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Read Ebook: Jenseits von Gut und Böse by Nietzsche Friedrich Wilhelm

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Ebook has 348 lines and 59635 words, and 7 pages

Edition: 10

Friedrich Nietzsche

Jenseits von Gut und B?se

Inhalt

Vorrede 1. Hauptst?ck: Von den Vorurtheilen der Philosophen. 2. Hauptst?ck: Der freie Geist. 3. Hauptst?ck: Das religi?se Wesen. 4. Hauptst?ck: Spr?che und Zwischenspiele. 5. Hauptst?ck: Zur Naturgeschichte der Moral. 6. Hauptst?ck: Wir Gelehrten. 7. Hauptst?ck: Unsere Tugenden. 8. Hauptst?ck: V?lker und Vaterl?nder. 9. Hauptst?ck: Was ist vornehm? Aus hohen Bergen. Nachgesang.

Jenseits von Gut und B?se

Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.

Vorrede.

Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist -, wie? ist der Verdacht nicht gegr?ndet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden? dass der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um gerade ein Frauenzimmer f?r sich einzunehmen? Gewiss ist, dass sie sich nicht hat einnehmen lassen: - und jede Art Dogmatik steht heute mit betr?bter und muthloser Haltung da. Wenn sie ?berhaupt noch steht! Denn es giebt Sp?tter, welche behaupten, sie sei gefallen, alle Dogmatik liege zu Boden, mehr noch, alle Dogmatik liege in den letzten Z?gen. Ernstlich geredet, es giebt gute Gr?nde zu der Hoffnung, dass alles Dogmatisiren in der Philosophie, so feierlich, so end- und letztg?ltig es sich auch geb?rdet hat, doch nur eine edle Kinderei und Anf?ngerei gewesen sein m?ge; und die Zeit ist vielleicht sehr nahe, wo man wieder und wieder begreifen wird, was eigentlich schon ausgereicht hat, um den Grundstein zu solchen erhabenen und unbedingten Philosophen-Bauwerken abzugeben, welche die Dogmatiker bisher aufbauten, - irgend ein Volks-Aberglaube aus unvordenklicher Zeit , irgend ein Wortspiel vielleicht, eine Verf?hrung von Seiten der Grammatik her oder eine verwegene Verallgemeinerung von sehr engen, sehr pers?nlichen, sehr menschlich-allzumenschlichen Thatsachen. Die Philosophie der Dogmatiker war hoffentlich nur ein Versprechen ?ber Jahrtausende hinweg: wie es in noch fr?herer Zeit die Astrologie war, f?r deren Dienst vielleicht mehr Arbeit, Geld, Scharfsinn, Geduld aufgewendet worden ist, als bisher f?r irgend eine wirkliche Wissenschaft: - man verdankt ihr und ihren "?berirdischen" Anspr?chen in Asien und Agypten den grossen Stil der Baukunst. Es scheint, dass alle grossen Dinge, um der Menschheit sich mit ewigen Forderungen in das Herz einzuschreiben, erst als ungeheure und furchteinfl?ssende Fratzen ?ber die Erde hinwandeln m?ssen: eine solche Fratze war die dogmatische Philosophie, zum Beispiel die Vedanta-Lehre in Asien, der Platonismus in Europa. Seien wir nicht undankbar gegen sie, so gewiss es auch zugestanden werden muss, dass der schlimmste, langwierigste und gef?hrlichste aller Irrth?mer bisher ein Dogmatiker-Irrthum gewesen ist, n?mlich Plato's Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich. Aber nunmehr, wo er ?berwunden ist, wo Europa von diesem Alpdrucke aufathmet und zum Mindesten eines gesunderen - Schlafs geniessen darf, sind wir, deren Aufgabe das Wachsein selbst ist, die Erben von all der Kraft, welche der Kampf gegen diesen Irrthum grossgez?chtet hat. Es hiess allerdings die Wahrheit auf den Kopf stellen und das Perspektivische, die Grundbedingung alles Lebens, selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden, wie Plato gethan hat; ja man darf, als Arzt, fragen: "woher eine solche Krankheit am sch?nsten Gew?chse des Alterthums, an Plato? hat ihn doch der b?se Sokrates verdorben? w?re Sokrates doch der Verderber der Jugend gewesen? und h?tte seinen Schlierling verdient?" - Aber der Kampf gegen Plato, oder, um es verst?ndlicher und f?r's "Volk" zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden - denn Christenthum ist Platonismus f?r's "Volk" - hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen. Freilich, der europ?ische Mensch empfindet diese Spannung als Nothstand; und es ist schon zwei Mal im grossen Stile versucht worden, den Bogen abzuspannen, einmal durch den Jesuitismus, zum zweiten Mal durch die demokratische Aufkl?rung: - als welche mit H?lfe der Pressfreiheit und des Zeitunglesens es in der That erreichen d?rfte, dass der Geist sich selbst nicht mehr so leicht als "Noth" empfindet! Aber wir, die wir weder Jesuiten, noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug sind, wir guten Europ?er und freien, sehr freien Geister - wir haben sie noch, die ganze Noth des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Ziel.....

Sils-Maria,

Oberengadin im Juni 1885.

Erstes Hauptst?ck:

Von den Vorurtheilen der Philosophen.

Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verf?hren wird, jene ber?hmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben: was f?r Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen schlimmen fragw?rdigen Fragen! Das ist bereits eine lange Geschichte, - und doch scheint es, dass sie kaum eben angefangen hat? Was Wunder, wenn wir endlich einmal misstrauisch werden, die Geduld verlieren, uns ungeduldig umdrehn? Dass wir von dieser Sphinx auch unserseits das Fragen lernen? Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Was in uns will eigentlich "zur Wahrheit"? - In der that, wir machten langen Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens, - bis wir, zuletzt, vor einer noch gr?ndlicheren Frage ganz und gar stehen blieben. Wir fragten nach dem Werthe dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewissheit? Selbst Unwissenheit? - Das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor uns hin, - oder waren wir's, die vor das Problem hin traten? Wer von uns ist hier Oedipus? Wer Sphinx? Es ist ein Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und Fragezeichen. - Und sollte man's glauben, dass es uns schliesslich bed?nken will, als sei das Problem noch nie bisher gestellt, - als sei es von uns zum ersten Male gesehn, in's Auge gefasst, gewagt? Denn es ist ein Wagnis dabei, und vielleicht giebt es kein gr?sseres.

"Wie k?nnte Etwas aus seinem Gegensatz entstehn? Zum Beispiel die Wahrheit aus dem Irrthume? Oder der Wille zur Wahrheit aus dem Willen zur T?uschung? Oder die selbstlose Handlung aus dem Eigennutze? Oder das reine sonnenhafte Schauen des Weisen aus der Begehrlichkeit? Solcherlei Entstehung ist unm?glich; wer davon tr?umt, ein Narr, ja Schlimmeres; die Dinge h?chsten Werthes m?ssen einen anderen, eigenen Ursprung haben, - aus dieser verg?nglichen verf?hrerischen t?uschenden geringen Welt, aus diesem Wirrsal von Wahn und Begierde sind sie unableitbar! Vielmehr im Schoosse des Sein's, im Unverg?nglichen, im verborgenen Gotte, im `Ding an sich` - da muss ihr Grund liegen, und sonst nirgendswo!" - Diese Art zu urtheilen macht das typische Vorurtheil aus, an dem sich die Metaphysiker aller Zeiten wieder erkennen lassen; diese Art von Werthsch?tzungen steht im Hintergrunde aller ihrer logischen Prozeduren; aus diesem ihrem "Glauben" heraus bem?hn sie sich um ihr "Wissen", um Etwas, das feierlich am Ende als "die Wahrheit" getauft wird. Der Grundglaube der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegens?tze der Werthe. Es ist auch den Vorsichtigsten unter ihnen nicht eingefallen, hier an der Schwelle bereits zu zweifeln, wo es doch am n?thigsten war: selbst wenn sie sich gelobt hatten "de omnibus dubitandum". Man darf n?mlich zweifeln, erstens, ob es Gegens?tze ?berhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksth?mlichen Werthsch?tzungen und Werth-Gegens?tze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedr?ckt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Sch?tzungen sind, nur vorl?ufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, Frosch-Perspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern gel?ufig ist? Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen zukommen mag: es w?re m?glich, dass dem Scheine, dem Willen zur T?uschung, dem Eigennutz und der Begierde ein f?r alles Leben h?herer und grunds?tzlicherer Werth zugeschrieben werden m?sste. Es w?re sogar noch m?glich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin best?nde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verf?ngliche Weise verwandt, verkn?pft, verh?kelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht! - Aber wer ist Willens, sich um solche gef?hrliche Vielleichts zu k?mmern! Man muss dazu schon die Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen abwarten, solcher, die irgend welchen anderen umgekehrten Geschmack und Hang haben als die bisherigen, - Philosophen des gef?hrlichen Vielleicht in jedem Verstande. - Und allen Ernstes gesprochen: ich sehe solche neue Philosophen heraufkommen.

Nachdem ich lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf die Finger gesehn habe, sage ich mir: man muss noch den gr?ssten Theil des bewussten Denkens unter die Instinkt-Th?tigkeiten rechnen, und sogar im Falle des philosophischen Denkens; man muss hier umlernen, wie man in Betreff der Vererbung und des "Angeborenen" umgelernt hat. So wenig der Akt der Geburt in dem ganzen Vor- und Fortgange der Vererbung in Betracht kommt: ebenso wenig ist "Bewusstsein" in irgend einem entscheidenden Sinne dem Instinktiven entgegengesetzt, - das meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich gef?hrt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Auch hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Werthsch?tzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben. Zum Beispiel, dass das Bestimmte mehr werth sei als das Unbestimmte, der Schein weniger werth als die "Wahrheit": dergleichen Sch?tzungen k?nnten, bei aller ihrer regulativen Wichtigkeit f?r uns, doch nur Vordergrunds-Sch?tzungen sein, eine bestimmte Art von niaiserie, wie sie gerade zur Erhaltung von Wesen, wie wir sind, noth thun mag. Gesetzt n?mlich, dass nicht gerade der Mensch das "Maass der Dinge" ist.....

Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenf?rdernd, lebenerhaltend, Arterhaltend, vielleicht gar Art-z?chtend ist; und wir sind grunds?tzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urtheile uns die unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine best?ndige F?lschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben k?nnte, - dass Verzichtleisten auf falsche Urtheile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens w?re. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst freilich auf eine gef?hrliche Weise den gewohnten Werthgef?hlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und B?se.

Was dazu reizt, auf alle Philosophen halb misstrauisch, halb sp?ttisch zu blicken, ist nicht, dass man wieder und wieder dahinter kommt, wie unschuldig sie sind - wie oft und wie leicht sie sich vergreifen und verirren, kurz ihre Kinderei und Kindlichkeit - sondern dass es bei ihnen nicht redlich genug zugeht: w?hrend sie allesammt einen grossen und tugendhaften L?rm machen, sobald das Problem der Wahrhaftigkeit auch nur von ferne anger?hrt wird. Sie stellen sich s?mmtlich, als ob sie ihre eigentlichen Meinungen durch die Selbstentwicklung einer kalten, reinen, g?ttlich unbek?mmerten Dialektik entdeckt und erreicht h?tten : w?hrend im Grunde ein vorweggenommener Satz, ein Einfall, eine "Eingebung", zumeist ein abstrakt gemachter und durchgesiebter Herzenswunsch von ihnen mit hinterher gesuchten Gr?nden vertheidigt wird: - sie sind allesammt Advokaten, welche es nicht heissen wollen, und zwar zumeist sogar verschmitzte F?rsprecher ihrer Vorurtheile, die sie "Wahrheiten" taufen - und sehr ferne von der Tapferkeit des Gewissens, das sich dies, eben dies eingesteht, sehr ferne von dem guten Geschmack der Tapferkeit, welche dies auch zu verstehen giebt, sei es um einen Feind oder Freund zu warnen, sei es aus ?bermuth und um ihrer selbst zu spotten. Die ebenso steife als sittsame Tart?fferie des alten Kant, mit der er uns auf die dialektischen Schleichwege lockt, welche zu seinem "kategorischen Imperativ" f?hren, richtiger verf?hren - dies Schauspiel macht uns Verw?hnte l?cheln, die wir keine kleine Belustigung darin finden, den feinen T?cken alter Moralisten und Moralprediger auf die Finger zu sehn. Oder gar jener Hocuspocus von mathematischer Form, mit der Spinoza seine Philosophie - "die Liebe zu seiner Weisheit" zuletzt, das Wort richtig und billig ausgelegt - wie in Erz panzerte und maskirte, um damit von vornherein den Muth des Angreifenden einzusch?chtern, der auf diese un?berwindliche Jungfrau und Pallas Athene den Blick zu werfen wagen w?rde: - wie viel eigne Sch?chternheit und Angreifbarkeit verr?th diese Maskerade eines einsiedlerischen Kranken!

Allm?hlich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: n?mlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter m?moires; insgleichen, dass die moralischen Absichten in jeder Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze gewachsen ist. In der That, man thut gut , zur Erkl?rung davon, wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen eines Philosophen zu Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen: auf welche Moral will es hinaus? Ich glaube demgem?ss nicht, dass ein "Trieb zur Erkenntniss" der Vater der Philosophie ist, sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntniss nur wie eines Werkzeugs bedient hat. Wer aber die Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht, wie weit sie gerade hier als inspirirende Genien ihr Spiel getrieben haben m?gen, wird finden, dass sie Alle schon einmal Philosophie getrieben haben, - und dass jeder Einzelne von ihnen gerade sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als berechtigten Herrn aller ?brigen Triebe darstellen m?chte. Denn jeder Trieb ist herrschs?chtig: und als solcher versucht er zu philosophiren. - Freilich: bei den Gelehrten, den eigentlich wissenschaftlichen Menschen, mag es anders stehn - "besser", wenn man will -, da mag es wirklich so Etwas wie einen Erkenntnisstrieb geben, irgend ein kleines unabh?ngiges Uhrwerk, welches, gut aufgezogen, tapfer darauf los arbeitet, ohne dass die gesammten ?brigen Triebe des Gelehrten wesentlich dabei betheiligt sind. Die eigentlichen "Interessen" des Gelehrten liegen deshalb gew?hnlich ganz wo anders, etwa in der Familie oder im Gelderwerb oder in der Politik; ja es ist beinahe gleichg?ltig, ob seine kleine Maschine an diese oder jene Stelle der Wissenschaft gestellt wird, und ob der "hoffnungsvolle" junge Arbeiter aus sich einen guten Philologen oder Pilzekenner oder Chemiker macht: - es bezeichnet ihn nicht, dass er dies oder jenes wird. Umgekehrt ist an dem Philosophen ganz und gar nichts Unpers?nliches; und insbesondere giebt seine Moral ein entschiedenes und entscheidendes Zeugniss daf?r ab, wer er ist - das heisst, in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind.

Wie boshaft Philosophen sein k?nnen! Ich kenne nichts Giftigeres als den Scherz, den sich Epicur gegen Plato und die Platoniker erlaubte: er nannte sie Dionysiokolakes. Das bedeutet dem Wortlaute nach und im Vordergrunde "Schmeichler des Dionysios", also Tyrannen-Zubeh?r und Speichellecker; zu alledem will es aber noch sagen "das sind Alles Schauspieler, daran ist nichts ?chtes" . Und das Letztere ist eigentlich die Bosheit, welche Epicur gegen Plato abschoss: ihn verdross die grossartige Manier, das Sich-in-Scene-Setzen, worauf sich Plato sammt seinen Sch?lern verstand, - worauf sich Epicur nicht verstand! er, der alte Schulmeister von Samos, der in seinem G?rtchen zu Athen versteckt sass und dreihundert B?cher schrieb, wer weiss? vielleicht aus Wuth und Ehrgeiz gegen Plato? - Es brauchte hundert Jahre, bis Griechenland dahinter kam, wer dieser Gartengott Epicur gewesen war. - Kam es dahinter? -

In jeder Philosophie giebt es einen Punkt, wo die "?berzeugung" des Philosophen auf die B?hne tritt: oder, um es in der Sprache eines alten Mysteriums zu sagen:

adventavit asinus pulcher et fortissimus.

"Gem?ss der Natur" wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betr?gerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maass, gleichg?ltig ohne Maass, ohne Absichten und R?cksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und ?de und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht - wie k?nntet ihr gem?ss dieser Indifferenz leben? Leben - ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist? Ist Leben nicht Absch?tzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ "gem?ss der Natur leben" bedeute im Grunde soviel als "gem?ss dem Leben leben" - wie k?nntet ihr's denn nicht? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr selbst seid und sein m?sst? - In Wahrheit steht es ganz anders: indem ihr entz?ckt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und Selbst-Betr?ger! Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt, dass sie "der Stoa gem?ss" Natur sei und m?chtet alles Dasein nur nach eurem eignen Bilde dasein machen - als eine ungeheure ewige Verherrlichung und Verallgemeinerung des Stoicismus! Mit aller eurer Liebe zur Wahrheit zwingt ihr euch so lange, so beharrlich, so hypnotisch-starr, die Natur falsch, n?mlich stoisch zu sehn, bis ihr sie nicht mehr anders zu sehen verm?gt, - und irgend ein abgr?ndlicher Hochmuth giebt euch zuletzt noch die Tollh?usler-Hoffnung ein, dass, weil ihr euch selbst zu tyrannisiren versteht - Stoicismus ist Selbst-Tyrannei -, auch die Natur sich tyrannisiren l?sst: ist denn der Stoiker nicht ein St?ck Natur? Aber dies ist eine alte ewige Geschichte: was sich damals mit den Stoikern begab, begiebt sich heute noch, sobald nur eine Philosophie anf?ngt, an sich selbst zu glauben. Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur "Schaffung der Welt", zur causa prima.

Der Eifer und die Feinheit, ich m?chte sogar sagen: Schlauheit, mit denen man heute ?berall in Europa dem Probleme "von der wirklichen und der scheinbaren Welt" auf den Leib r?ckt, giebt zu denken und zu horchen; und wer hier im Hintergrunde nur einen "Willen zur Wahrheit" und nichts weiter h?rt, erfreut sich gewiss nicht der sch?rfsten Ohren. In einzelnen und seltenen F?llen mag wirklich ein solcher Wille zur Wahrheit, irgend ein ausschweifender und abenteuernder Muth, ein Metaphysiker-Ehrgeiz des verlornen Postens dabei betheiligt sein, der zuletzt eine Handvoll "Gewissheit" immer noch einem ganzen Wagen voll sch?ner M?glichkeiten vorzieht; es mag sogar puritanische Fanatiker des Gewissens geben, welche lieber noch sich auf ein sicheres Nichts als auf ein ungewisses Etwas sterben legen. Aber dies ist Nihilismus und Anzeichen einer verzweifelnden sterbensm?den Seele: wie tapfer auch die Geb?rden einer solchen Tugend sich ausnehmen m?gen. Bei den st?rkeren, lebensvolleren, nach Leben noch durstigen Denkern scheint es aber anders zu stehen: indem sie Partei gegen den Schein nehmen und das Wort "perspektivisch" bereits mit Hochmuth aussprechen, indem sie die Glaubw?rdigkeit ihres eigenen Leibes ungef?hr so gering anschlagen wie die Glaubw?rdigkeit des Augenscheins, welcher sagt "die Erde steht still", und dermaassen anscheinend gut gelaunt den sichersten Besitz aus den H?nden lassen wer weiss, ob sie nicht im Grunde Etwas zur?ckerobern wollen, das man ehemals noch sicherer besessen hat, irgend Etwas vom alten Grundbesitz des Glaubens von Ehedem, vielleicht "die unsterbliche Seele", vielleicht "den alten Gott", kurz, Ideen, auf welchen sich besser, n?mlich kr?ftiger und heiterer leben liess als auf den "modernen Ideen"? Es ist Misstrauen gegen diese modernen Ideen darin, es ist Unglauben an alles Das, was gestern und heute gebaut worden ist; es ist vielleicht ein leichter ?berdruss und Hohn eingemischt, der das bric-?-brac von Begriffen verschiedenster Abkunft nicht mehr aush?lt, als welches sich heute der sogenannte Positivismus auf den Markt bringt, ein Ekel des verw?hnteren Geschmacks vor der Jahrmarkts-Buntheit und Lappenhaftigkeit aller dieser Wirklichkeits-Philosophaster, an denen nichts neu und ?cht ist als diese Buntheit. Man soll darin, wie mich d?nkt, diesen skeptischen Anti-Wirklichen und Erkenntniss-Mikroskopikern von heute Recht geben: ihr Instinkt, welcher sie aus der modernen Wirklichkeit hinwegtreibt, ist unwiderlegt, - was gehen uns ihre r?ckl?ufigen Schleichwege an! Das Wesentliche an ihnen ist nicht, dass sie "zur?ck" wollen: sondern, dass sie - weg wollen. Etwas Kraft, Flug, Muth, K?nstlerschaft mehr und sie w?rden hinaus wollen, - und nicht zur?ck! -

Es scheint mir, dass man jetzt ?berall bem?ht ist, von dem eigentlichen Einflusse, den Kant auf die deutsche Philosophie ausge?bt hat, den Blick abzulenken und namentlich ?ber den Werth, den er sich selbst zugestand, kl?glich hinwegzuschl?pfen. Kant war vor Allem und zuerst stolz auf seine Kategorientafel, er sagte mit dieser Tafel in den H?nden: "das ist das Schwerste, was jemals zum Behufe der Metaphysik unternommen werden konnte". - Man verstehe doch dies "werden konnte"! er war stolz darauf, im Menschen ein neues Verm?gen, das Verm?gen zu synthetischen Urteilen a priori, entdeckt zu haben. Gesetzt, dass er sich hierin selbst betrog: aber die Entwicklung und rasche Bl?the der deutschen Philosophie h?ngt an diesem Stolze und an dem Wetteifer aller J?ngeren, wom?glich noch Stolzeres zu entdecken - und jedenfalls "neue Verm?gen"! - Aber besinnen wir uns: es ist an der Zeit. Wie sind synthetische Urtheile a priori m?glich? fragte sich Kant, - und was antwortete er eigentlich? Verm?ge eines Verm?gens: leider aber nicht mit drei Worten, sondern so umst?ndlich, ehrw?rdig und mit einem solchen Aufwande von deutschem Tief- und Schn?rkelsinne, dass man die lustige niaiserie allemande ?berh?rte, welche in einer solchen Antwort steckt. Man war sogar ausser sich ?ber dieses neue Verm?gen, und der Jubel kam auf seine H?he, als Kant auch noch ein moralisches Verm?gen im Menschen hinzu entdeckte: - denn damals waren die Deutschen noch moralisch, und ganz und gar noch nicht "real-politisch". - Es kam der Honigmond der deutschen Philosophie; alle jungen Theologen des T?binger Stifts giengen alsbald in die B?sche, - alle suchten nach "Verm?gen". Und was fand man nicht Alles - in jener unschuldigen, reichen, noch jugendlichen Zeit des deutschen Geistes, in welche die Romantik, die boshafte Fee, hineinblies, hineinsang, damals, als man "finden" und "erfinden" noch nicht auseinander zu halten wusste! Vor Allem ein Verm?gen f?r's "?bersinnliche": Schelling taufte es die intellektuale Anschauung und kam damit den herzlichsten Gel?sten seiner im Grunde frommgel?steten Deutschen entgegen. Man kann dieser ganzen ?berm?thigen und schw?rmerischen Bewegung, welche Jugend war, so k?hn sie sich auch in graue und greisenhafte Begriffe verkleidete, gar nicht mehr Unrecht thun, als wenn man sie ernst nimmt und gar etwa mit moralischer Entr?stung behandelt; genug, man wurde ?lter, - der Traum verflog. Es kam eine Zeit, wo man sich die Stirne rieb: man reibt sie sich heute noch. Man hatte getr?umt: voran und zuerst - der alte Kant. "Verm?ge eines Verm?gens" - hatte er gesagt, mindestens gemeint. Aber ist denn das - eine Antwort? Eine Erkl?rung? Oder nicht vielmehr nur eine Wiederholung der Frage? Wie macht doch das Opium schlafen? "Verm?ge eines Verm?gens", n?mlich der virtus dormitiva - antwortet jener Arzt bei Moli?re,

quia est in eo virtus dormitiva, cujus est natura sensus assoupire.

Aber dergleichen Antworten geh?ren in die Kom?die, und es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage "Wie sind synthetische Urtheile a priori m?glich?" durch eine andre Frage zu ersetzen "warum ist der Glaube an solche Urtheile n?thig?" - n?mlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr geglaubt werden m?ssen; weshalb sie nat?rlich noch falsche Urtheile sein k?nnten! Oder, deutlicher geredet und grob und gr?ndlich: synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht "m?glich sein": wir haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche Urtheile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit n?thig, als ein Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik des Lebens geh?rt. - Um zuletzt noch der ungeheuren Wirkung zu gedenken, welche "die deutsche Philosophie" - man versteht, wie ich hoffe, ihr Anrecht auf G?nsef?sschen? - in ganz Europa ausge?bt hat, so zweifle man nicht, dass eine gewisse virtus dormitiva dabei betheiligt war: man war entz?ckt, unter edlen M?ssigg?ngern, Tugendhaften, Mystikern, K?nstlern, Dreiviertels-Christen und politischen Dunkelm?nnern aller Nationen, Dank der deutschen Philosophie, ein Gegengift gegen den noch ?berm?chtigen Sensualismus zu haben, der vom vorigen Jahrhundert in dieses hin?berstr?mte, kurz -"sensus assoupire".......

Was die materialistische Atomistik betrifft: so geh?rt dieselbe zu den bestwiderlegten Dingen, die es giebt; und vielleicht ist heute in Europa Niemand unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr ausser zum bequemen Hand- und Hausgebrauch noch eine ernstliche Bedeutung zuzumessen - Dank vorerst jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Kopernicus, bisher der gr?sste und siegreichste Gegner des Augenscheins war. W?hrend n?mlich Kopernicus uns ?berredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dass die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte, was von der Erde "feststand", abschw?ren, dem Glauben an den "Stoff", an die "Materie", an das Erdenrest- und Kl?mpchen-Atom: es war der gr?sste Triumph ?ber die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden ist. - Man muss aber noch weiter gehn und auch dem "atomistischen Bed?rfnisse", das immer noch ein gef?hrliches Nachleben f?hrt, auf Gebieten, wo es Niemand ahnt, gleich jenem ber?hmteren "metaphysischen Bed?rfnisse" - den Krieg erkl?ren, einen schonungslosen Krieg auf's Messer: - man muss zun?chst auch jener anderen und verh?ngnissvolleren Atomistik den Garaus machen, welche das Christenthum am besten und l?ngsten gelehrt hat, der Seelen-Atomistik. Mit diesem Wort sei es erlaubt, jenen Glauben zu bezeichnen, der die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges, Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon nimmt: diesen Glauben soll man aus der Wissenschaft hinausschaffen! Es ist, unter uns gesagt, ganz und gar nicht n?thig, "die Seele" selbst dabei los zu werden und auf eine der ?ltesten und ehrw?rdigsten Hypothesen Verzicht zu leisten: wie es dem Ungeschick der Naturalisten zu begegnen pflegt, welche, kaum dass sie an "die Seele" r?hren, sie auch verlieren. Aber der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese steht offen: und Begriffe wie "sterbliche Seele" und "Seele als Subjekts-Vielheit" und "Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte" wollen f?rderhin in der Wissenschaft B?rgerrecht haben. Indem der neue Psycholog dem Aberglauben ein Ende bereitet, der bisher um die Seelen-Vorstellung mit einer fast tropischen ?ppigkeit wucherte, hat er sich freilich selbst gleichsam in eine neue ?de und ein neues Misstrauen hinaus gestossen - es mag sein, dass die ?lteren Psychologen es bequemer und lustiger hatten -: zuletzt aber weiss er sich eben damit auch zum Erfinden verurtheilt - und, wer weiss? vielleicht zum Finden. -

Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen - Leben selbst ist Wille zur Macht -: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und h?ufigsten Folgen davon. - Kurz, hier wie ?berall, Vorsicht vor ?berfl?ssigen teleologischen Principien! - wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb ist . So n?mlich gebietet es die Methode, die wesentlich Principien-Sparsamkeit sein muss.

Es d?mmert jetzt vielleicht in f?nf, sechs K?pfen, dass Physik auch nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung und nicht eine Welt-Erkl?rung ist: aber, insofern sie sich auf den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muss auf lange hinaus noch als mehr, n?mlich als Erkl?rung gelten. Sie hat Augen und Finger f?r sich, sie hat den Augenschein und die Handgreiflichkeit f?r sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack bezaubernd, ?berredend, ?berzeugend, - es folgt ja instinktiv dem Wahrheits-Kanon des ewig volksth?mlichen Sensualismus. Was ist klar, was "erkl?rt"? Erst Das, was sich sehen und tasten l?sst, - bis so weit muss man jedes Problem treiben. Umgekehrt: genau im Widerstreben gegen die Sinnenf?lligkeit bestand der Zauber der platonischen Denkweise, welche eine vornehme Denkweise war, - vielleicht unter Menschen, die sich sogar st?rkerer und anspruchsvollerer Sinne erfreuten, als unsre Zeitgenossen sie haben, aber welche einen h?heren Triumph darin zu finden wussten, ?ber diese Sinne Herr zu bleiben: und dies mittels blasser kalter grauer Begriffs-Netze, die sie ?ber den bunten Sinnen-Wirbel - den Sinnen-P?bel, wie Plato sagte - warfen. Es war eine andre Art Genuss in dieser Welt-?berw?ltigung und Welt-Auslegung nach der Manier des Plato, als der es ist, welchen uns die Physiker von Heute anbieten, insgleichen die Darwinisten und Antitheologen unter den physiologischen Arbeitern, mit ihrem Princip der "kleinstm?glichen Kraft" und der gr?sstm?glichen Dummheit. "Wo der Mensch nichts mehr zu sehen und zu greifen hat, da hat er auch nichts mehr zu suchen" - das ist freilich ein anderer Imperativ als der Platonische, welcher aber doch f?r ein derbes arbeitsames Geschlecht von Maschinisten und Br?ckenbauern der Zukunft, die lauter grobe Arbeit abzuthun haben, gerade der rechte Imperativ sein mag.

Um Physiologie mit gutem Gewissen zu treiben, muss man darauf halten, dass die Sinnesorgane nicht Erscheinungen sind im Sinne der idealistischen Philosophie: als solche k?nnten sie ja keine Ursachen sein! Sensualismus mindestens somit als regulative Hypothese, um nicht zu sagen als heuristisches Princip. - Wie? und Andere sagen gar, die Aussenwelt w?re das Werk unsrer Organe? Aber dann w?re ja unser Leib, als ein St?ck dieser Aussenwelt, das Werk unsrer Organe! Aber dann w?ren ja unsre Organe selbst - das Werk unsrer Organe! Dies ist, wie mir scheint, eine gr?ndliche reductio ad absurdum: gesetzt, dass der Begriff causa sui etwas gr?ndlich Absurdes ist. Folglich ist die Aussenwelt nicht das Werk unsrer Organe -?

Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es "unmittelbare Gewissheiten" gebe, zum Beispiel "ich denke", oder, wie es der Aberglaube Schopenhauer's war, "ich will": gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bek?me, als "Ding an sich", und weder von Seiten des Subjekts, noch von Seiten des Objekts eine F?lschung stattf?nde. Dass aber "unmittelbare Gewissheit", ebenso wie "absolute Erkenntniss" und "Ding an sich", eine contradictio in adjecto in sich schliesst, werde ich hundertmal wiederholen: man sollte sich doch endlich von der Verf?hrung der Worte losmachen! Mag das Volk glauben, dass Erkennen ein zu Ende-Kennen sei, der Philosoph muss sich sagen: "wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz `ich denke` ausgedr?ckt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren Begr?ndung schwer, vielleicht unm?glich ist, - zum Beispiel, dass ich es bin, der denkt, dass ?berhaupt ein Etwas es sein muss, das denkt, dass Denken eine Th?tigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, dass es ein `Ich` giebt, endlich, dass es bereits fest steht, was mit Denken zu bezeichnen ist, - dass ich weiss, was Denken ist. Denn wenn ich nicht dar?ber mich schon bei mir entschieden h?tte, wonach sollte ich abmessen, dass, was eben geschieht, nicht vielleicht `Wollen` oder `F?hlen` sei? Genug, jenes `ich denke` setzt voraus, dass ich meinen augenblicklichen Zustand mit anderen Zust?nden, die ich an mir kenne, vergleiche, um so festzusetzen, was er ist: wegen dieser R?ckbeziehung auf anderweitiges `Wissen` hat er f?r mich jedenfalls keine unmittelbare `Gewissheit`." - An Stelle jener "unmittelbaren Gewissheit", an welche das Volk im gegebenen Falle glauben mag, bekommt dergestalt der Philosoph eine Reihe von Fragen der Metaphysik in die Hand, recht eigentliche Gewissensfragen des Intellekts, welche heissen: "Woher nehme ich den Begriff Denken? Warum glaube ich an Ursache und Wirkung? Was giebt mir das Recht, von einem Ich, und gar von einem Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als Gedanken-Ursache zu reden?" Wer sich mit der Berufung auf eine Art Intuition der Erkenntniss getraut, jene metaphysischen Fragen sofort zu beantworten, wie es Der thut, welcher sagt: "ich, denke, und weiss, dass dies wenigstens wahr, wirklich, gewiss ist" - der wird bei einem Philosophen heute ein L?cheln und zwei Fragezeichen bereit finden. "Mein Herr, wird der Philosoph vielleicht ihm zu verstehen geben, es ist unwahrscheinlich, dass Sie sich nicht irren: aber warum auch durchaus Wahrheit?" -

Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht m?de werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergl?ubischen ungern zugestanden wird, - n?mlich, dass ein Gedanke kommt, wenn "er" will, und nicht wenn "ich" will; so dass es eine F?lschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt "ich" ist die Bedingung des Pr?dikats "denke". Es denkt: aber dass dies "es" gerade jenes alte ber?hmte "Ich" sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine "unmittelbare Gewissheit". Zuletzt ist schon mit diesem "es denkt" zu viel gethan: schon dies "es" enth?lt eine Auslegung des Vorgangs und geh?rt nicht zum Vorgange selbst. Man schliesst hier nach der grammatischen Gewohnheit "Denken ist eine Th?tigkeit, zu jeder Th?tigkeit geh?rt Einer, der th?tig ist, folglich -". Ungef?hr nach dem gleichen Schema suchte die ?ltere Atomistik zu der "Kraft", die wirkt, noch jenes Kl?mpchen Materie, worin sie sitzt, aus der heraus sie wirkt, das Atom; strengere K?pfe lernten endlich ohne diesen "Erdenrest" auskommen, und vielleicht gew?hnt man sich eines Tages noch daran, auch seitens der Logiker ohne jenes kleine "es" auszukommen.

An einer Theorie ist wahrhaftig nicht ihr geringster Reiz, dass sie widerlegbar ist: gerade damit zieht sie feinere K?pfe an. Es scheint, dass die hundertfach widerlegte Theorie vom "freien Willen" ihre Fortdauer nur noch diesem Reize verdankt -: immer wieder kommt jemand und f?hlt sich stark genug, sie zu widerlegen.

Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die bekannteste Sache von der Welt sei; ja Schopenhauer gab zu verstehen, der Wille allein sei uns eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt, ohne Abzug und Zuthat bekannt. Aber es d?nkt mich immer wieder, dass Schopenhauer auch in diesem Falle nur gethan hat, was Philosophen eben zu thun pflegen: dass er ein Volks-Vorurtheil ?bernommen und ?bertrieben hat. Wollen scheint mir vor Allem etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist, - und eben im Einen Worte steckt das Volks-Vorurtheil, das ?ber die allzeit nur geringe Vorsicht der Philosophen Herr geworden ist. Seien wir also einmal vorsichtiger, seien wir "unphilosophisch" -, sagen wir: in jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gef?hlen, n?mlich das Gef?hl des Zustandes, von dem weg, das Gef?hl des Zustandes, zu dem hin, das Gef?hl von diesem "weg" und "hin" selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgef?hl, welches, auch ohne dass wir "Arme und Beine" in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir "wollen", sein Spiel beginnt. Wie also F?hlen und zwar vielerlei F?hlen als Ingredienz des Willens anzuerkennen ist, so zweitens auch noch Denken: in jedem Willensakte giebt es einen commandirenden Gedanken; - und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem "Wollen" abscheiden zu k?nnen, wie als ob dann noch Wille ?brig bliebe! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von F?hlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener Affekt des Commando's. Das, was "Freiheit des Willens" genannt wird, ist wesentlich der ?berlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss: "ich bin frei, "er" muss gehorchen" - dies Bewusstsein steckt in jedem Willen, und ebenso jene Spannung der Aufmerksamkeit, jener gerade Blick, der ausschliesslich Eins fixirt, jene unbedingte Werthsch?tzung "jetzt thut dies und nichts Anderes Noth", jene innere Gewissheit dar?ber, dass gehorcht werden wird, und was Alles noch zum Zustande des Befehlenden geh?rt. Ein Mensch, der will -, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht. Nun aber beachte man, was das Wunderlichste am Willen ist, - an diesem so vielfachen Dinge, f?r welches das Volk nur Ein Wort hat: insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden und Gehorchenden sind, und als Gehorchende die Gef?hle des Zwingens, Dr?ngens, Dr?ckens, Widerstehens, Bewegens kennen, welche sofort nach dem Akte des Willens zu beginnen pflegen; insofern wir andererseits die Gewohnheit haben, uns ?ber diese Zweiheit verm?ge des synthetischen Begriffs "ich" hinwegzusetzen, hinwegzut?uschen, hat sich an das Wollen noch eine ganze Kette von irrth?mlichen Schl?ssen und folglich von falschen Werthsch?tzungen des Willens selbst angeh?ngt, - dergestalt, dass der Wollende mit gutem Glauben glaubt, Wollen gen?ge zur Aktion. Weil in den allermeisten F?llen nur gewollt worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte, so hat sich der Anschein in das Gef?hl ?bersetzt, als ob es da eine Nothwendigkeit von Wirkung g?be; genug, der Wollende glaubt, mit einem ziemlichen Grad von Sicherheit, dass Wille und Aktion irgendwie Eins seien -, er rechnet das Gelingen, die Ausf?hrung des Wollens noch dem Willen selbst zu und geniesst dabei einen Zuwachs jenes Machtgef?hls, welches alles Gelingen mit sich bringt. "Freiheit des Willens" - das ist das Wort f?r jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausf?hrenden als Eins setzt, - der als solcher den Triumph ?ber Widerst?nde mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerst?nde ?berwinde. Der Wollende nimmt dergestalt die Lustgef?hle der ausf?hrenden, erfolgreichen Werkzeuge, der dienstbaren "Unterwillen" oder Unter-Seelen - unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen - zu seinem Lustgef?hle als Befehlender hinzu. L'effet c'est moi: es begiebt sich hier, was sich in jedem gut gebauten und gl?cklichen Gemeinwesen begiebt, dass die regierende Klasse sich mit den Erfolgen des Gemeinwesens identificirt. Bei allem Wollen handelt es sich schlechterdings um Befehlen und Gehorchen, auf der Grundlage, wie gesagt, eines Gesellschaftsbaus vieler "Seelen": weshalb ein Philosoph sich das Recht nehmen sollte, Wollen an sich schon unter den Gesichtskreis der Moral zu fassen: Moral n?mlich als Lehre von den Herrschafts-Verh?ltnissen verstanden, unter denen das Ph?nomen "Leben" entsteht. -

Dass die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts F?r-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zu einander emporwachsen, dass sie, so pl?tzlich und willk?rlich sie auch in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch eben so gut einem Systeme angeh?ren als die s?mmtlichen Glieder der Fauna eines Erdtheils: das verr?th sich zuletzt noch darin, wie sicher die verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von m?glichen Philosophien immer wieder ausf?llen. Unter einem unsichtbaren Banne laufen sie immer von Neuem noch einmal die selbe Kreisbahn: sie m?gen sich noch so unabh?ngig von einander mit ihrem kritischen oder systematischen Willen f?hlen: irgend Etwas in ihnen f?hrt sie, irgend Etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hinter einander her, eben jene eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken ist in der That viel weniger ein Entdecken, als ein Wiedererkennen, Wiedererinnern, eine R?ck- und Heimkehr in einen fernen uralten Gesammt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind: - Philosophiren ist insofern eine Art von Atavismus h?chsten Ranges. Die wunderliche Familien-Ahnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophirens erkl?rt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik - ich meine Dank der unbewussten Herrschaft und F?hrung durch gleiche grammatische Funktionen - von vornherein Alles f?r eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern M?glichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs werden mit grosser Wahrscheinlichkeit anders "in die Welt" blicken und auf andern Pfaden zu finden sein, als Indogermanen oder Muselm?nner: der Bann bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann physiologischer Werthurtheile und Rasse-Bedingungen. - So viel zur Zur?ckweisung von Locke's Oberfl?chlichkeit in Bezug auf die Herkunft der Ideen.

Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine Art logischer Nothzucht und Unnatur: aber der ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken. Das Verlangen nach "Freiheit des Willens", in jenem metaphysischen Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den K?pfen der Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte Verantwortlichkeit f?r seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist n?mlich nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr als M?nchhausen'schen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren in's Dasein zu ziehn. Gesetzt, Jemand kommt dergestalt hinter die b?urische Einfalt dieses ber?hmten Begriffs "freier Wille" und streicht ihn aus seinem Kopfe, so bitte ich ihn nunmehr, seine "Aufkl?rung" noch um einen Schritt weiter zu treiben und auch die Umkehrung jenes Unbegriffs "freier Wille" aus seinem Kopfe zu streichen: ich meine den "unfreien Willen", der auf einen Missbrauch von Ursache und Wirkung hinausl?uft. Man soll nicht "Ursache" und "Wirkung" fehlerhaft verdinglichen, wie es die Naturforscher thun gem?ss der herrschenden mechanistischen T?lpelei, welche die Ursache dr?cken und stossen l?sst, bis sie "Wirkt"; man soll sich der "Ursache", der "Wirkung" eben nur als reiner Begriffe bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verst?ndigung, nicht der Erkl?rung. Im "An-sich" giebt es nichts von "Causal-Verb?nden", von "Nothwendigkeit", von "psychologischer Unfreiheit", da folgt nicht "die Wirkung auf die Ursache", das regiert kein "Gesetz". Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das F?r-einander, die Relativit?t, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wenn wir diese Zeichen-Welt als "an sich" in die Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, n?mlich mythologisch. Der "unfreie Wille" ist Mythologie: im wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und schwachen Willen. - Es ist fast immer schon ein Symptom davon, wo es bei ihm selber mangelt, wenn ein Denker bereits in aller "Causal-Verkn?pfung" und "psychologischer Nothwendigkeit" etwas von Zwang, Noth, Folgen-M?ssen, Druck, Unfreiheit herausf?hlt: es ist verr?therisch, gerade so zu f?hlen, - die Person verr?th sich. Und ?berhaupt wird, wenn ich recht beobachtet habe, von zwei ganz entgegengesetzten Seiten aus, aber immer auf eine tief pers?nliche Weise die "Unfreiheit des Willens" als Problem gefasst: die Einen wollen um keinen Preis ihre "Verantwortlichkeit", den Glauben an sich, das pers?nliche Anrecht auf ihr Verdienst fahren lassen ; die Anderen wollen umgekehrt nichts verantworten, an nichts schuld sein und verlangen, aus einer innerlichen Selbst-Verachtung heraus, sich selbst irgend wohin abw?lzen zu k?nnen. Diese Letzteren pflegen sich, wenn sie B?cher schreiben, heute der Verbrecher anzunehmen; eine Art von socialistischem Mitleiden ist ihre gef?lligste Verkleidung. Und in der That, der Fatalismus der Willensschwachen versch?nert sich erstaunlich, wenn er sich als "la religion de la souffrance humaine" einzuf?hren versteht: es ist sein "guter Geschmack".

Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-K?nste den Finger zu legen - aber jene "Gesetzm?ssigkeit der Natur", von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob - - besteht nur Dank eurer Ausdeutung und schlechten "Philologie", - sie ist kein Thatbestand, kein "Text", vielmehr nur eine naiv-humanit?re Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam entgegenkommt! "?berall Gleichheit vor dem Gesetz, - die Natur hat es darin nicht anders und nicht besser als wir": ein artiger Hintergedanke, in dem noch einmal die p?belm?nnische Feindschaft gegen alles Bevorrechtete und Selbstherrliche, insgleichen ein zweiter und feinerer Atheismus verkleidet liegt. "Ni dieu, ni ma?tre" - so wollt auch ihr's.- und darum "hoch das Naturgesetz"! - nicht wahr? Aber, wie gesagt, das ist Interpretation, nicht Text; und es k?nnte Jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-r?cksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtanspr?chen herauszulesen verst?nde, - ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem "Willen zur Macht" dermaassen euch vor Augen stellte, dass fast jedes Wort und selbst das Wort "Tyrannei" schliesslich unbrauchbar oder schon als schw?chende und mildernde Metapher - als zu menschlich - erschiene; und der dennoch damit endete, das Gleiche von dieser Welt zu behaupten, was ihr behauptet, n?mlich dass sie einen "nothwendigen" und "berechenbaren" Verlauf habe, aber nicht, weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht. Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist - und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? - nun, um so besser. -

Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und Bef?rchtungen h?ngen geblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. Dieselbe als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht zufassen, wie ich sie fasse - daran hat noch Niemand in seinen Gedanken selbst gestreift: sofern es n?mlich erlaubt ist, in dem, was bisher geschrieben wurde, ein Symptom von dem, was bisher verschwiegen wurde, zu erkennen. Die Gewalt der moralischen Vorurtheile ist tief in die geistigste, in die anscheinend k?lteste und voraussetzungsloseste Welt gedrungen - und, wie es sich von selbst versteht, sch?digend, hemmend, blendend, verdrehend. Eine eigentliche Physio-Psychologie hat mit unbewussten Widerst?nden im Herzen des Forschers zu k?mpfen, sie hat "das Herz" gegen sich: schon eine Lehre von der gegenseitigen Bedingtheit der "guten" und der "schlimmen" Triebe, macht, als feinere Immoralit?t, einem noch kr?ftigen und herzhaften Gewissen Noth und ?berdruss, - noch mehr eine Lehre von der Ableitbarkeit aller guten Triebe aus den schlimmen. Gesetzt aber, Jemand nimmt gar die Affekte Hass, Neid, Habsucht, Herrschsucht als lebenbedingende Affekte, als Etwas, das im Gesammt-Haushalte des Lebens grunds?tzlich und grundwesentlich vorhanden sein muss, folglich noch gesteigert werden muss, falls das Leben noch gesteigert werden soll, - der leidet an einer solchen Richtung seines Urtheils wie an einer Seekrankheit. Und doch ist auch diese Hypothese bei weitem nicht die peinlichste und fremdeste in diesem ungeheuren fast noch neuen Reiche gef?hrlicher Erkenntnisse: - und es giebt in der That hundert gute Gr?nde daf?r, dass Jeder von ihm fernbleibt, der es - kann! Andrerseits: ist man einmal mit seinem Schiffe hierhin verschlagen, nun! wohlan! jetzt t?chtig die Z?hne zusammengebissen! die Augen aufgemacht! die Hand fest am Steuer! - wir fahren geradewegs ?ber die Moral weg, wir erdr?cken, wir zermalmen vielleicht dabei unsren eignen Rest Moralit?t, indem wir dorthin unsre Fahrt machen und wagen, - aber was liegt an uns! Niemals noch hat sich verwegenen Reisenden und Abenteurern eine tiefere Welt der Einsicht er?ffnet: und der Psychologe, welcher dergestalt "Opfer bringt" - es ist nicht das sacrifizio dell'intelletto, im Gegentheil! - wird zum Mindesten daf?r verlangen d?rfen, dass die Psychologie wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die ?brigen Wissenschaften da sind. Denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen.

Zweites Hauptst?ck:

Der freie Geist.

O sancta simplicitas! In welcher seltsamen Vereinfachung und F?lschung lebt der Mensch! Man kann sich nicht zu Ende wundern, wenn man sich erst einmal die Augen f?r dies Wunder eingesetzt hat! Wie haben wir Alles um uns hell und frei und leicht und einfach gemacht! wie wussten wir unsern Sinnen einen Freipass f?r alles Oberfl?chliche, unserm Denken eine g?ttliche Begierde nach muthwilligen Spr?ngen und Fehlschl?ssen zu geben! - wie haben wir es von Anfang an verstanden, uns unsre Unwissenheit zu erhalten, um eine kaum begreifliche Freiheit, Unbedenklichkeit, Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit, Heiterkeit des Lebens, um das Leben zu geniessen! Und erst auf diesem nunmehr festen und granitnen Grunde von Unwissenheit durfte sich bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf dem Grunde eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-wissen, zum Ungewissen, zum Unwahren! Nicht als sein Gegensatz, sondern - als seine Verfeinerung! Mag n?mlich auch die Sprache, hier wie anderw?rts, nicht ?ber ihre Plumpheit hinausk?nnen und fortfahren, von Gegens?tzen zu reden, wo es nur Grade und mancherlei Feinheit der Stufen giebt; mag ebenfalls die eingefleischte Tart?fferie der Moral, welche jetzt zu unserm un?berwindlichen "Fleisch und Blut" geh?rt, uns Wissenden selbst die Worte im Munde umdrehen: hier und da begreifen wir es und lachen dar?ber, wie gerade noch die beste Wissenschaft uns am besten in dieser vereinfachten, durch und durch k?nstlichen, zurecht gedichteten, zurecht gef?lschten Welt festhalten will, wie sie unfreiwillig-willig den Irrthum liebt, weil sie, die Lebendige, - das Leben liebt!

Nach einem so fr?hlichen Eingang m?chte ein ernstes Wort nicht ?berh?rt werden: es wendet sich an die Ernstesten. Seht euch vor, ihr Philosophen und Freunde der Erkenntniss, und h?tet euch vor dem Martyrium! Vor dem Leiden "um der Wahrheit willen"! Selbst vor der eigenen Vertheidigung! Es verdirbt eurem Gewissen alle Unschuld und feine Neutralit?t, es macht euch halsstarrig gegen Einw?nde und rothe T?cher, es verdummt, verthiert und verstiert, wenn ihr im Kampfe mit Gefahr, Verl?sterung, Verd?chtigung, Ausstossung und noch gr?beren Folgen der Feindschaft, zuletzt euch gar als Vertheidiger der Wahrheit auf Erden ausspielen m?sst: - als ob "die Wahrheit" eine so harmlose und t?ppische Person w?re, dass sie Vertheidiger n?thig h?tte! und gerade euch, ihr Ritter von der traurigsten Gestalt, meine Herren Eckensteher und Spinneweber des Geistes! Zuletzt wisst ihr gut genug, dass nichts daran liegen darf, ob gerade ihr Recht behaltet, ebenfalls dass bisher noch kein Philosoph Recht behalten hat, und dass eine preisw?rdigere Wahrhaftigkeit in jedem kleinen Fragezeichen liegen d?rfte, welches ihr hinter eure Leibworte und Lieblingslehren setzt, als in allen feierlichen Geb?rden und Tr?mpfen vor Ankl?gern und Gerichtsh?fen! Geht lieber bei Seite! Flieht in's Verborgene! Und habt eure Maske und Feinheit, dass man euch verwechsele! Oder ein Wenig f?rchte! Und vergesst mir den Garten nicht, den Garten mit goldenem Gitterwerk! Und habt Menschen um euch, die wie ein Garten sind, - oder wie Musik ?ber Wassern, zur Zeit des Abends, wo der Tag schon zur Erinnerung wird: - w?hlt die gute Einsamkeit, die freie muthwillige leichte Einsamkeit, welche euch auch ein Recht giebt, selbst in irgend einem Sinne noch gut zu bleiben! Wie giftig, wie listig, wie schlecht macht jeder lange Krieg, der sich nicht mit offener Gewalt f?hren l?sst! Wie pers?nlich macht eine lange Furcht, ein langes Augenmerk auf Feinde, auf m?gliche Feinde! Diese Ausgestossenen der Gesellschaft, diese Lang-Verfolgten, Schlimm-Gehetzten, - auch die Zwangs-Einsiedler, die Spinoza's oder Giordano Bruno's - werden zuletzt immer, und sei es unter der geistigsten Maskerade, und vielleicht ohne dass sie selbst es wissen, zu raffinirten Rachs?chtigen und Giftmischern - gar nicht zu reden von der T?lpelei der moralischen Entr?stung, welche an einem Philosophen das unfehlbare Zeichen daf?r ist, dass ihm der philosophische Humor davon lief. Das Martyrium des Philosophen, seine "Aufopferung f?r die Wahrheit" zwingt an's Licht heraus, was vom Agitator und vom Schauspieler in ihm steckte; und gesetzt, dass man ihm nur mit einer artistischen Neugierde bisher zugeschaut hat, so kann in Bezug auf manchen Philosophen der gef?hrliche Wunsch freilich begreiflich sein, ihn auch einmal in seiner Entartung zu sehn . Nur dass man sich, mit einem solchen Wunsche, dar?ber klar sein muss, was man jedenfalls dabei zu sehen bekommen wird: - nur ein Satyrspiel, nur eine Nachspiel-Farce, nur den fortw?hrenden Beweis daf?r, dass die lange eigentliche Trag?die zu Ende ist: vorausgesetzt, dass jede Philosophie im Entstehen eine lange Trag?die war. -

Jeder auserlesene Mensch trachtet instinktiv nach seiner Burg und Heimlichkeit, wo er von der Menge, den Vielen, den Allermeisten erl?st ist, wo er die Regel "Mensch" vergessen darf, als deren Ausnahme: - den Einen Fall ausgenommen, dass er von einem noch st?rkeren Instinkte geradewegs auf diese Regel gestossen wird, als Erkennender im grossen und ausnahmsweisen Sinne. Wer nicht im Verkehr mit Menschen gelegentlich in allen Farben der Noth, gr?n und grau vor Ekel, ?berdruss, Mitgef?hl, Verd?sterung, Vereinsamung schillert, der ist gewiss kein Mensch h?heren Geschmacks; gesetzt aber, er nimmt alle diese Last und Unlust nicht freiwillig auf sich, er weicht ihr immerdar aus und bleibt, wie gesagt, still und stolz auf seiner Burg versteckt, nun, so ist Eins gewiss: er ist zur Erkenntniss nicht gemacht, nicht vorherbestimmt. Denn als solcher w?rde er eines Tages sich sagen m?ssen "hole der Teufel meinen guten Geschmack! aber die Regel ist interessanter als die Ausnahme, - als ich, die Ausnahme!" - und w?rde sich hinab begeben, vor Allem "hinein". Das Studium des durchschnittlichen Menschen, lang, ernsthaft, und zu diesem Zwecke viel Verkleidung, Selbst?berwindung, Vertraulichkeit, schlechter Umgang - jeder Umgang ist schlechter Umgang ausser dem mit Seines-Gleichen -: das macht ein nothwendiges St?ck der Lebensgeschichte jedes Philosophen aus, vielleicht das unangenehmste, ?belriechendste, an Entt?uschungen reichste St?ck. Hat er aber Gl?ck, wie es einem Gl?ckskinde der Erkenntniss geziemt, so begegnet er eigentlichen Abk?rzern und Erleichterern seiner Aufgabe, - ich meine sogenannten Cynikern, also Solchen, welche das Thier, die Gemeinheit, die "Regel" an sich einfach anerkennen und dabei noch jenen Grad von Geistigkeit und Kitzel haben, um ?ber sich und ihres Gleichen vor Zeugen reden zu m?ssen: - mitunter w?lzen sie sich sogar in B?chern wie auf ihrem eignen Miste. Cynismus ist die einzige Form, in welcher gemeine Seelen an Das streifen, was Redlichkeit ist; und der h?here Mensch hat bei jedem gr?beren und feineren Cynismus die Ohren aufzumachen und sich jedes Mal Gl?ck zu w?nschen, wenn gerade vor ihm der Possenreisser ohne Scham oder der wissenschaftliche Satyr laut werden. Es giebt sogar F?lle, wo zum Ekel sich die Bezauberung mischt: da n?mlich, wo an einen solchen indiskreten Bock und Affen, durch eine Laune der Natur, das Genie gebunden ist, wie bei dem Abb? Galiani, dem tiefsten, scharfsichtigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen seines Jahrhunderts - er war viel tiefer als Voltaire und folglich auch ein gut Theil schweigsamer. H?ufiger schon geschieht es, dass, wie angedeutet, der wissenschaftliche Kopf auf einen Affenleib, ein feiner Ausnahme-Verstand auf eine gemeine Seele gesetzt ist, - unter ?rzten und Moral-Physiologen namentlich kein seltenes Vorkommniss. Und wo nur Einer ohne Erbitterung, vielmehr harmlos vom Menschen redet als von einem Bauche mit zweierlei Bed?rfnissen und einem Kopfe mit Einem; ?berall wo Jemand immer nur Hunger, Geschlechts-Begierde und Eitelkeit sieht, sucht und sehn will, als seien es die eigentlichen und einzigen Triebfedern der menschlichen Handlungen; kurz, wo man "schlecht" vom Menschen redet - und nicht einmal schlimm -, da soll der Liebhaber der Erkenntniss fein und fleissig hinhorchen, er soll seine Ohren ?berhaupt dort haben, wo ohne Entr?stung geredet wird. Denn der entr?stete Mensch, und wer immer mit seinen eignen Z?hnen sich selbst zerreisst und zerfleischt, mag zwar moralisch gerechnet, h?her stehn als der lachende und selbstzufriedene Satyr, in jedem anderen Sinne aber ist er der gew?hnlichere, gleichg?ltigere, unbelehrendere Fall. Und Niemand l?gt soviel als der Entr?stete. -

Es ist schwer, verstanden zu werden: besonders wenn man gangasrotogati denkt und lebt, unter lauter Menschen, welche anders denken und leben, n?mlich kurmagati oder besten Falles "nach der Gangart des Frosches" mandeikagati - ich thue eben Alles, um selbst schwer verstanden zu werden? - und man soll schon f?r den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation von Herzen erkenntlich sein. Was aber "die guten Freunde" anbetrifft, welche immer zu bequem sind und gerade als Freunde ein Recht auf Bequemlichkeit zu haben glauben: so thut man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Missverst?ndnisses zuzugestehn: - so hat man noch, zu lachen; - oder sie ganz abzuschaffen, diese guten Freunde, - und auch zu lachen!

Was sich am schlechtesten aus einer Sprache in die andere ?bersetzen l?sst, ist das tempo ihres Stils: als welcher im Charakter der Rasse seinen Grund hat, physiologischer gesprochen, im Durchschnitts-tempo ihres "Stoffwechsels". Es giebt ehrlich gemeinte ?bersetzungen, die beinahe F?lschungen sind, als unfreiwillige Vergemeinerungen des Originals, bloss weil sein tapferes und lustiges tempo nicht mit ?bersetzt werden konnte, welches ?ber alles Gef?hrliche in Dingen und Worten wegspringt, weghilft. Der Deutsche ist beinahe des Presto in seiner Sprache unf?hig: also, wie man billig schliessen darf, auch vieler der erg?tzlichsten und verwegensten Nuances des freien, freigeisterischen Gedankens. So gut ihm der Buffo und der Satyr fremd ist, in Leib und Gewissen, so gut ist ihm Aristophanes und Petronius un?bersetzbar. Alles Gravit?tische, Schwerfl?ssige, Feierlich-Plumpe, alle langwierigen und langweiligen Gattungen des Stils sind bei den Deutschen in ?berreicher Mannichfaltigkeit entwickelt, - man vergebe mir die Thatsache, dass selbst Goethe's Prosa, in ihrer Mischung von Steifheit und Zierlichkeit, keine Ausnahme macht, als ein Spiegelbild der "alten guten Zeit", zu der sie geh?rt, und als Ausdruck des deutschen Geschmacks, zur Zeit, wo es noch einen "deutschen Geschmack" gab: der ein Rokoko-Geschmack war, in moribus et artibus. Lessing macht eine Ausnahme, Dank seiner Schauspieler-Natur, die Vieles verstand und sich auf Vieles verstand: er, der nicht umsonst der ?bersetzer Bayle's war und sich gerne in die N?he Diderot's und Voltaire's, noch lieber unter die r?mischen Lustspieldichter fl?chtete: - Lessing liebte auch im tempo die Freigeisterei, die Flucht aus Deutschland. Aber wie verm?chte die deutsche Sprache, und sei es selbst in der Prosa eines Lessing, das tempo Macchiavell's nachzuahmen, der, in seinem principe, die trockne feine Luft von Florenz athmen l?sst und nicht umhin kann, die ernsteste Angelegenheit in einem unb?ndigen Allegrissimo vorzutragen: vielleicht nicht ohne ein boshaftes Artisten-Gef?hl davon, welchen Gegensatz er wagt, - Gedanken, lang, schwer, hart, gef?hrlich, und ein tempo des Galopps und der allerbesten muthwilligsten Laune. Wer endlich d?rfte gar eine deutsche ?bersetzung des Petronius wagen, der, mehr als irgend ein grosser Musiker bisher, der Meister des presto gewesen ist, in Erfindungen, Einf?llen, Worten: - was liegt zuletzt an allen S?mpfen der kranken, schlimmen Welt, auch der "alten Welt", wenn man, wie er, die F?sse eines Windes hat, den Zug und Athem, den befreienden Hohn eines Windes, der Alles gesund macht, indem er Alles laufen macht! Und was Aristophanes angeht, jenen verkl?renden, complement?ren Geist, um dessentwillen man dem ganzen Griechenthum verzeiht, dass es da war, gesetzt, dass man in aller Tiefe begriffen hat, was da Alles der Verzeihung, der Verkl?rung bedarf: - so w?sste ich nichts, was mich ?ber Plato's Verborgenheit und Sphinx-Natur mehr hat tr?umen lassen als jenes gl?cklich erhaltene petit falt: dass man unter dem Kopfkissen seines Sterbelagers keine "Bibel" vorfand, nichts ?gyptisches, Pythagoreisches, Platonisches, - sondern den Aristophanes. Wie h?tte auch ein Plato das Leben ausgehalten - ein griechisches Leben, zu dem er Nein sagte, - ohne einen Aristophanes! -

Es ist die Sache der Wenigsten, unabh?ngig zu sein: - es ist ein Vorrecht der Starken. Und wer es versucht, auch mit dem besten Rechte dazu, aber ohne es zu m?ssen, beweist damit, dass er wahrscheinlich nicht nur stark, sondern bis zur Ausgelassenheit verwegen ist. Er begiebt sich in ein Labyrinth, er vertausendf?ltigt die Gefahren, welche das Leben an sich schon mit sich bringt; von denen es nicht die kleinste ist, dass Keiner mit Augen sieht, wie und wo er sich verirrt, vereinsamt und st?ckweise von irgend einem H?hlen-Minotaurus des Gewissens zerrissen wird. Gesetzt, ein Solcher geht zu Grunde, so geschieht es so ferne vom Verst?ndniss der Menschen, dass sie es nicht f?hlen und mitf?hlen: - und er kann nicht mehr zur?ck! er kann auch zum Mitleiden der Menschen nicht mehr zur?ck! - -

Unsre h?chsten Einsichten m?ssen - und sollen! - wie Thorheiten, unter Umst?nden wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu Ohren kommen, welche nicht daf?r geartet und vorbestimmt sind. Das Exoterische und das Esoterische, wie man ehedem unter Philosophen unterschied, bei Indern, wie bei Griechen, Persern und Muselm?nnern, kurz ?berall, wo man eine Rangordnung und nicht an Gleichheit und gleiche Rechte glaubte, - das hebt sich nicht sowohl dadurch von einander ab, dass der Exoteriker draussen steht und von aussen her, nicht von innen her, sieht, sch?tzt, misst, urtheilt: das Wesentlichere ist, dass er von Unten hinauf die Dinge sieht, - der Esoteriker aber von Oben herab! Es giebt H?hen der Seele, von wo aus gesehen selbst die Trag?die aufh?rt, tragisch zu wirken; und, alles Weh der Welt in Eins genommen, wer d?rfte zu entscheiden wagen, ob sein Anblick nothwendig gerade zum Mitleiden und dergestalt zur Verdoppelung des Wehs verf?hren und zwingen werde?... Was der h?heren Art von Menschen zur Nahrung oder zur Labsal dient, muss einer sehr unterschiedlichen und geringeren Art beinahe Gift sein. Die Tugenden des gemeinen Manns w?rden vielleicht an einem Philosophen Laster und Schw?chen bedeuten; es w?re m?glich, dass ein hochgearteter Mensch, gesetzt, dass er entartete und zu Grunde gienge, erst dadurch in den Besitz von Eigenschaften k?me, derentwegen man n?thig h?tte, ihn in der niederen Welt, in welche er hinab sank, nunmehr wie einen Heiligen zu verehren. Es giebt B?cher, welche f?r Seele und Gesundheit einen umgekehrten Werth haben, je nachdem die niedere Seele, die niedrigere Lebenskraft oder aber die h?here und gewaltigere sich ihrer bedienen: im ersten Falle sind es gef?hrliche, anbr?ckelnde, aufl?sende B?cher, im anderen Heroldsrufe, welche die Tapfersten zu ihrer Tapferkeit herausfordern. Allerwelts-B?cher sind immer ?belriechende B?cher: der Kleine-Leute-Geruch klebt daran. Wo das Volk isst und trinkt, selbst wo es verehrt, da pflegt es zu stinken. Man soll nicht in Kirchen gehn, wenn man reine Luft athmen will. - -

Man verehrt und verachtet in jungen Jahren noch ohne jene Kunst der Nuance, welche den besten Gewinn des Lebens ausmacht, und muss es billigerweise hart b?ssen, solchergestalt Menschen und Dinge mit Ja und Nein ?berfallen zu haben. Es ist Alles darauf eingerichtet, dass der schlechteste aller Geschm?cker, der Geschmack f?r das Unbedingte grausam genarrt und gemissbraucht werde, bis der Mensch lernt, etwas Kunst in seine Gef?hle zu legen und lieber noch mit dem K?nstlichen den Versuch zu wagen: wie es die rechten Artisten des Lebens thun. Das Zornige und Ehrf?rchtige, das der Jugend eignet, scheint sich keine Ruhe zu geben, bevor es nicht Menschen und Dinge so zurecht gef?lscht hat, dass es sich an ihnen auslassen kann: - Jugend ist an sich schon etwas F?lschendes und Betr?gerisches. Sp?ter, wenn die junge Seele, durch lauter Entt?uschungen gemartert, sich endlich argw?hnisch gegen sich selbst zur?ck wendet, immer noch heiss und wild, auch in ihrem Argwohne und Gewissensbisse: wie z?rnt sie sich nunmehr, wie zerreisst sie sich ungeduldig, wie nimmt sie Rache f?r ihre lange Selbst-Verblendung, wie als ob sie eine willk?rliche Blindheit gewesen sei! In diesem ?bergange bestraft man sich selber, durch Misstrauen gegen sein Gef?hl; man foltert seine Begeisterung durch den Zweifel, ja man f?hlt schon das gute Gewissen als eine Gefahr, gleichsam als Selbst-Verschleierung und Erm?dung der feineren Redlichkeit; und vor Allem, man nimmt Partei, grunds?tzlich Partei gegen "die Jugend". - Ein Jahrzehend sp?ter: und man begreift, dass auch dies Alles noch - Jugend war!

Die l?ngste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch - man nennt sie die pr?historische Zeit - wurde der Werth oder der Unwerth einer Handlung aus ihren Folgen abgeleitet: die Handlung an sich kam dabei ebensowenig als ihre Herkunft in Betracht, sondern ungef?hr so, wie heute noch in China eine Auszeichnung oder Schande vom Kinde auf die Eltern zur?ckgreift, so war es die r?ckwirkende Kraft des Erfolgs oder Misserfolgs, welche den Menschen anleitete, gut oder schlecht von einer Handlung zu denken. Nennen wir diese Periode die vormoralische Periode der Menschheit: der Imperativ "erkenne dich selbst!" war damals noch unbekannt. In den letzten zehn Jahrtausenden ist man hingegen auf einigen grossen Fl?chen der Erde Schritt f?r Schritt so weit gekommen, nicht mehr die Folgen, sondern die Herkunft der Handlung ?ber ihren Werth entscheiden zu lassen: ein grosses Ereigniss als Ganzes, eine erhebliche Verfeinerung des Blicks und Maassstabs, die unbewusste Nachwirkung von der Herrschaft aristokratischer Werthe und des Glaubens an "Herkunft", das Abzeichen einer Periode, welche man im engeren Sinne als die moralische bezeichnen darf: der erste Versuch zur Selbst-Erkenntniss ist damit gemacht. Statt der Folgen die Herkunft: welche Umkehrung der Perspektive! Und sicherlich eine erst nach langen K?mpfen und Schwankungen erreichte Umkehrung! Freilich: ein verh?ngnissvoller neuer Aberglaube, eine eigenth?mliche Engigkeit der Interpretation kam eben damit zur Herrschaft: man interpretirte die Herkunft einer Handlung im allerbestimmtesten Sinne als Herkunft aus einer Absicht; man wurde Eins im Glauben daran, dass der Werth einer Handlung im Werthe ihrer Absicht belegen sei. Die Absicht als die ganze Herkunft und Vorgeschichte einer Handlung: unter diesem Vorurtheile ist fast bis auf die neueste Zeit auf Erden moralisch gelobt, getadelt, gerichtet, auch philosophirt worden. - Sollten wir aber heute nicht bei der Nothwendigkeit angelangt sein, uns nochmals ?ber eine Umkehrung und Grundverschiebung der Werthe schl?ssig zu machen, Dank einer nochmaligen Selbstbesinnung und Vertiefung des Menschen, - sollten wir nicht an der Schwelle einer Periode stehen, welche, negativ, zun?chst als die aussermoralische zu, bezeichnen w?re: heute, wo wenigstens unter uns Immoralisten der Verdacht sich regt, dass gerade in dem, was nicht-absichtlich an einer Handlung ist, ihr entscheidender Werth belegen sei, und dass alle ihre Absichtlichkeit, Alles, was von ihr gesehn, gewusst, "bewusst" werden kann, noch zu ihrer Oberfl?che und Haut geh?re, - welche, wie jede Haut, Etwas verr?th, aber noch mehr verbirgt? Kurz, wir glauben, dass die Absicht nur ein Zeichen und Symptom ist, das erst der Auslegung bedarf, dazu ein Zeichen, das zu Vielerlei und folglich f?r sich allein fast nichts bedeutet, - dass Moral, im bisherigen Sinne, also Absichten-Moral ein Vorurtheil gewesen ist, eine Voreiligkeit, eine Vorl?ufigkeit vielleicht, ein Ding etwa vom Range der Astrologie und Alchymie, aber jedenfalls Etwas, das ?berwunden werden muss. Die ?berwindung der Moral, in einem gewissen Verstande sogar die Selbst?berwindung der Moral: mag das der Name f?r jene lange geheime Arbeit sein, welche den feinsten und redlichsten, auch den boshaftesten Gewissen von heute, als lebendigen Probirsteinen der Seele, vorbehalten blieb. -

Es hilft nichts: man muss die Gef?hle der Hingebung, der Aufopferung f?r den N?chsten, die ganze Selbstent?usserungs-Moral erbarmungslos zur Rede stellen und vor Gericht f?hren: ebenso wie die ?sthetik der "interesselosen Anschauung", unter welcher sich die Entm?nnlichung der Kunst verf?hrerisch genug heute ein gutes Gewissen zu schaffen sucht. Es ist viel zu viel Zauber und Zucker in jenen Gef?hlen des "f?r Andere", des "nicht f?r mich", als dass man nicht n?thig h?tte, hier doppelt misstrauisch zu werden und zu fragen: "sind es nicht vielleicht - Verf?hrungen?" - Dass sie gefallen - Dem, der sie hat, und Dem, der ihre Fr?chte geniesst, auch dem blossen Zuschauer, - dies giebt noch kein Argument f?r sie ab, sondern fordert gerade zur Vorsicht auf. Seien wir also vorsichtig!

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