gelang es ihm, sich auszuzeichnen; er erhielt das Ehrenkreuz und wurde zum Unteroffizier bef?rdert, dann aber merkw?rdig schnell auch zum Offizier. Inzwischen hatte seine Mutter wohl an hundert Briefe mit Bitten und Beschw?rungen nach Petersburg geschrieben und sich um seinetwillen sogar manches Dem?tigende erlaubt. Nach seiner Bef?rderung nahm der junge Mensch pl?tzlich seinen Abschied, kam aber wieder nicht nach Skworeschniki und h?rte sogar ganz auf, an die Mutter zu schreiben. Man erfuhr schliesslich auf Umwegen, dass er sich wieder in Petersburg aufhalte, doch in der fr?heren Gesellschaft habe man ihn gar nicht mehr gesehen; er habe sich irgendwo gleichsam versteckt. Nachforschungen ergaben, dass er in einer sonderbaren Gesellschaft lebte, sich dem Abschaum der Petersburger Bev?lkerung angeschlossen hatte, irgendwelchen stiefellosen Beamten, verabschiedeten Milit?rs, die in angemessener Form um Almosen baten, Trunkenbolden, deren schmutzige Familien er besuchte, Tage und N?chte in dunklen Spelunken und in Gott weiss was f?r Winkelgassen zubrachte, heruntergekommen, verlumpt war, und dass ihm das offenbar gefalle. Um Geld bat er seine Mutter nicht; er besass ja auch selbst ein kleines Gut , das immerhin etwas einbrachte und das er, wie verlautete, an einen Deutschen aus Sachsen verpachtet hatte. Schliesslich bat ihn die Mutter doch sehr, zu ihr zu kommen, und Prinz Heinz erschien in unserer Stadt. Damals sah ich ihn zum erstenmal.
Er war ein sehr sch?ner junger Mann von etwa f?nfundzwanzig Jahren, und ich muss gestehen, seine Erscheinung ?berraschte mich. Ich hatte erwartet, einen schmutzigen, verkommenen, von Ausschweifungen ausgemergelten, nach Branntwein riechenden Menschen zu erblicken. Statt dessen erblickte ich den elegantesten Gentleman, der mir je zu Gesicht gekommen ist. Tadellos gekleidet und von einer Haltung, wie sie nur ein Herr, der an den feinsten Anstand gew?hnt ist, haben kann. Ich war nicht der einzige, der staunte: es staunte die ganze Stadt, der ?brigens Herrn Stawrogins Lebensgeschichte sogar mit solchen Einzelheiten bekannt war, dass man sich kaum zu erkl?ren vermochte, wie diese hier in die ?ffentlichkeit hatten gelangen k?nnen. Alle unsere Damen verloren den Verstand vor Aufregung ?ber den neuen Gast. Sie teilten sich in zwei schroff entgegengesetzte Parteien: von der einen wurde er verg?ttert, von der anderen gehasst bis zum Blutrachedurst; den Verstand freilich hatten beide Parteien verloren. F?r die einen hatte es einen besonderen Reiz, dass sich in seiner Seele vielleicht ein schreckliches Geheimnis barg; anderen gefiel es entschieden, dass er ein M?rder war. Es stellte sich auch heraus, dass er eine ?beraus annehmbare Bildung und sogar einige wissenschaftliche Kenntnisse besass. Von letzteren war allerdings nicht viel n?tig, um uns in Erstaunen zu setzen; aber er konnte auch ?ber aktuelle und sehr interessante Fragen sprechen und sogar mit auffallender Besonnenheit. Erw?hnt sei noch als Seltsamkeit: alle fanden hier, dass er ein ?beraus vern?nftiger Mensch sei. Er war nicht sehr gespr?chig, formvollendet ohne Gesuchtheit, erstaunlich bescheiden und dabei k?hn und selbstbewusst, wie bei uns sonst niemand. Unsere Stutzer sahen auf ihn mit Neid und kamen neben ihm ?berhaupt nicht in Betracht. Auch sein Gesicht ?berraschte mich: das Haar war fast schon gar zu schwarz, die hellen Augen fast schon zu ruhig und klar, die Gesichtsfarbe fast schon zu zart und weiss, die Wangenr?te ebenfalls wie ein wenig zu grell und rein, die Z?hne wie Perlen, die Lippen wie Korallen, -- man sollte meinen, ein bildsch?ner Mann, und doch war diese Sch?nheit gleichsam auch abstossend. Manche sagten, sein Gesicht erinnere an eine Maske; doch ?brigens, was wurde nicht alles gesagt. Unter anderem sprach man auch viel von seiner aussergew?hnlichen K?rperkraft. Dabei war er von Gestalt beinahe hoch gewachsen. Warwara Petrowna blickte mit Stolz auf ihren Sohn, aber immer auch mit Unruhe. Er lebte bei uns etwa ein halbes Jahr -- tr?ge, still, ziemlich verdrossen; er verkehrte in der Gesellschaft, und erf?llte mit standhafter Aufmerksamkeit alle Vorschriften unserer Gouvernementsstadt-Etikette. Mit dem Gouverneur war er v?terlicherseits verwandt und verkehrte in seinem Hause wie ein naher Verwandter. So vergingen ein paar Monate, und pl?tzlich zeigte das Tier seine Krallen.
Nebenbei: unser lieber Iwan Ossipowitsch h?tte in der guten alten Zeit bei seiner Gastfreiheit einen vorz?glichen Adelsmarschall abgegeben, aber zum Gouverneur in einer so m?hevollen Zeit wie die unsrige passte er mit seiner Arbeitsscheu entschieden nicht. In der Stadt hiess es denn auch immer, nicht er, sondern Warwara Petrowna verwalte das Gouvernement. Das war freilich eine spitze Bemerkung, aber trotzdem eine Unwahrheit. Warwara Petrowna hatte in den letzten Jahren konsequent und bewusst jeden h?heren Ehrgeiz aufgegeben und ihre T?tigkeit freiwillig auf ein von ihr selbst streng umgrenztes Gebiet beschr?nkt. Sie begann sich pl?tzlich mit der Bewirtschaftung ihres Gutes zu befassen, und in zwei, drei Jahren hatte sie den Ertrag desselben nahezu wieder auf die fr?here H?he gebracht. Statt sich literarischem Ehrgeiz hinzugeben, begann sie zu sparen. Selbst Stepan Trophimowitsch wurde von ihr etwas weiter entfernt, indem sie ihm jetzt endlich eine eigene Wohnung zu mieten erlaubte. Allm?hlich begann er sie eine prosaische Frau zu nennen, oder scherzhaft seinen >>prosaischen Freund<<. Selbstredend erlaubte er sich solche Scherze nur in der respektvollsten Form und nachdem er lange einen passenden Augenblick abgewartet hatte.
Unvermutet erlaubte sich unser Prinz zwei, drei unm?gliche Frechheiten gegen verschiedene Personen. Das Emp?rendste an ihnen war gerade ihre unerh?rte Neuheit, ihre Unglaublichkeit; dass sie tats?chlich allen sonst ?blichen Dreistigkeiten so un?hnlich waren in ihrer t?richten Bengelhaftigkeit, ?berdies weiss der Teufel wozu eigentlich begangen, so vollst?ndig ohne jeden Anlass. Eines der ehrenwertesten H?upter unseres Klubs, Pjotr Pawlowitsch Gaganoff, ein bejahrter und sogar verdienstvoller Mann, hatte die unschuldige Angewohnheit, zur Bekr?ftigung jeder Behauptung heftig hinzuzuf?gen: >>Nein, mich wird man nicht an der Nase f?hren!<< Nun, das hatte ja weiter nichts auf sich. Aber als er eines Tages im Klub in der Hitze des Wortgefechts, inmitten einer Schar ihn umstehender Klubherren wieder einmal diesen Nachsatz anhing, trat Nicolai Wszewolodowitsch, der am Gespr?ch ganz unbeteiligt und allein abseits gestanden hatte, pl?tzlich auf Pjotr Pawlowitsch zu, fasste ihn unerwartet aber fest mit zwei Fingern an der Nase und zog ihn ein paar Schritte weit im Saal hinter sich her. Einen Groll konnte er gegen Herrn Gaganoff nicht haben. Man h?tte das f?r einen echten Schuljungenstreich halten k?nnen, nat?rlich f?r einen ganz unverzeihlichen; indes war Nicolai Wszewolodowitsch, wie man sp?ter erz?hlte, im Augenblick der Tat geradezu nachdenklich, >>ganz als w?re er nicht v?llig bei Sinnen gewesen<<, aber das vergegenw?rtigte man sich und erwog man erst sp?ter. In der ersten Emp?rung dachten alle nur an den zweiten Augenblick, als er alles bereits zweifellos richtig begriff, jedoch statt verlegen zu werden, pl?tzlich boshaft und belustigt l?chelte, >>ohne die geringste Reue<<, wie es hiess. Es erhob sich ein schrecklicher L?rm; er wurde umringt. Nicolai Wszewolodowitsch wandte sich um, sah ringsum alle an, ohne jemandem zu antworten, und betrachtete interessiert die Gesichter der erregt Durcheinanderschreienden. Schliesslich war es, als werde er pl?tzlich wieder nachdenklich -- wenigstens wurde sp?ter so erz?hlt --, er runzelte die Stirn, trat dann festen Schrittes auf den beleidigten Pjotr Pawlowitsch zu und sagte schnell, dabei sichtlich ge?rgert:
>>Sie entschuldigen nat?rlich ... Ich weiss wirklich nicht, weshalb mich pl?tzlich die Lust anwandelte ... Es war eine Dummheit ...<<
Die Nachl?ssigkeit dieser Entschuldigung kam einer neuen Beleidigung gleich. Es erhob sich ein noch gr?sseres Geschrei. Nicolai Wszewolodowitsch zuckte mit den Achseln und ging hinaus. Nun kannte die Emp?rung keine Grenzen, und Herr Stawrogin wurde sofort einstimmig aus der Zahl der Mitglieder des Klubs ausgeschlossen. Darauf wurde im Namen des ganzen Klubs an den Gouverneur die Bitte gerichtet, mittels der ihm anvertrauten Administrativgewalt den >>sch?dlichen Unruhstifter zu z?geln und damit die Ruhe der gesamten anst?ndigen Gesellschaft unserer Stadt gegen sch?dliche Anschl?ge zu sichern<<. Mit boshafter Unschuld wurde hinzugef?gt, >>vielleicht lasse sich auch gegen Herrn Stawrogin ein Gesetz finden<<, um dem Gouverneur wegen Warwara Petrowna einen Stich zu versetzen. Der Gouverneur war gerade verreist, wurde aber bald zur?ckerwartet. Inzwischen bereitete man dem beleidigten Pjotr Pawlowitsch richtige Ovationen: man umarmte und k?sste ihn, die ganze Stadt machte bei ihm Visite. Man plante sogar ihm zu Ehren ein Diner im Klub, auf Subskription, und gab es nur auf seine dringende Bitte hin auf, -- vielleicht aber auch, weil man sich schliesslich darauf besann, dass der Mann ja immerhin an der Nase gef?hrt worden war und mithin eigentlich kein Grund zu Festlichkeiten vorlag.
Indes, wie hatte das alles nur geschehen k?nnen? Bemerkenswert war besonders der Umstand, dass kein Mensch diesen Streich auf zeitweiliges Irresein zur?ckf?hrte. Also traute man offenbar auch einem gesunden und geistesklaren Nicolai Wszewolodowitsch Derartiges zu.
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