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Read Ebook: Die Geburt der Tragödie: Versuch einer Selbstkritik by Nietzsche Friedrich Wilhelm

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Ebook has 179 lines and 44168 words, and 4 pages

In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die Sprache auf das St?rkste angespannt, die Musik nachzuahmen: deshalb beginnt mit Archilochus eine neue Welt der Poesie, die der homerischen in ihrem tiefsten Grunde widerspricht. Hiermit haben wir das einzig m?gliche Verh?ltniss zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne d?rfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Hauptstr?mungen unterscheiden, jenachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte. Man denke nur einmal tiefer ?ber die sprachliche Differenz der Farbe, des syntaktischen Bau's, des Wortmaterial's bei Homer und Pindar nach, um die Bedeutung dieses Gegensatzes zu begreifen; ja es wird Einem dabei handgreiflich deutlich, dass zwischen Homer und Pindar die orgiastischen Fl?tenweisen des Olympus erklungen sein m?ssen, die noch im Zeitalter des Aristoteles, inmitten einer unendlich entwickelteren Musik, zu trunkner Begeisterung hinrissen und gewiss in ihrer urspr?nglichen Wirkung alle dichterischen Ausdrucksmittel der gleichzeitigen Menschen zur Nachahmung aufgereizt haben. Ich erinnere hier an ein bekanntes, unserer Aesthetik nur anst?ssig d?nkendes Ph?nomen unserer Tage. Wir erleben es immer wieder, wie eine Beethoven'sche Symphonie die einzelnen Zuh?rer zu einer Bilderrede n?thigt, sei es auch dass eine Zusammenstellung der verschiedenen, durch ein Tonst?ck erzeugten Bilderwelten sich recht phantastisch bunt, ja widersprechend ausnimmt: an solchen Zusammenstellungen ihren armen Witz zu ?ben und das doch wahrlich erkl?renswerthe Ph?nomen zu ?bersehen, ist recht in der Art jener Aesthetik. Ja selbst wenn der Tondichter in Bildern ?ber eine Composition geredet hat, etwa wenn er eine Symphonie als pastorale und einen Satz als "Scene am Bach", einen anderen als "lustiges Zusammensein der Landleute" bezeichnet, so sind das ebenfalls nur gleichnissartige, aus der Musik geborne Vorstellungen - und nicht etwa die nachgeahmten Gegenst?nde der Musik - Vorstellungen, die ?ber den dionysischen Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren k?nnen, ja die keinen ausschliesslichen Werth neben anderen Bildern haben. Diesen Prozess einer Entladung der Musik in Bildern haben wir uns nun auf eine jugendfrische, sprachlich sch?pferische Volksmenge zu ?bertragen, um zur Ahnung zu kommen, wie das strophische Volkslied entsteht, und wie das ganze Sprachverm?gen durch das neue Princip der Nachahmung der Musik aufgeregt wird.

D?rfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen betrachten, so k?nnen wir jetzt fragen: "als was erscheint die Musik im Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe?" Sie erscheint als Wille, das Wort im Schopenhauerischen Sinne genommen, d.h. als Gegensatz der aesthetischen, rein beschaulichen willenlosen Stimmung. Hier unterscheide man nun so scharf als m?glich den Begriff des Wesens von dem der Erscheinung: denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unm?glich Wille sein, weil sie als solcher g?nzlich aus dem Bereich der Kunst zu bannen w?re - denn der Wille ist das an sich Unaesthetische -; aber sie erscheint als Wille. Denn um ihre Erscheinung in Bildern auszudr?cken, braucht der Lyriker alle Regungen der Leidenschaft, vom Fl?stern der Neigung bis zum Grollen des Wahnsinns; unter dem Triebe, in apollinischen Gleichnissen von der Musik zu reden, versteht er die ganze Natur und sich in ihr nur als das ewig Wollende, Begehrende, Sehnende. Insofern er aber die Musik in Bildern deutet, ruht er selbst in der stillen Meeresruhe der apollinischen Betrachtung, so sehr auch alles, was er durch das Medium der Musik anschaut, um ihn herum in dr?ngender und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild im Zustande des unbefriedigten Gef?hls: sein eignes Wollen, Sehnen, St?hnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem er die Musik sich deutet. Dies ist das Ph?nomen des Lyrikers: als apollinischer Genius interpretirt er die Musik durch das Bild des Willens, w?hrend er selbst, v?llig losgel?st von der Gier des Willens, reines ungetr?btes Sonnenauge ist.

Diese ganze Er?rterung h?lt daran fest, dass die Lyrik eben so abh?ngig ist vom Geiste der Musik als die Musik selbst, in ihrer v?lligen Unumschr?nktheit, das Bild und den Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich ertr?gt. Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allg?ltigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede n?thigte. Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise ersch?pfend beizukommen, weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sph?re symbolisirt, die ?ber alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegen?ber ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss: daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einl?sst, nur in einer ?usserlichen Ber?hrung mit der Musik, w?hrend deren tiefster Sinn, durch alle lyrische Beredsamkeit, uns auch keinen Schritt n?her gebracht werden kann.

Alle die bisher er?rterten Kunstprincipien m?ssen wir jetzt zu H?lfe nehmen, um uns in dem Labyrinth zurecht zu finden, als welches wir den Ursprung der griechischen Trag?die bezeichnen m?ssen. Ich denke nichts Ungereimtes zu behaupten, wenn ich sage, dass das Problem dieses Ursprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt, geschweige denn gel?st ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen der antiken Ueberlieferung schon combinatorisch an einander gen?ht und wieder aus einander gerissen sind. Diese Ueberlieferung sagt uns mit voller Entschiedenheit, dass die Trag?die aus dem tragischen Chore entstanden ist und urspr?nglich nur Chor und nichts als Chor war: woher wir die Verpflichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem eigentlichen Urdrama in's Herz zu sehen, ohne uns an den gel?ufigen Kunstredensarten - dass er der idealische Zuschauer sei oder das Volk gegen?ber der f?rstlichen Region der Scene zu vertreten habe - irgendwie gen?gen zu lassen. Jener zuletzt erw?hnte, f?r manchen Politiker erhaben klingende Erl?uterungsgedanke - als ob das unwandelbare Sittengesetz von den demokratischen Athenern in dem Volkschore dargestellt sei, der ?ber die leidenschaftlichen Ausschreitungen und Ausschweifungen der K?nige hinaus immer Recht behalte - mag noch so sehr durch ein Wort des Aristoteles nahegelegt sein: auf die urspr?ngliche Formation der Trag?die ist er ohne Einfluss, da von jenen rein religi?sen Urspr?ngen der ganze Gegensatz von Volk und F?rst, ?berhaupt jegliche politisch-sociale Sph?re ausgeschlossen ist; aber wir m?chten es auch in Hinsicht auf die uns bekannte classische Form des Chors bei Aeschylus und Sophokles f?r Blasphemie erachten, hier von der Ahnung einer "constitutionellen Volksvertretung" zu reden, vor welcher Blasphemie Andere nicht zur?ckgeschrocken sind. Eine constitutionelle Volksvertretung kennen die antiken Staatsverfassungen in praxi nicht und haben sie hoffentlich auch in ihrer Trag?die nicht einmal "geahnt".

Viel ber?hmter als diese politische Erkl?rung des Chors ist der Gedanke A. W. Schlegel's, der uns den Chor gewissermaassen als den Inbegriff und Extract der Zuschauermenge, als den "idealischen Zuschauer" zu betrachten anempfiehlt. Diese Ansicht, zusammengehalten mit jener historischen Ueberlieferung, dass urspr?nglich die Trag?die nur Chor war, erweist sich als das was sie ist, als eine rohe, unwissenschaftliche, doch gl?nzende Behauptung, die ihren Glanz aber nur durch ihre concentrirte Form des Ausdrucks, durch die echt germanische Voreingenommenheit f?r Alles, was "idealisch" genannt wird und durch unser momentanes Erstauntsein erhalten hat. Wir sind n?mlich erstaunt, sobald wir das uns gut bekannte Theaterpublicum mit jenem Chore vergleichen und uns fragen, ob es wohl m?glich sei, aus diesem Publicum je etwas dem tragischen Chore Analoges herauszuidealisiren. Wir leugnen dies im Stillen und wundern uns jetzt eben so ?ber die K?hnheit der Schlegel'schen Behauptung wie ?ber die total verschiedene Natur des griechischen Publicums. Wir hatten n?mlich doch immer gemeint, dass der rechte Zuschauer, er sei wer er wolle, sich immer bewusst bleiben m?sse, ein Kunstwerk vor sich zu haben, nicht eine empirische Realit?t: w?hrend der tragische Chor der Griechen in den Gestalten der B?hne leibhafte Existenzen zu erkennen gen?thigt ist. Der Okeanidenchor glaubt wirklich den Titan Prometheus vor sich zu sehen und h?lt sich selbst f?r eben so real wie den Gott der Scene. Und das sollte die h?chste und reinste Art des Zuschauers sein, gleich den Okeaniden den Prometheus f?r leiblich vorhanden und real zu halten? Und es w?re das Zeichen des idealischen Zuschauers, auf die B?hne zu laufen und den Gott von seinen Martern zu befreien? Wir hatten an ein aesthetisches Publicum geglaubt und den einzelnen Zuschauer f?r um so bef?higter gehalten, je mehr er im Stande war, das Kunstwerk als Kunst d.h. aesthetisch zu nehmen; und jetzt deutete uns der Schlegel'sche Ausdruck an, dass der vollkommne idealische Zuschauer die Welt der Scene gar nicht aesthetisch, sondern leibhaft empirisch auf sich wirken lasse. O ?ber diese Griechen! seufzen wir; sie werfen uns unsre Aesthetik um! Daran aber gew?hnt, wiederholten wir den Sdllegel'schen Spruch, so oft der Chor zur Sprache kam.

Aber jene so ausdr?ckliche Ueberlieferung redet hier gegen Schlegel: der Chor an sich, ohne B?hne, also die primitive Gestalt der Trag?die und jener Chor idealischer Zuschauer vertragen sich nicht mit einander. Was w?re das f?r eine Kunstgattung, die aus dem Begriff des Zuschauers herausgezogen w?re, als deren eigentliche Form der "Zuschauer an sich" zu gelten h?tte. Der Zuschauer ohne Schauspiel ist ein widersinniger Begriff. Wir f?rchten, dass die Geburt der Trag?die weder aus der Hochachtung vor der sittlichen Intelligenz der Masse, noch aus dem Begriff des schauspiellosen Zuschauers zu erkl?ren sei und halten dies Problem f?r zu tief, um von so flachen Betrachtungsarten auch nur ber?hrt zu werden.

Eine unendlich werthvollere Einsicht ?ber die Bedeutung des Chors hatte bereits Schiller in der ber?hmten Vorrede zur Braut von Messina verrathen, der den Chor als eine lebendige Mauer betrachtete, die die Trag?die um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschliessen und sich ihren idealen Boden und ihre poetische Freiheit zu bewahren.

Schiller k?mpft mit dieser seiner Hauptwaffe gegen den gemeinen Begriff des Nat?rlichen, gegen die bei der dramatischen Poesie gemeinhin geheischte Illusion. W?hrend der Tag selbst auf dem Theater nur ein k?nstlicher, die Architektur nur eine symbolische sei und die metrische Sprache einen idealen Charakter trage, herrsche immer noch der Irrthum im Ganzen: es sei nicht genug, dass man das nur als eine poetische Freiheit dulde, was doch das Wesen aller Poesie sei. Die Einf?hrung des Chores sei der entscheidende Schritt, mit dem jedem Naturalismus in der Kunst offen und ehrlich der Krieg erkl?rt werde. - Eine solche Betrachtungsart ist es, scheint mir, f?r die unser sich ?berlegen w?hnendes Zeitalter das wegwerfende Schlagwort "Pseudoidealismus" gebraucht. Ich f?rchte, wir sind dagegen mit unserer jetzigen Verehrung des Nat?rlichen und Wirklichen am Gegenpol alles Idealismus angelangt, n?mlich in der Region der Wachsfigurencabinette. Auch in ihnen giebt es eine Kunst, wie bei gewissen beliebten Romanen der Gegenwart: nur qu?le man uns nicht mit dem Anspruch, dass mit dieser Kunst der Schiller-Goethesche "Pseudoidealismus" ?berwunden sei.

Freilich ist es ein "idealer" Boden, auf dem, nach der richtigen Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der Chor der urspr?nglichen Trag?die, zu wandeln pflegt, ein Boden hoch emporgehoben ?ber die wirkliche Wandelbahn der Sterblichen. Der Grieche hat sich f?r diesen Chor die Schwebeger?ste eines fingirten Naturzustandes gezimmert und auf sie hin fingirte Naturwesen gestellt. Die Trag?die ist auf diesem Fundamente emporgewachsen und freilich schon deshalb von Anbeginn an einem peinlichen Abkonterfeien der Wirklichkeit enthoben gewesen. Dabei ist es doch keine willk?rlich zwischen Himmel und Erde hineinphantasirte Welt; vielmehr eine Welt von gleicher Realit?t und Glaubw?rdigkeit wie sie der Olymp sammt seinen Insassen f?r den gl?ubigen Hellenen besass. Der Satyr als der dionysische Choreut lebt in einer religi?s zugestandenen Wirklichkeit unter der Sanction des Mythus und des Cultus. Dass mit ihm die Trag?die beginnt, dass aus ihm die dionysische Weisheit der Trag?die spricht, ist ein hier uns eben so befremdendes Ph?nomen wie ?berhaupt die Entstehung der Trag?die aus dem Chore. Vielleicht gewinnen wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung hinstelle, dass sich der Satyr, das fingirte Naturwesen, zu dem Culturmenschen in gleicher Weise verh?lt, wie die dionysische Musik zur Civilisation. Von letzterer sagt Richard Wagner, dass sie von der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein vom Tageslicht. In gleicher Weise, glaube ich, f?hlte sich der griechische Culturmensch im Angesicht des Satyrchors aufgehoben: und dies ist die n?chste Wirkung der dionysischen Trag?die, dass der Staat und die Gesellschaft, ?berhaupt die Kl?fte zwischen Mensch und Mensch einem ?berm?chtigen Einheitsgef?hle weichen, welches an das Herz der Natur zur?ckf?hrt. Der metaphysische Trost, - mit welchem, wie ich schon hier andeute, uns jede wahre Trag?die entl?sst - dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerst?rbar m?chtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der V?lkergeschichte ewig dieselben bleiben.

Mit diesem Chore tr?stet sich der tiefsinnige und zum zartesten und schwersten Leiden einzig bef?higte Hellene, der mit schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Vernidhtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Gefahr ist, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich - das Leben.

Die Verz?ckung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gew?hnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enth?lt n?mlich w?hrend seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich alles pers?nlich in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit die Welt der allt?glichen und der dionysischen Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene allt?gliche Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden; eine asketische, willenverneinende Stimmung ist die Frucht jener Zust?nde. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ?ndern, sie empfinden es als l?cherlich oder schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss t?dtet das Handeln, zum Handeln geh?rt das Umschleiertsein durch die Illusion - das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Tr?umer, der aus zu viel Reflexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von M?glichkeiten nicht zum Handeln kommt; nicht das Reflectiren, nein! - die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit ?berwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen. Jetzt verf?ngt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht ?ber eine Welt nach dem Tode, ?ber die G?tter selbst hinaus, das Dasein wird, sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den G?ttern oder in einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch ?berall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins, jetzt versteht er das Symbolische im Schicksal der Ophelia, jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen: es ekelt ihn.

Hier, in dieser h?chsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein vermag jene Ekelgedanken ?ber das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben l?sst: diese sind das Erhabene als die k?nstlerische B?ndigung des Entsetzlichen und das Komische als die k?nstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor des Dithyrambus ist die rettende That der griechischen Kunst; an der Mittelwelt dieser dionysischen Begleiter ersch?pften sich jene vorhin beschriebenen Anwandlungen.

Der Satyr wie der idyllische Sch?fer unserer neueren Zeit sind Beide Ausgeburten einer auf das Urspr?ngliche und Nat?rliche gerichteten Sehnsucht; aber mit welchem festen unerschrocknen Griffe fasste der Grieche nach seinem Waldmenschen, wie versch?mt und weichlich t?ndelte der moderne Mensch mit dem Schmeichelbild eines z?rtlichen fl?tenden weichgearteten Hirten! Die Natur, an der noch keine Erkenntniss gearbeitet, in der die Riegel der Cultur noch unerbrochen sind - das sah der Grieche in seinem Satyr, der ihm deshalb noch nicht mit dem Affen zusammenfiel. Im Gegentheil: es war das Urbild des Menschen, der Ausdruck seiner h?chsten und st?rksten Regungen, als begeisterter Schw?rmer, den die N?he des Gottes entz?ckt, als mitleidender Genosse, in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt, als Weisheitsverk?nder aus der tiefsten Brust der Natur heraus, als Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der Natur, die der Grieche gew?hnt ist mit ehrf?rchtigem Staunen zu betrachten. Der Satyr war etwas Erhabenes und G?ttliches: so musste er besonders dem schmerzlich gebrochnen Blick des dionysischen Menschen d?nken. Ihn h?tte der geputzte, erlogene Sch?fer beleidigt: auf den unverh?llten und unverk?mmert grossartigen Schriftz?gen der Natur weilte sein Auge in erhabener Befriedigung; hier war die Illusion der Cultur von dem Urbilde des Menschen weggewischt, hier enth?llte sich der wahre Mensch, der b?rtige Satyr, der zu seinem Gotte aufjubelt. Vor ihm schrumpfte der Culturmensch zur l?genhaften Caricatur zusammen. Auch f?r diese Anf?nge der tragischen Kunst hat Schiller Recht: der Chor ist eine lebendige Mauer gegen die anst?rmende Wirklichkeit, weil er - der Satyrchor - das Dasein wahrhaftiger, wirklicher, vollst?ndiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige Realit?t achtende Culturmensch. Die Sph?re der Poesie liegt nicht ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unm?glichkeit eines Dichterhirns: sie will das gerade Gegentheil sein, der ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben deshalb den l?genhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeit des Culturmenschen von sich werfen. Der Contrast dieser eigentlichen Naturwahrheit und der sich als einzige Realit?t geb?rdenden Culturl?ge ist ein ?hnlicher wie zwischen dem ewigen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und der gesammten Erscheinungswelt: und wie die Trag?die mit ihrem metaphysischen Troste auf das ewige Leben jenes Daseinskernes, bei dem fortw?hrenden Untergange der Erscheinungen, hinweist, so spricht bereits die Symbolik des Satyrchors in einem Gleichniss jenes Urverh?ltniss zwischen Ding an sich und Erscheinung aus. Jener idyllische Sch?fer des modernen Menschen ist nur ein Konterfei der ihm als Natur geltenden Summe von Bildungsillusionen; der dionysische Grieche will die Wahrheit und die Natur in ihrer h?chsten Kraft - er sieht sich zum Satyr verzaubert.

Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen jubelt die schw?rmende Schaar der Dionysusdiener: deren Macht sie selbst vor ihren eignen Augen verwandelt, so dass sie sich als wiederhergestellte Naturgenien, als Satyrn, zu erblicken w?hnen. Die sp?tere Constitution des Trag?dienchors ist die k?nstlerische Nachahmung jenes nat?rlichen Ph?nomens; bei der nun allerdings eine Scheidung von dionysischen Zuschauern und dionysischen Verzauberten n?thig wurde. Nur muss man sich immer gegenw?rtig halten, dass das Publicum der attischen Trag?die sich selbst in dem Chore der Orchestra wiederfand, dass es im Grunde keinen Gegensatz von Publicum und Chor gab: denn alles ist nur ein grosser erhabener Chor von tanzenden und singenden Satyrn oder von solchen, welche sich durch diese Satyrn repr?sentiren lassen. Das Schlegel'sche Wort muss sich uns hier in einem tieferen Sinne erschliessen. Der Chor ist der "idealische Zuschauer", insofern er der einzige Schauer ist, der Schauer der Visionswelt der Scene. Ein Publicum von Zuschauern, wie wir es kennen, war den Griechen unbekannt: in ihren Theatern war es Jedem, bei dem in concentrischen Bogen sich erhebenden Terrassenbau des Zuschauerraumes, m?glich, die gesammte Culturwelt um sich herum ganz eigentlich zu ?bersehen und in ges?ttigtem Hinschauen selbst Choreut sich zu w?hnen. Nach dieser Einsicht d?rfen wir den Chor, auf seiner primitiven Stufe in der Urtrag?die, eine Selbstspiegelung des dionysischen Menschen nennen: welches Ph?nomen am deutlichsten durch den Prozess des Schauspielers zu machen ist, der, bei wahrhafter Begabung, sein von ihm darzustellendes Rollenbild zum Greifen wahrnehmbar vor seinen Augen schweben sieht. Der Satyrchor ist zu allererst eine Vision der dionysischen Masse, wie wiederum die Welt der B?hne eine Vision dieses Satyrchors ist: die Kraft dieser Vision ist stark genug, um gegen den Eindruck der "Realit?t", gegen die rings auf den Sitzreihen gelagerten Bildungsmenschen den Blick stumpf und unempfindlich zu machen. Die Form des griechischen Theaters erinnert an ein einsames Gebirgsthal: die Architektur der Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild, welches die im Gebirge herumschw?rmenden Bacchen von der H?he aus erblicken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte ihnen das Bild des Dionysus offenbar wird.

Jene k?nstlerische Urerscheinung, die wir hier zur Erkl?rung des Trag?dienchors zur Sprache bringen, ist, bei unserer gelehrtenhaften Anschauung ?ber die elementaren k?nstlerischen Prozesse, fast anst?ssig; w?hrend nichts ausgemachter sein kann, als dass der Dichter nur dadurch Dichter ist, dass er von Gestalten sich umringt sieht, die vor ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er hineinblickt. Durch eine eigenth?mliche Schw?che der modernen Begabung sind wir geneigt, uns das aesthetische Urph?nomen zu complicirt und abstract vorzustellen. Die Metapher ist f?r den ?chten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt. Der Character ist f?r ihn nicht etwas aus zusammengesuchten Einzelz?gen componirtes Ganzes, sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendige Person, die von der gleichen Vision des Malers sich nur durch das fortw?hrende Weiterleben und Weiterhandeln unterscheidet. Wodurch schildert Homer so viel anschaulicher als alle Dichter? Weil er um so viel mehr anschaut. Wir reden ?ber Poesie so abstract, weil wir alle schlechte Dichter zu sein pflegen. Im Grunde ist das aesthetische Ph?nomen einfach; man habe nur die F?higkeit, fortw?hrend ein lebendiges Spiel zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu leben, so ist man Dichter; man f?hle nur den Trieb, sich selbst zu verwandeln und aus anderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist man Dramatiker.

Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen Masse diese k?nstlerische Begabung mitzutheilen, sich von einer solchen Geisterschaar umringt zu sehen, mit der sie sich innerlich eins weiss. Dieser Prozess des Trag?dienchors ist das dramatische Urph?nomen: sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen w?re. Dieser Prozess steht an dem Anfang der Entwickelung des Dramas. Hier ist etwas Anderes als der Rhapsode, der mit seinen Bildern nicht verschmilzt, sondern sie, dem Maler ?hnlich, mit betrachtendem Auge ausser sich sieht; hier ist bereits ein Aufgeben des Individuums durch Einkehr in eine fremde Natur. Und zwar tritt dieses Ph?nomen epidemisch auf: eine ganze Schaar f?hlt sich in dieser Weise verzaubert. Der Dithyramb ist deshalb wesentlich von jedem anderen Chorgesange unterschieden. Die Jungfrauen, die, mit Lorbeerzweigen in der Hand, feierlich zum Tempel des Apollo ziehn und dabei ein Prozessionslied singen, bleiben, wer sie sind, und behalten ihren b?rgerlichen Namen: der dithyrambische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre b?rgerliche Vergangenheit, ihre sociale Stellung v?llig vergessen ist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb aller Gesellschaftssph?ren lebenden Diener ihres Gottes geworden. Alle andere Chorlyrik der Hellenen ist nur eine ungeheure Steigerung des apollinischen Einzels?ngers; w?hrend im Dithyramb eine Gemeinde von unbewussten Schauspielern vor uns steht, die sich selbst unter einander als verwandelt ansehen.

Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller dramatischen Kunst. In dieser Verzauberung sieht sich der dionysische Schw?rmer als Satyr, und als Satyr wiederum schaut er den Gott d.h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustandes. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollst?ndig.

Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Trag?die als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet. Jene Chorpartien, mit denen die Trag?die durchflochten ist, sind also gewissermaassen der Mutterschooss des ganzen sogenannten Dialogs d.h. der gesammten B?hnenwelt, des eigentlichen Dramas. In mehreren auf einander folgenden Entladungen strahlt dieser Urgrund der Trag?die jene Vision des Dramas aus: die durchaus Traumerscheinung und insofern epischer Natur ist, andrerseits aber, als Objectivation eines dionysischen Zustandes, nicht die apollinische Erl?sung im Scheine, sondern im Gegentheil das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein darstellt. Somit ist das Drama die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen und dadurch wie durch eine ungeheure Kluft vom Epos abgeschieden.

Der Chor der griechischen Trag?die, das Symbol der gesammten dionysisch erregten Masse, findet an dieser unserer Auffassung seine volle Erkl?rung. W?hrend wir, mit der Gew?hnung an die Stellung eines Chors auf der modernen B?hne, zumal eines Opernchors, gar nicht begreifen konnten, wie jener tragische Chor der Griechen ?lter, urspr?nglicher, ja wichtiger sein sollte, als die eigentliche "Action", - wie dies doch so deutlich ?berliefert war - w?hrend wir wiederum mit jener ?berlieferten hohen Wichtigkeit und Urspr?nglichkeit nicht reimen konnten, warum er doch nur aus niedrigen dienenden Wesen, ja zuerst nur aus bocksartigen Satyrn zusammengesetzt worden sei, w?hrend uns die Orchestra vor der Scene immer ein R?thsel blieb, sind wir jetzt zu der Einsicht gekommen, dass die Scene sammt der Action im Grunde und urspr?nglich nur als Vision gedacht wurde, dass die einzige "Realit?t" eben der Chor ist, der die Vision aus sich erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und des Wortes redet. Dieser Chor schaut in seiner Vision seinen Herrn und Meister Dionysus und ist darum ewig der dienende Chor: er sieht, wie dieser, der Gott, leidet und sich verherrlicht, und handelt deshalb selbst nicht. Bei dieser, dem Gotte gegen?ber durchaus dienenden Stellung ist er doch der h?chste, n?mlich dionysische Ausdruck der Natur und redet darum, wie diese, in der Begeisterung Orakel- und Weisheitsspr?che: als der mitleidende ist er zugleich der weise, aus dem Herzen der Welt die Wahrheit verk?ndende. So entsteht denn jene phantastische und so anst?ssig scheinende Figur des weisen und begeisterten Satyrs, der zugleich "der tumbe Mensch" im Gegensatz zum Gotte ist: Abbild der Natur und ihrer st?rksten Triebe, ja Symbol derselben und zugleich Verk?nder ihrer Weisheit und Kunst: Musiker, Dichter, T?nzer, Geisterseher in einer Person.

Dionysus, der eigentliche B?hnenheld und Mittelpunkt der Vision, ist gem?ss dieser Erkenntniss und gem?ss der Ueberlieferung, zuerst, in der aller?ltesten Periode der Trag?die, nicht wahrhaft vorhanden, sondern wird nur als vorhanden vorgestellt: d.h. urspr?nglich ist die Trag?die nur "Chor" und nicht "Drama". Sp?ter wird nun der Versuch gemacht, den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt sammt der verkl?renden Umrahmung als jedem Auge sichtbar darzustellen; damit beginnt das "Drama" im engeren Sinne. Jetzt bekommt der dithyrambische Chor die Aufgabe, die Stimmung der Zuh?rer bis zu dem Grade dionysisch anzuregen, dass sie, wenn der tragische Held auf der B?hne erscheint, nicht etwa den unf?rmlich maskirten Menschen sehen, sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verz?ckung geborene Visionsgestalt. Denken wir uns Admet mit tiefem Sinnen seiner j?ngst abgeschiedenen Gattin Alcestis gedenkend und ganz im geistigen Anschauen derselben sich verzehrend - wie ihm nun pl?tzlich ein ?hnlich gestaltetes, ?hnlich schreitendes Frauenbild in Verh?llung entgegengef?hrt wird: denken wir uns seine pl?tzliche zitternde Unruhe, sein st?rmisches Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung - so haben wir ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch erregte Zuschauer den Gott auf der B?hne heranschreiten sah, mit dessen Leiden er bereits eins geworden ist. Unwillk?rlich ?bertrug er das ganze magisch vor seiner Seele zitternde Bild des Gottes auf jene maskirte Gestalt und l?ste ihre Realit?t gleichsam in eine geisterhafte Unwirklichkeit auf. Dies ist der apollinische Traumeszustand, in dem die Welt des Tages sich verschleiert und eine neue Welt, deutlicher, verst?ndlicher, ergreifender als jene und doch schattengleicher, in fortw?hrendem Wechsel sich unserem Auge neu gebiert. Demgem?ss erkennen wir in der Trag?die einen durchgreifenden Stilgegensatz: Sprache, Farbe, Beweglichkeit, Dynamik der Rede treten in der dionysischen Lyrik des Chors und andrerseits in der apollinischen Traumwelt der Scene als v?llig gesonderte Sph?ren des Ausdrucks aus einander. Die apollinischen Erscheinungen, in denen sich Dionysus objectivirt, sind nicht mehr "ein ewiges Meer, ein wechselnd Weben, ein gl?hend Leben", wie es die Musik des Chors ist, nicht mehr jene nur empfundenen, nicht zum Bilde verdichteten Kr?fte, in denen der begeisterte Dionysusdiener die N?he des Gottes sp?rt: jetzt spricht, von der Scene aus, die Deutlichkeit und Festigkeit der epischen Gestaltung zu ihm, jetzt redet Dionysus nicht mehr durch Kr?fte, sondern als epischer Held, fast mit der Sprache Homers.

Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Trag?die, im Dialoge, auf die Oberfl?che kommt, sieht einfach, durchsichtig, sch?n aus. In diesem Sinne ist der Dialog ein Abbild des Hellenen, dessen Natur sich im Tanze offenbart, weil im Tanze die gr?sste Kraft nur potenziell ist, aber sich in der Geschmeidigkeit und Ueppigkeit der Bewegung verr?th. So ?berrascht uns die Sprache der sophokleischen Helden durch ihre apollinische Bestimmtheit und Helligkeit, so dass wir sofort bis in den innersten Grund ihres Wesens zu blicken w?hnen, mit einigem Erstaunen, dass der Weg bis zu diesem Grunde so kurz ist. Sehen wir aber einmal von dem auf die Oberfl?che kommenden und sichtbar werdenden Charakter des Helden ab - der im Grunde nichts mehr ist als das auf eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d.h. Erscheinung durch und durch - dringen wir vielmehr in den Mythus ein, der in diesen hellen Spiegelungen sich projicirt, so erleben wir pl?tzlich ein Ph?nomen, das ein umgekehrtes Verh?ltniss zu einem bekannten optischen hat. Wenn wir bei einem kr?ftigen Versuch, die Sonne in's Auge zu fassen, uns geblendet abwenden, so haben wir dunkle farbige Flecken gleichsam als Heilmittel vor den Augen: umgekehrt sind jene Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes in's Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blickes. Nur in diesem Sinne d?rfen wir glauben, den ernsthaften und bedeutenden Begriff der "griechischen Heiterkeit" richtig zu fassen; w?hrend wir allerdings den falsch verstandenen Begriff dieser Heiterkeit im Zustande ungef?hrdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen der Gegenwart antreffen.

Die leidvollste Gestalt der griechischen B?hne, der ungl?ckselige Oedipus, ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der zum Irrthum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich aus?bt, die noch ?ber sein Verscheiden hinaus wirksam ist. Der edle Mensch s?ndigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter sagen: durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede nat?rliche Ordnung, ja die sittliche Welt zu Grunde gehen, eben durch dieses Handeln wird ein h?herer magischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf den Ruinen der umgest?rzten alten gr?nden. Das will uns der Dichter, insofern er zugleich religi?ser Denker ist, sagen: als Dichter zeigt er uns zuerst einen wunderbar gesch?rzten Prozessknoten, den der Richter langsam, Glied f?r Glied, zu seinem eigenen Verderben l?st; die echt hellenische Freude an dieser dialektischen L?sung ist so gross, dass hierdurch ein Zug von ?berlegener Heiterkeit ?ber das ganze Werk kommt, der den schauderhaften Voraussetzungen jenes Prozesses ?berall die Spitze abbricht. Im "Oedipus auf Kolonos" treffen wir diese selbe Heiterkeit, aber in eine unendliche Verkl?rung emporgehoben; dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greise gegen?ber, der allem, was ihn betrifft, rein als Leidender preisgegeben ist - steht die ?berirdische Heiterkeit, die aus g?ttlicher Sph?re herniederkommt und uns andeutet, dass der Held in seinem rein passiven Verhalten seine h?chste Activit?t erlangt, die weit ?ber sein Leben hinausgreift, w?hrend sein bewusstes Tichten und Trachten im fr?heren Leben ihn nur zur Passivit?t gef?hrt hat. So wird der f?r das sterbliche Auge unaufl?slich verschlungene Prozessknoten der Oedipusfabel langsam entwirrt - und die tiefste menschliche Freude ?berkommt uns bei diesem g?ttlichen Gegenst?ck der Dialektik. Wenn wir mit dieser Erkl?rung dem Dichter gerecht geworden sind, so kann doch immer noch gefragt werden, ob damit der Inhalt des Mythus ersch?pft ist: und hier zeigt sich, dass die ganze Auffassung des Dichters nichts ist als eben jenes Lichtbild, welches uns, nach einem Blick in den Abgrund, die heilende Natur vorh?lt. Oedipus der M?rder seines Vaters, der Gatte seiner Mutter, Oedipus der R?thsell?ser der Sphinx! Was sagt uns die geheimnissvolle Dreiheit dieser Schicksalsthaten? Es giebt einen uralten, besonders persischen Volksglauben, dass ein weiser Magier nur aus Incest geboren werden k?nne: was wir uns, im Hinblick auf den r?thsell?senden und seine Mutter freienden Oedipus, sofort so zu interpretiren haben, dass dort, wo durch weissagende und magische Kr?fte der Bann von Gegenwart und Zukunft, das starre Gesetz der Individuation, und ?berhaupt der eigentliche Zauber der Natur gebrochen ist, eine ungeheure Naturwidrigkeit - wie dort der Incest - als Ursache vorausgegangen sein muss; denn wie k?nnte man die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch, dass man ihr siegreich widerstrebt, d.h. durch das Unnat?rliche? Diese Erkenntniss sehe ich in jener entsetzlichen Dreiheit der Oedipusschicksale ausgepr?gt: derselbe, der das R?thsel der Natur - jener doppeltgearteten Sphinx - l?st, muss auch als M?rder des Vaters und Gatte der Mutter die heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja, der Mythus scheint uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade die dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der, welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung st?rzt, auch an sich selbst die Aufl?sung der Natur zu erfahren habe. "Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Weisen: Weisheit ist ein Verbrechen an der Natur": solche schreckliche S?tze ruft uns der Mythus zu: der hellenische Dichter aber ber?hrt wie ein Sonnenstrahl die erhabene und furchtbare Memnonss?ule des Mythus, so dass er pl?tzlich zu t?nen beginnt - in sophokleischen Melodieen!

Der Glorie der Passivit?t stelle ich jetzt die Glorie der Activit?t gegen?ber, welche den Prometheus des Aeschylus umleuchtet. Was uns hier der Denker Aeschylus zu sagen hatte, was er aber als Dichter durch sein gleichnissartiges Bild uns nur ahnen l?sst, das hat uns der jugendliche Goethe in den verwegenen Worten seines Prometheus zu enth?llen gewusst:

"Hier sitz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen, Zu geniessen und zu freuen sich Und dein nicht zu achten, Wie ich!"

Der Mensch, in's Titanische sich steigernd, erk?mpft sich selbst seine Cultur und zwingt die G?tter sich mit ihm zu verbinden, weil er in seiner selbsteignen Weisheit die Existenz und die Schranken derselben in seiner Hand hat. Das Wunderbarste an jenem Prometheusgedicht, das seinem Grundgedanken nach der eigentliche Hymnus der Unfr?mmigkeit ist, ist aber der tiefe aeschyleische Zug nach Gerechtigkeit: das unermessliche Leid des k?hnen "Einzelnen" auf der einen Seite, und die g?ttliche Noth, ja Ahnung einer G?tterd?mmerung auf der andern, die zur Vers?hnung, zum metaphysischen Einssein zwingende Macht jener beiden Leidenswelten - dies alles erinnert auf das St?rkste an den Mittelpunkt und Hauptsatz der aeschyleischen Weltbetrachtung, die ?ber G?ttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtigkeit thronen sieht. Bei der erstaunlichen K?hnheit, mit der Aeschylus die olympische Welt auf seine Gerechtigkeitswagschalen stellt, m?ssen wir uns vergegenw?rtigen, dass der tiefsinnige Grieche einen unverr?ckbar festen Untergrund des metaphysischen Denkens in seinen Mysterien hatte, und dass sich an den Olympiern alle seine skeptischen Anwandelungen entladen konnten. Der griechische K?nstler insbesondere empfand im Hinblick auf diese Gottheiten ein dunkles Gef?hl wechselseitiger Abh?ngigkeit: und gerade im Prometheus des Aeschylus ist dieses Gef?hl symbolisirt. Der titanische K?nstler fand in sich den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und olympische G?tter wenigstens vernichten zu k?nnen: und dies durch seine h?here Weisheit, die er freilich durch ewiges Leiden zu b?ssen gezwungen war. Das herrliche "K?nnen" des grossen Genius, das selbst mit ewigem Leide zu gering bezahlt ist, der herbe Stolz des K?nstlers - das ist Inhalt und Seele der aeschyleischen Dichtung, w?hrend Sophokles in seinem Oedipus das Siegeslied des Heiligen pr?ludirend anstimmt. Aber auch mit jener Deutung, die Aeschylus dem Mythus gegeben hat, ist dessen erstaunliche Schreckenstiefe nicht ausgemessen: vielmehr ist die Werdelust des K?nstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des k?nstlerischen Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt. Die Prometheussage ist ein urspr?ngliches Eigenthum der gesammten arischen V?lkergemeinde und ein Document f?r deren Begabung zum Tiefsinnig-Tragischen, ja es m?chte nicht ohne Wahrscheinlichkeit sein, dass diesem Mythus f?r das arische Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung innewohnt, die der S?ndenfallmythus f?r das semitische hat, und dass zwischen beiden Mythen ein Verwandtschaftsgrad existiert, wie zwischen Bruder und Schwester. Die Voraussetzung jenes Prometheusmythus ist der ?berschw?ngliche Werth, den eine naive Menschheit dem Feuer beilegt als dem wahren Palladium jeder aufsteigenden Cultur: dass aber der Mensch frei ?ber das Feuer waltet und es nicht nur durch ein Geschenk vom Himmel, als z?ndenden Blitzstrahl oder w?rmenden Sonnenbrand empf?ngt, erschien jenen beschaulichen Ur-Menschen als ein Frevel, als ein Raub an der g?ttlichen Natur. Und so stellt gleich das erste philosophische Problem einen peinlichen unl?sbaren Widerspruch zwischen Mensch und Gott hin und r?ckt ihn wie einen Felsblock an die Pforte jeder Cultur. Das Beste und H?chste, dessen die Menschheit theilhaftig werden kann, erringt sie durch einen Frevel und muss nun wieder seine Folgen dahinnehmen, n?mlich die ganze Fluth von Leiden und von K?mmernissen mit denen die beleidigten Himmlischen das edel emporstrebende Menschengeschlecht heimsuchen - m?ssen: ein herber Gedanke, der durch die W?rde, die er dem Frevel ertheilt, seltsam gegen den semitischen S?ndenfallmythus absticht, in welchem die Neugierde, die l?gnerische Vorspiegelung, die Verf?hrbarkeit, die L?sternheit, kurz eine Reihe vornehmlich weiblicher Affectionen als der Ursprung des Uebels angesehen wurde. Das, was die arische Vorstellung auszeichnet, ist die erhabene Ansicht von der activen S?nde als der eigentlich prometheischen Tugend: womit zugleich der ethische Untergrund der pessimistischen Trag?die gefunden ist, als die Rechtfertigung des menschlichen Uebels, und zwar sowohl der menschlichen Schuld, als des dadurch verwirkten Leidens. Das Unheil im Wesen der Dinge - das der beschauliche Arier nicht geneigt ist wegzudeuteln -, der Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm als ein Durcheinander verschiedener Welten, z.B. einer g?ttlichen und einer menschlichen, von denen jede als Individuum im Recht ist, aber als einzelne neben einer andern f?r ihre Individuation zu leiden hat. Bei dem heroischen Drange des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem Versuche ?ber den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das eine Weltwesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den Dingen verborgenen Urwiderspruch d.h. er frevelt und leidet. So wird von den Ariern der Frevel als Mann, von den Semiten die S?nde als Weib verstanden, so wie auch der Urfrevel vom Manne, die Urs?nde vom Weibe begangen wird. Uebrigens sagt der Hexenchor:

"Wir nehmen das nicht so genau: Mit tausend Schritten macht's die Frau; Doch wie sie auch sich eilen kann, Mit einem Sprunge macht's der Mann".

Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht - n?mlich die dem titanisch strebenden Individuum gebotene Nothwendigkeit des Frevels - der muss auch zugleich das Unapollinische dieser pessimistischen Vorstellung empfinden; denn Apollo will die Einzelwesen gerade dadurch zur Ruhe bringen, dass er Grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass er immer wieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mit seinen Forderungen der Selbsterkenntniss und des Maasses erinnert. Damit aber bei dieser apollinischen Tendenz die Form nicht zu ?gyptischer Steifigkeit und K?lte erstarre, damit nicht unter dem Bem?hen, der einzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereich vorzuschreiben, die Bewegung des ganzen See's ersterbe, zerst?rte von Zeit zu Zeit wieder die hohe Fluth des Dionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die der einseitig apollinische "Wille" das Hellenenthum zu bannen suchte. Jene pl?tzlich anschwellende Fluth des Dionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen Wellenberge der Individuen auf ihren R?cken, wie der Bruder des Prometheus, der Titan Atlas, die Erde. Dieser titanische Drang, gleichsam der Atlas aller Einzelnen zu werden und sie mit breitem R?cken h?her und h?her, weiter und weiter zu tragen, ist das Gemeinsame zwischen dem Prometheischen und dem Dionysischen. Der aeschyleische Prometheus ist in diesem Betracht eine dionysische Maske, w?hrend in jenem vorhin erw?hnten tiefen Zuge nach Gerechtigkeit Aeschylus seine v?terliche Abstammung von Apollo, dem Gotte der Individuation und der Gerechtigkeitsgrenzen, dem Einsichtigen verr?th. Und so m?chte das Doppelwesen des aeschyleischen Prometheus, seine zugleich dionysische und apollinische Natur in begrifflicher Formel so ausgedr?ckt werden k?nnen: "Alles Vorhandene ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt."

Das ist deine Welt! Das heisst eine Welt! -

Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die griechische Trag?die in ihrer ?ltesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte und dass der l?ngere Zeit hindurch einzig vorhandene B?hnenheld eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, dass niemals bis auf Euripides Dionysus aufgeh?rt hat, der tragische Held zu sein, sondern dass alle die ber?hmten Figuren der griechischen B?hne Prometheus, Oedipus u.s.w. nur Masken jenes urspr?nglichen Helden Dionysus sind. Dass hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt, das ist der eine wesentliche Grund f?r die so oft angestaunte typische "Idealit?t" jener ber?hmten Figuren. Es hat ich weiss nicht wer behauptet, dass alle Individuen als Individuen komisch und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen w?re, dass die Griechen ?berhaupt Individuen auf der tragischen B?hne nicht ertragen konnten. In der That scheinen sie so empfunden zu haben: wie ?berhaupt jene platonische Unterscheidung und Werthabsch?tzung der "Idee" im Gegensatze zum "Idol", zum Abbild tief im hellenischen Wesen begr?ndet liegt. Um uns aber der Terminologie Plato's zu bedienen, so w?re von den tragischen Gestalten der hellenischen B?hne etwa so zu reden: der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines k?mpfenden Helden und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, ?hnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und dass er ?berhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deutlichkeit erscheint, ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen dionysischen Zustand durch jene gleichnissartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wundervolle Mythen erz?hlen, wie er als Knabe von den Titanen zerst?ckelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt werde: wobei angedeutet wird, dass diese Zerst?ckelung, das eigentlich dionysische Leiden, gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, dass wir also den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten h?tten. Aus dem L?cheln dieses Dionysus sind die olympischen G?tter, aus seinen Thr?nen die Menschen entstanden. In jener Existenz als zerst?ckelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten D?mons und eines milden sanftm?thigen Herrschers. Die Hoffnung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser Hoffnung giebt es einen Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertr?mmerten Welt: wie es der Mythus durch die in ewige Trauer versenkte Demeter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder sich freut, als man ihr sagt, sie k?nne den Dionysus nocheinmal geb?ren. In den angef?hrten Anschauungen haben wir bereits alle Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und zugleich damit die Mysterienlehre der Trag?die zusammen: die Grunderkenntniss von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Uebels, die Kunst als die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit. -

Es ist fr?her angedeutet worden, dass das homerische Epos die Dichtung der olympischen Cultur ist, mit der sie ihr eignes Siegeslied ?ber die Schrecken des Titanenkampfes gesungen hat. Jetzt, unter dem ?berm?chtigen Einflusse der tragischen Dichtung, werden die homerischen Mythen von Neuem umgeboren und zeigen in dieser Metempsychose, dass inzwischen auch die olympische Cultur von einer noch tieferen Weltbetrachtung besiegt worden ist. Der trotzige Titan Prometheus hat es seinem olympischen Peiniger angek?ndigt, dass einst seiner Herrschaft die h?chste Gefahr drohe, falls er nicht zur rechten Zeit sich mit ihm verbinden werde. In Aeschylus erkennen wir das B?ndniss des erschreckten, vor seinem Ende bangenden Zeus mit dem Titanen. So wird das fr?here Titanenzeitalter nachtr?glich wieder aus dem Tartarus ans Licht geholt. Die Philosophie der wilden und nackten Natur schaut die vor?bertanzenden Mythen der homerischen Welt mit der unverh?llten Miene der Wahrheit an: sie erbleichen, sie zittern vor dem blitzartigen Auge dieser G?ttin - bis sie die m?chtige Faust des dionysischen K?nstlers in den Dienst der neuen Gottheit zwingt. Die dionysische Wahrheit ?bernimmt das gesammte Bereich des Mythus als Symbolik ihrer Erkenntnisse und spricht diese theils in dem ?ffentlichen Cultus der Trag?die, theils in den geheimen Begehungen dramatischer Mysterienfeste, aber immer unter der alten mythischen H?lle aus. Welche Kraft war dies, die den Prometheus von seinen Geiern befreite und den Mythus zum Vehikel dionysischer Weisheit umwandelte? Dies ist die heraklesm?ssige Kraft der Musik: als welche, in der Trag?die zu ihrer h?chsten Erscheinung gekommen, den Mythus mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit zu interpretiren weiss; wie wir dies als das m?chtigste Verm?gen der Musik fr?her schon zu charakterisiren hatten. Denn es ist das Loos jedes Mythus, allm?hlich in die Enge einer angeblich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend einer sp?teren Zeit als einmaliges Factum mit historischen Anspr?chen behandelt zu werden: und die Griechen waren bereits v?llig auf dem Wege, ihren ganzen mythischen Jugendtraum mit Scharfsinn und Willk?r in eine historisch-pragmatische Jugendgeschichte umzustempeln. Denn dies ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn n?mlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen, verstandesm?ssigen Augen eines rechtgl?ubigen Dogmatismus als eine fertige Summe von historischen Ereignissen systematisirt werden und man anf?ngt, ?ngstlich die Glaubw?rdigkeit der Mythen zu vertheidigen, aber gegen jedes nat?rliche Weiterleben und Weiterwuchern derselben sich zu str?uben, wenn also das Gef?hl f?r den Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen tritt. Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt der neugeborne Genius der dionysischen Musik: und in seiner Hand bl?hte er noch einmal, mit Farben, wie er sie noch nie gezeigt, mit einem Duft, der eine sehns?chtige Ahnung einer metaphysischen Welt erregte. Nach diesem letzten Aufgl?nzen f?llt er zusammen, seine Bl?tter werden welk, und bald haschen die sp?ttischen Luciane des Alterthums nach den von allen Winden fortgetragnen, entf?rbten und verw?steten Blumen. Durch die Trag?die kommt der Mythus zu seinem tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form; noch einmal erhebt er sich, wie ein verwundeter Held, und der ganze Ueberschuss von Kraft, sammt der weisheitsvollen Ruhe des Sterbenden, brennt in seinem Auge mit letztem, m?chtigem Leuchten.

Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen Sterbenden noch einmal zu deinem Frohndienste zu zwingen suchtest? Er starb unter deinen gewaltsamen H?nden: und jetzt brauchtest du einen nachgemachten, maskirten Mythus, der sich wie der Affe des Herakles mit dem alten Prunke nur noch aufzuputzen wusste. Und wie dir der Mythus starb, so starb dir auch der Genius der Musik: mochtest du auch mit gierigem Zugreifen alle G?rten der Musik pl?ndern, auch so brachtest du es nur zu einer nachgemachten maskirten Musik. Und weil du Dionysus verlassen, so verliess dich auch Apollo; jage alle Leidenschaften von ihrem Lager auf und banne sie in deinen Kreis, spitze und feile dir f?r die Reden deiner Helden eine sophistische Dialektik zurecht - auch deine Helden haben nur nachgeahmte maskirte Leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskirte Reden.

Die griechische Trag?die ist anders zu Grunde gegangen als s?mmtliche ?ltere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb durch Selbstmord, in Folge eines unl?sbaren Conflictes, also tragisch, w?hrend jene alle in hohem Alter des sch?nsten und ruhigsten Todes verblichen sind. Wenn es n?mlich einem gl?cklichen Naturzustande gem?ss ist, mit sch?ner Nachkommenschaft und ohne Krampf vom Leben zu scheiden, so zeigt uns das Ende jener ?lteren Kunstgattungen einen solchen gl?cklichen Naturzustand: sie tauchen langsam unter, und vor ihren ersterbenden Blicken steht schon ihr sch?nerer Nachwuchs und reckt mit muthiger Geb?rde ungeduldig das Haupt. Mit dem Tode der griechischen Trag?die dagegen entstand eine ungeheure, ?berall tief empfundene Leere; wie einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem einsamen Eiland den ersch?tternden Schrei h?rten "der grosse Pan ist todt": so klang es jetzt wie ein schmerzlicher Klageton durch die hellenische Welt: "die Trag?die ist todt! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren gegangen! Fort, fort mit euch verk?mmerten, abgemagerten Epigonen! Fort in den Hades, damit ihr euch dort an den Brosamen der vormaligen Meister einmal satt essen k?nnt!"

Als aber nun doch noch eine neue Kunstgattung aufbl?hte, die in der Trag?die ihre Vorg?ngerin und Meisterin verehrte, da war mit Schrecken wahrzunehmen, dass sie allerdings die Z?ge ihrer Mutter trage, aber dieselben, die jene in ihrem langen Todeskampfe gezeigt hatte. Diesen Todeskampf der Trag?die k?mpfte Euripides; jene sp?tere Kunstgattung ist als neue reattische Kom?die bekannt. In ihr lebte die entartete Gestalt der Trag?die fort, zum Denkmale ihres ?beraus m?hseligen und gewaltsamen Hinscheidens.

Bei diesem Zusammenhange ist die leidenschaftliche Zuneigung begreiflich, welche die Dichter der neueren Kom?die zu Euripides empfanden; so dass der Wunsch des Philemon nicht weiter befremdet, der sich sogleich aufh?ngen lassen mochte, nur um den Euripides in der Unterwelt aufsuchen zu k?nnen: wenn er nur ?berhaupt ?berzeugt sein d?rfte, dass der Verstorbene auch jetzt noch bei Verstande sei. Will man aber in aller K?rze und ohne den Anspruch, damit etwas Ersch?pfendes zu sagen, dasjenige bezeichnen, was Euripides mit Menander und Philemon gemein hat und was f?r jene so aufregend vorbildlich wirkte: so gen?gt es zu sagen, dass der Zuschauer von Euripides auf die B?hne gebracht worden ist. Wer erkannt hat, aus welchem Stoffe die prometheischen Tragiker vor Euripides ihre Helden formten und wie ferne ihnen die Absicht lag, die treue Maske der Wirklichkeit auf die B?hne zu bringen, der wird auch ?ber die g?nzlich abweichende Tendenz des Euripides im Klaren sein. Der Mensch des allt?glichen Lebens drang durch ihn aus den Zuschauerr?umen auf die Scene, der Spiegel, in dem fr?her nur die grossen und k?hnen Z?ge zum Ausdruck kamen, zeigte jetzt jene peinliche Treue, die auch die misslungenen Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der typische Hellene der ?lteren Kunst, sank jetzt unter den H?nden der neueren Dichter zur Figur des Graeculus herab, der von jetzt ab als gutm?thigverschmitzter Haussclave im Mittelpunkte des dramatischen Interesse's steht. Was Euripides sich in den aristophanischen "Fr?schen" zum Verdienst anrechnet, dass er die tragische Kunst durch seine Hausmittel von ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe, das ist vor allem an seinen tragischen Helden zu sp?ren. Im Wesentlichen sah und h?rte jetzt der Zuschauer seinen Doppelg?nger auf der euripideischen B?hne und freute sich, dass jener so gut zu reden verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht: man lernte selbst bei Euripides sprechen, und dessen r?hmt er sich selbst im Wettkampfe mit Aeschylus: wie durch ihn jetzt das Volk kunstm?ssig und mit den schlausten Sophisticationen zu beobachten, zu verhandeln und Folgerungen zu ziehen gelernt habe. Durch diesen Umschwung der ?ffentlichen Sprache hat er ?berhaupt die neuere Kom?die m?glich gemacht. Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr, wie und mit welchen Sentenzen die Allt?glichkeit sich auf der B?hne vertreten k?nne. Die b?rgerliche Mittelm?ssigkeit, auf die Euripides alle seine politischen Hoffnungen aufbaute, kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin in der Trag?die der Halbgott, in der Kom?die der betrunkene Satyr oder der Halbmensch den Sprachcharakter bestimmt hatten. Und so hebt der aristophanische Euripides zu seinem Preise hervor, wie er das allgemeine, allbekannte, allt?gliche Leben und Treiben dargestellt habe, ?ber das ein Jeder zu urtheilen bef?higt sei. Wenn jetzt die ganze Masse philosophiere, mit unerh?rter Klugheit Land und Gut verwalte und ihre Prozesse f?hre, so sei dies sein Verdienst und der Erfolg der von ihm dem Volke eingeimpften Weisheit.

An eine derartig zubereitete und aufgekl?rte Masse durfte sich jetzt die neuere Kom?die wenden, f?r die Euripides gewissermaassen der Chorlehrer geworden ist; nur dass diesmal der Chor der Zuschauer einge?bt werden musste. Sobald dieser in der euripideischen Tonart zu singen ge?bt war, erhob sich jene schachspielartige Gattung des Schauspiels, die neuere Kom?die mit ihrem fortw?hrenden Triumphe der Schlauheit und Verschlagenheit. Euripides aber - der Chorlehrer - wurde unaufh?rlich gepriesen: ja man w?rde sich get?dtet haben, um noch mehr von ihm zu lernen, wenn man nicht gewusst h?tte, dass die tragischen Dichter eben so todt seien wie die Trag?die. Mit ihr aber hatte der Hellene den Glauben an seine Unsterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glauben an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den Glauben an eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekannten Grabschrift "als Greis leichtsinnig und grillig" gilt auch vom greisen Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, der Leichtsinn, die Laune sind seine h?chsten Gottheiten; der f?nfte Stand, der des Sclaven, kommt, wenigstens der Gesinnung nach, jetzt zur Herrschaft: und wenn jetzt ?berhaupt noch von "griechischer Heiterkeit" die Rede sein darf, so ist es die Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu verantworten, nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zuk?nftiges h?her zu sch?tzen weiss als das Gegenw?rtige. Dieser Schein der "griechischen Heiterkeit" war es, der die tiefsinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christenthums so emp?rte: ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sichgen?genlassen am bequemen Genuss nicht nur ver?chtlich, sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung. Und ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass die durch Jahrhunderte fortlebende Anschauung des griechischen Alterthums mit fast un?berwindlicher Z?higkeit jene blassrothe Heiterkeitsfarbe festhielt - als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit seiner Geburt der Trag?die, seinen Mysterien, seinen Pythagoras und Heraklit gegeben h?tte, ja als ob die Kunstwerke der grossen Zeit gar nicht vorhanden w?ren, die doch - jedes f?r sich - aus dem Boden einer solchen greisenhaften und sclavenm?ssigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht zu erkl?ren sind und auf eine v?llig andere Weltbetrachtung als ihren Existenzgrund hinweisen.

Wenn zuletzt behauptet wurde, dass Euripides den Zuschauer auf die B?hne gebracht habe, um zugleich damit den Zuschauer zum Urtheil ?ber das Drama erst wahrhaft zu bef?higen, so entsteht der Schein, als ob die ?ltere tragische Kunst aus einem Missverh?ltniss zum Zuschauer nicht herausgekommen sei und man m?chte versucht sein, die radicale Tendenz des Euripides, ein entsprechendes Verh?ltniss zwischen Kunstwerk und Publicum zu erzielen, als einen Fortschritt ?ber Sophokles hinaus zu preisen. Nun aber ist "Publicum" nur ein Wort und durchaus keine gleichartige und in sich verharrende Gr?sse. Woher soll dem K?nstler die Verpflichtung kommen, sich einer Kraft zu accomodieren, die ihre St?rke nur in der Zahl hat? Und wenn er sich, seiner Begabung und seinen Absichten nach, ?ber jeden einzelnen dieser Zuschauer erhaben f?hlt, wie d?rfte er vor dem gemeinsamen Ausdruck aller dieser ihm untergeordneten Capacit?ten mehr Achtung empfinden als vor dem relativ am h?chsten begabten einzelnen Zuschauer? In Wahrheit hat kein griechischer K?nstler mit gr?sserer Verwegenheit und Selbstgenugsamkeit sein Publicum durch ein langes Leben hindurch behandelt als gerade Euripides: er, der selbst da noch, als die Masse sich ihm zu F?ssen warf, in erhabenem Trotze seiner eigenen Tendenz ?ffentlich in's Gesicht schlug, derselben Tendenz, mit der er ?ber die Masse gesiegt hatte. Wenn dieser Genius die geringste Ehrfurcht vor dem Pand?monium des Publicums gehabt h?tte, so w?re er unter den Keulenschl?gen seiner Misserfolge l?ngst vor der Mitte seiner Laufbahn zusammengebrochen. Wir sehen bei dieser Erw?gung, dass unser Ausdruck, Euripides habe den Zuschauer auf die B?hne gebracht, um den Zuschauer wahrhaft urtheilsf?hig zu machen, nur ein provisorischer war, und dass wir nach einem tieferen Verst?ndniss seiner Tendenz zu suchen haben. Umgekehrt ist es ja allerseits bekannt, wie Aeschylus und Sophokles Zeit ihres Lebens, ja weit ?ber dasselbe hinaus, im Vollbesitze der Volksgunst standen, wie also bei diesen Vorg?ngern des Euripides keineswegs von einem Missverh?ltniss zwischen Kunstwerk und Publicum die Rede sein kann. Was trieb den reichbegabten und unabl?ssig zum Schaffen gedr?ngten K?nstler so gewaltsam von dem Wege ab, ?ber dem die Sonne der gr?ssten Dichternamen und der unbew?lkte Himmel der Volksgunst leuchteten? Welche sonderbare R?cksicht auf den Zuschauer f?hrte ihn dem Zuschauer entgegen? Wie konnte er aus zu hoher Achtung vor seinem Publicum - sein Publicum missachten?

Euripides f?hlte sich - das ist die L?sung des eben dargestellten R?thsels - als Dichter wohl ?ber die Masse, nicht aber ?ber, zwei seiner Zuschauer erhaben: die Masse brachte er auf die B?hne, jene beiden Zuschauer verehrte er als die allein urtheilsf?higen Richter und Meister aller seiner Kunst: ihren Weisungen und Mahnungen folgend ?bertrug er die ganze Welt von Empfindungen, Leidenschaften und Erfahrungen, die bis jetzt auf den Zuschauerb?nken als unsichtbarer Chor zu jeder Festvorstellung sich einstellten, in die Seelen seiner B?hnenhelden, ihren Forderungen gab er nach, als er f?r diese neuen Charaktere auch das neue Wort und den neuen Ton suchte, in ihren Stimmen allein h?rte er die g?ltigen Richterspr?che seines Schaffens eben so wie die siegverheissende Ermuthigung, wenn er von der Justiz des Publicums sich wieder einmal verurtheilt sah.

Von diesen beiden Zuschauern ist der eine - Euripides selbst, Euripides als Denker, nicht als Dichter. Von ihm k?nnte man sagen, dass die ausserordentliche F?lle seines kritischen Talentes, ?hnlich wie bei Lessing, einen productiv k?nstlerischen Nebentrieb wenn nicht erzeugt, so doch fortw?hrend befruchtet habe. Mit dieser Begabung, mit aller Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens hatte Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den Meisterwerken seiner grossen Vorg?nger wie an dunkelgewordenen Gem?lden Zug um Zug, Linie um Linie wiederzuerkennen. Und hier nun war ihm begegnet, was dem in die tieferen Geheimnisse der aeschyleischen Trag?die Eingeweihten nicht unerwartet sein darf: er gewahrte etwas Incommensurables in jedem Zug und in jeder Linie, eine gewisse t?uschende Bestimmtheit und zugleich eine r?thselhafte Tiefe, ja Unendlichkeit des Hintergrundes. Die klarste Figur hatte immer noch einen Kometenschweif an sich, der in's Ungewisse, Unaufhellbare zu deuten schien. Dasselbe Zwielicht lag ?ber dem Bau des Drama's, zumal ?ber der Bedeutung des Chors. Und wie zweifelhaft blieb ihm die L?sung der ethischen Probleme! Wie fragw?rdig die Behandlung der Mythen! Wie ungleichm?ssig die Vertheilung von Gl?ck und Ungl?ck! Selbst in der Sprache der ?lteren Trag?die war ihm vieles anst?ssig, mindestens r?thselhaft; besonders fand er zu viel Pomp f?r einfache Verh?ltnisse, zu viel Tropen und Ungeheuerlichkeiten f?r die Schlichtheit der Charaktere. So sass er, unruhig gr?belnd, im Theater, und er, der Zuschauer, gestand sich, dass er seine grossen Vorg?nger nicht verstehe. Galt ihm aber der Verstand als die eigentliche Wurzel alles Geniessens und Schaffens, so musste er fragen und um sich schauen, ob denn Niemand so denke wie er und sich gleichfalls jene Incommensurabilit?t eingestehe. Aber die Vielen und mit ihnen die besten Einzelnen hatten nur ein misstrauisches L?cheln f?r ihn; erkl?ren aber konnte ihm Keiner, warum seinen Bedenken und Einwendungen gegen?ber die grossen Meister doch im Rechte seien. Und in diesem qualvollen Zustande fand er den anderen Zuschauer, der die Trag?die nicht begriff und deshalb nicht achtete. Mit diesem im Bunde durfte er es wagen, aus seiner Vereinsamung heraus den ungeheuren Kampf gegen die Kunstwerke des Aeschylus und Sophokles zu beginnen - nicht mit Streitschriften, sondern als dramatischer Dichter, der seine Vorstellung von der Trag?die der ?berlieferten entgegenstellt. -

Bevor wir diesen anderen Zuschauer bei Namen nennen, verharren wir hier einen Augenblick, um uns jenen fr?her geschilderten Eindruck des Zwiesp?ltigen und Incommensurabeln im Wesen der aeschyleischen Trag?die selbst in's Ged?chtniss zur?ckzurufen. Denken wir an unsere eigene Befremdung dem Chore und dem tragischen Helden jener Trag?die gegen?ber, die wir beide mit unseren Gewohnheiten ebensowenig wie mit der Ueberlieferung zu reimen wussten - bis wir jene Doppelheit selbst als Ursprung und Wesen der griechischen Trag?die wiederfanden, als den Ausdruck zweier in einander gewobenen Kunsttriebe, des Apollinischen und des Dionysischen.

Jenes urspr?ngliche und allm?chtige dionysische Element aus der Trag?die auszuscheiden und sie rein und neu auf undionysischer Kunst, Sitte und Weltbetrachtung aufzubauen - dies ist die jetzt in heller Beleuchtung sich uns enth?llende Tendenz des Euripides.

Euripides selbst hat am Abend seines Lebens die Frage nach dem Werth und der Bedeutung dieser Tendenz in einem Mythus seinen Zeitgenossen auf das Nachdr?cklichste vorgelegt. Darf ?berhaupt das Dionysische bestehn? Ist es nicht mit Gewalt aus dem hellenischen Boden auszurotten? Gewiss, sagt uns der Dichter, wenn es nur m?glich w?re: aber der Gott Dionysus ist zu m?chtig; der verst?ndigste Gegner - wie Pentheus in den "Bacchen" - wird unvermuthet von ihm bezaubert und l?uft nachher mit dieser Verzauberung in sein Verh?ngniss. Das Urtheil der beiden Greise Kadmus und Tiresias scheint auch das Urtheil des greisen Dichters zu sein: das Nachdenken der kl?gsten Einzelnen werfe jene alten Volkstraditionen, jene sich ewig fortpflanzende Verehrung des Dionysus nicht um, ja es gezieme sich, solchen wunderbaren Kr?ften gegen?ber, mindestens eine diplomatisch vorsichtige Theilnahme zu zeigen: wobei es aber immer noch m?glich sei, dass der Gott an einer so lauen Betheiligun; Anstoss nehme und den Diplomaten - wie hier den Kadmus - schliesslich in einen Drachen verwandle. Dies sagt uns ein Dichter, der mit heroischer Kraft ein langes Leben hindurch dem Dionysus widerstanden hat - um am Ende desselben mit einer Glorification seines Gegners und einem Selbstmorde seine Laufhahn zu schliessen, einem Schwindelnden gleich, der, um nur dem entsetzlichen, nicht mehr ertr?glichen Wirbel zu entgehn, sich vom Thurme herunterst?rzt. Jene Trag?die ist ein Protest gegen die Ausf?hrbarkeit seiner Tendenz; ach, und sie war bereits ausgef?hrt! Das Wunderbare war geschehn: als der Dichter widerrief, hatte bereits seine Tendenz gesiegt. Dionysus war bereits von der tragischen B?hne verscheucht und zwar durch eine aus Euripides redende d?monische Macht. Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner D?mon, genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Trag?die ging an ihm zu Grunde. Mag nun auch Euripides uns durch seinen Widerruf zu tr?sten suchen, es gelingt ihm nicht: der herrlichste Tempel liegt in Tr?mmern; was n?tzt uns die Wehklage des Zerst?rers und sein Gest?ndniss, dass es der sch?nste aller Tempel gewesen sei? Und selbst dass Euripides zur Strafe von den Kunstrichtern aller Zeiten in einen Drachen verwandelt worden ist - wen m?chte diese erb?rmliche Compensation befriedigen?

N?hern wir uns jetzt jener sokratischen Tendenz, mit der Euripides die aeschyleische Trag?die bek?mpfte und besiegte.

Welches Ziel - so m?ssen wir uns jetzt fragen - konnte die euripideische Absicht, das Drama allein auf das Undionysische zu gr?nden, in der h?chsten Idealit?t ihrer Durchf?hrung ?berhaupt haben? Welche Form des Drama's blieb noch ?brig, wenn es nicht aus dem Geburtsschoosse der Musik, in jenem geheimnissvollen Zwielicht des Dionysischen geboren werden sollte? Allein das dramatisirte Epos: in welchem apollinischen Kunstgebiete nun freilich die tragische Wirkung unerreichbar ist. Es kommt hierbei nicht auf den Inhalt der dargestellten Ereignisse an; ja ich m?chte behaupten, dass es Goethe in seiner projectirten "Nausikaa" unm?glich gewesen sein w?rde, den Selbstmord jenes idyllischen Wesens - der den f?nften Act ausf?llen sollte - tragisch ergreifend zu machen; so ungemein ist die Gewalt des Episch-Apollinischen, dass es die schreckensvollsten Dinge mit jener Lust am Scheine und der Erl?sung durch den Schein vor unseren Augen verzaubert. Der Dichter des dramatisirten Epos kann eben so wenig wie der epische Rhapsode mit seinen Bildern v?llig verschmelzen: er ist immer noch ruhig unbewegte, aus weiten Augen blickende Anschauung, die die Bilder vorsich sieht. Der Schauspieler in diesem dramatisirten Epos bleibt im tiefsten Grunde immer noch Rhapsode; die Weihe des inneren Tr?umens liegt auf allen seinen Actionen, so dass er niemals ganz Schauspieler ist.

Wie verh?lt sich nun diesem Ideal des apollinischen Drama's gegen?ber das euripideische St?ck? Wie zu dem feierlichen Rhapsoden der alten Zeit jener j?ngere, der sein Wesen im platonischen "Jon" also beschreibt: "Wenn ich etwas Trauriges sage, f?llen sich meine Augen mit Thr?nen; ist aber das, was ich sage, schrecklich und entsetzlich, dann stehen die Haare meines Hauptes vor Schauder zu Berge, und mein Herz klopft." Hier merken wir nichts mehr von jenem epischen Verlorensein im Scheine, von der affectlosen K?hle des wahren Schauspielers, der gerade in seiner h?chsten Th?tigkeit, ganz Schein und Lust am Scheine ist. Euripides ist der Schauspieler mit dem klopfenden Herzen, mit den zu Berge stehenden Haaren; als sokratischer Denker entwirft er den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler f?hrt er ihn aus. Reiner K?nstler ist er weder im Entwerfen noch im Ausf?hren. So ist das euripideische Drama ein zugleich k?hles und feuriges Ding, zum Erstarren und zum Verbrennen gleich bef?higt; es ist ihm unm?glich, die apollinische Wirkung des Epos zu erreichen, w?hrend es andererseits sich von den dionysischen Elementen m?glichst gel?st hat, und jetzt, um ?berhaupt zu wirken, neue Erregungsmittel braucht, die nun nicht mehr innerhalb der beiden einzigen Kunsttriebe, des apollinischen und des dionysischen, liegen k?nnen. Diese Erregungsmittel sind k?hle paradoxe Gedanken - an Stelle der apollinischen Anschauungen - und feurige Affecte - an Stelle der dionysischen Entz?ckungen - und zwar h?chst realistisch nachgemachte, keineswegs in den Aether der Kunst getauchte Gedanken und Affecte.

Haben wir demnach so viel erkannt, dass es Euripides ?berhaupt nicht gelungen ist, das Drama allein auf das Apollinische zu gr?nden, dass sich vielmehr seine undionysische Tendenz in eine naturalistische und unk?nstlerische verirrt hat, so werden wir jetzt dem Wesen des aesthetischen Sokratismus schon n?her treten d?rfen; dessen oberstes Gesetz ungef?hr so lautet: "alles muss verst?ndig sein, um sch?n zu sein"; als Parallelsatz zu dem sokratischen "nur der Wissende ist tugendhaft." Mit diesem Kanon in der Hand maass Euripides alles Einzelne und rectificirte es gem?ss diesem Princip: die Sprache, die Charaktere, den dramaturgischen Aufbau, die Chormusik. Was wir im Vergleich mit der sophokleischen Trag?die so h?ufig dem Euripides als dichterischen Mangel und R?ckschritt anzurechnen pflegen, das ist zumeist das Product jenes eindringenden kritischen Prozesses, jener verwegenen Verst?ndigkeit. Der euripideische Prolog diene uns als Beispiel f?r die Productivit?t jener rationalistischen Methode. Nichts kann unserer B?hnentechnik widerstrebender sein als der Prolog im Drama des Euripides. Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange des St?ckes erz?hlt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe, was bis jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des St?ckes geschehen werde, das w?rde ein moderner Theaterdichter als ein muthwilliges und nicht zu verzeihendes Verzichtleisten auf den Effect der Spannung bezeichnen. Man weiss ja alles, was geschehen wird; wer wird abwarten wollen, dass dies wirklich geschieht? - da ja hier keinesfalls das aufregende Verh?ltniss eines wahrsagenden Traumes zu einer sp?ter eintretenden Wirklichkeit stattfindet. Ganz anders reflectirte Euripides. Die Wirkung der Trag?die beruhte niemals auf der epischen Spannung, auf der anreizenden Ungewissheit, was sich jetzt und nachher ereignen werde: vielmehr auf jenen grossen rhetorisch-lyrischen Scenen, in denen die Leidenschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem breiten und m?chtigen Strome anschwoll. Zum Pathos, nicht zur Handlung bereitete Alles vor: und was nicht zum Pathos vorbereitete, das galt als verwerflich. Das aber, was die genussvolle Hingabe an solche Scenen am st?rksten erschwert, ist ein dem Zuh?rer fehlendes Glied, eine L?cke im Gewebe der Vorgeschichte; so lange der Zuh?rer noch ausrechnen muss, was diese und jene Person bedeute, was dieser und jener Conflict der Neigungen und Absichten f?r Voraussetzungen habe, ist seine volle Versenkung in das Leiden und Thun der Hauptpersonen, ist das athemlose Mitleiden und Mitf?rchten noch nicht m?glich. Die aeschyleisch-sophokleische Trag?die verwandte die geistreichsten Kunstmittel, um dem Zuschauer in den ersten Scenen gewissermaassen zuf?llig alle jene zum Verst?ndniss nothwendigen F?den in die Hand zu geben: ein Zug, in dem sich jene edle K?nstlerschaft bew?hrt, die das nothwendige Formelle gleichsam maskirt und als Zuf?lliges erscheinen l?sst. Immerhin aber glaubte Euripides zu bemerken, dass w?hrend jener ersten Scenen der Zuschauer in eigenth?mlicher Unruhe sei, um das Rechenexempel der Vorgeschichte auszurechnen, so dass die dichterischen Sch?nheiten und das Pathos der Exposition f?r ihn verloren ginge. Deshalb stellte er den Prolog noch vor die Exposition und legte ihn einer Person in den Mund, der man Vertrauen schenken durfte: eine Gottheit musste h?ufig den Verlauf der Trag?die dem Publicum gewissermaassen garantieren und jeden Zweifel an der Realit?t des Mythus nehmen: in ?hnlicher Weise, wie Descartes die Realit?t der empirischen Welt nur durch die Appellation an die Wahrhaftigkeit Gottes und seine Unf?higkeit zur L?ge zu beweisen vermochte. Dieselbe g?ttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides noch einmal am Schlusse seines Drama's, um die Zukunft seiner Helden dem Publicum sicher zu stellen; dies ist die Aufgabe des ber?chtigten deux ex machina. Zwischen der epischen Vorschau und Hinausschau liegt die dramatischlyrische Gegenwart, das eigentliche "Drama."

So ist Euripides als Dichter vor allem der Wiederhall seiner bewussten Erkenntnisse; und gerade dies verleiht ihm eine so denkw?rdige Stellung in der Geschichte der griechischen Kunst.

Ihm muss im Hinblick auf sein kritisch-productives Schaffen oft zu Muthe gewesen sein als sollte er den Anfang der Schrift des Anaxagoras f?r das Drama lebendig machen, deren erste Worte lauten: "im Anfang war alles beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung." Und wenn Anaxagoras mit seinem "Nous" unter den Philosophen wie der erste N?chterne unter lauter Trunkenen erschien, so mag auch Euripides sein Verh?ltniss zu den anderen Dichtern der Trag?die unter einem ?hnlichen Bilde begriffen haben. So lange der einzige Ordner und Walter des Alls, der Nous, noch vom k?nstlerischen Schaffen ausgeschlossen war, war noch alles in einem chaotischen Urbrei beisammen; so musste Euripides urtheilen, so musste er die "trunkenen" Dichter als der erste "N?chterne" verurtheilen. Das, was Sophokles von Aeschylus gesagt hat, er thue das Rechte, obschon unbewusst, war gewiss nicht im Sinne des Euripides gesagt: der nur so viel h?tte gelten lassen, dass Aeschylus, weil er unbewusst schaffe, das Unrechte schaffe. Auch der g?ttliche Plato redet vom sch?pferischen Verm?gen des Dichters, insofern dies nicht die bewusste Einsicht ist, zu allermeist nur ironisch und stellt es der Begabung des Wahrsagers und Traumdeuters gleich; sei doch der Dichter nicht eher f?hig zu dichten als bis er bewusstlos geworden sei, und kein Verstand mehr in ihm wohne. Euripides unternahm es, wie es auch Plato unternommen hat, das Gegenst?ck des "unverst?ndigen" Dichters der Welt zu zeigen; sein aesthetischer Grundsatz "alles muss bewusst sein, um sch?n zu sein", ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem sokratischen "alles muss bewusst sein, um gut zu sein". Demgem?ss darf uns Euripides als der Dichter des aesthetischen Sokratismus gelten. Sokrates aber war jener zweite Zuschauer, der die ?ltere Trag?die nicht begriff und deshalb nicht achtete; mit ihm im Bunde wagte Euripides, der Herold eines neuen Kunstschaffens zu sein. Wenn an diesem die ?ltere Trag?die zu Grunde ging, so ist also der aesthetische Sokratismus das m?rderische Princip: insofern aber der Kampf gegen das Dionysische der ?lteren Kunst gerichtet war, erkennen wir in Sokrates den Gegner des Dionysus, den neuen Orpheus, der sich gegen Dionysus erhebt und, obschon bestimmt, von den M?naden des athenischen Gerichtshofes zerrissen zu werden, doch den ?berm?chtigen Gott selbst zur Flucht n?thigt: welcher, wie damals, als er vor dem Edonerk?nig Lykurg floh, sich in die Tiefen des Meeres rettete, n?mlich in die mystischen Fluthen eines die ganze Welt allm?hlich ?berziehenden Geheimcultus.

Dass Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zu Euripides habe, entging dem gleichzeitigen Alterthume nicht; und der beredteste Ausdruck f?r diesen gl?cklichen Sp?rsinn ist jene in Athen umlaufende Sage, Sokrates pflege dem Euripides im Dichten zu helfen. Beide Namen wurden von den Anh?ngern der "guten alten Zeit" in einem Athem genannt, wenn es galt, die Volksverf?hrer der Gegenwart aufzuz?hlen: von deren Einflusse es herr?hre, dass die alte marathonische vierschr?tige T?chtigkeit an Leib und Seele immer mehr einer zweifelhaften Aufkl?rung, bei fortschreitender Verk?mmerung der leiblichen und seelischen Kr?fte, zum Opfer falle. In dieser Tonart, halb mit Entr?stung, halb mit Verachtung, pflegt die aristophanische Kom?die von jenen M?nnern zu reden, zum Schrecken der Neueren, welche zwar Euripides gerne preisgeben, aber sich nicht genug dar?ber wundern k?nnen, dass Sokrates als der erste und oberste Sophist, als der Spiegel und Inbegriff aller sophistischen Bestrebungen bei Aristophanes erscheine: wobei es einzig einen Trost gew?hrt, den Aristophanes selbst als einen l?derlich l?genhaften Alcibiades der Poesie an den Pranger zu stellen. Ohne an dieser Stelle die tiefen Instincte des Aristophanes gegen solche Angriffe in Schutz zu nehmen, fahre ich fort, die enge Zusammengeh?rigkeit des Sokrates und des Euripides aus der antiken Empfindung heraus zu erweisen; in welchem Sinne namentlich daran zu erinnern ist, dass Sokrates als Gegner der tragischen Kunst sich des Besuchs der Trag?die enthielt, und nur, wenn ein neues St?ck des Euripides aufgef?hrt wurde, sich unter den Zuschauern einstellte. Am ber?hmtesten ist aber die nahe Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakelspruche, welcher Sokrates als den Weisesten unter den Menschen bezeichnet, zugleich aber das Urtheil abgab, dass dem Euripides der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit geb?hre.

Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophokles genannt; er, der sich gegen Aeschylus r?hmen durfte, er thue das Rechte und zwar, weil er wisse, was das Rechte sei. Offenbar ist gerade der Grad der Helligkeit dieses Wissens dasjenige, was jene drei M?nner gemeinsam als die drei "Wissenden" ihrer Zeit auszeichnet.

Das sch?rfste Wort aber f?r jene neue und unerh?rte Hochsch?tzung des Wissens und der Einsicht sprach Sokrates, als er sich als den Einzigen vorfand, der sich eingestehe, nichts zu wissen; w?hrend er, auf seiner kritischen Wanderung durch Athen, bei den gr?ssten Staatsm?nnern, Rednern, Dichtern und K?nstlern vorsprechend, ?berall die Einbildung des Wissens antraf. Mit Staunen erkannte er, dass alle jene Ber?hmtheiten selbst ?ber ihren Beruf ohne richtige und sichere Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben. "Nur aus Instinct": mit diesem Ausdruck ber?hren wir Herz und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus eben so die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er seine pr?fenden Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von diesem einen Punkte aus glaubte Sokrates das Dasein corrigieren zu m?ssen: er, der Einzelne, tritt mit der Miene der Nichtachtung und der Ueberlegenheit, als der Vorl?ufer einer ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in eine Welt hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum gr?ssten Gl?cke rechnen w?rden.

Dies ist die ungeheuere Bedenklichkeit, die uns jedesmal, Angesichts des Sokrates, ergreift und die uns immer und immer wieder anreizt, Sinn und Absicht dieser fragw?rdigsten Erscheinung des Alterthums zu erkennen. Wer ist das, der es wagen darf, als ein Einzelner das griechische Wesen zu verneinen, das als Homer, Pindar und Aeschylus, als Phidias, als Perikles, als Pythia und Dionysus, als der tiefste Abgrund und die h?chste H?he unserer staunenden Anbetung gewiss ist? Welche d?monische Kraft ist es, die diesen Zaubertrank in den Staub zu sch?tten sich erk?hnen darf? Welcher Halbgott ist es, dem der Geisterchor der Edelsten der Menschheit zurufen muss: "Weh! Weh! Du hast sie zerst?rt, die sch?ne Welt, mit m?chtiger Faust; sie st?rzt, sie zerf?llt!"

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