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Read Ebook: Der Streit über die Tragödie by Lipps Theodor

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Ebook has 115 lines and 22337 words, and 3 pages

Edition: 10

DER STREIT ?BER DIE TRAG?DIE

von

THEODOR LIPPS

Professor der Philosophie in Breslau.

Inhalt.

Einleitung. Die "Resignation" des tragischen Helden. Die "poetische Gerechtigkeit". Schuld und "Strafe". Die "sittliche Weltordnung". Das Ende der "poetischen Gerechtigkeit". Die "vor?bergehende Schmerzempfindung". Das Mitleid. Genaueres ?ber die Bedeutung des Leidens. Die Bestrafung der B?sen und die Macht des Guten. Zwei Gattungen der Trag?die. Trag?die und ernstes Schauspiel. Die poetische Motivierung. Der Untergang des Helden. Schluss.

EINLEITUNG.

So wenig wie die k?nstlerische Th?tigkeit, ebenso wenig ist auch unser Kunstgenuss bedingt durch die verst?ndesm?ssige Einsicht in die Gr?nde, auf denen die Wirkung des Kunstwerkes beruht. Und es ist gut, dass es sich so verh?lt. W?re es anders, aller Kunstgenuss geriete ins Schwanken. Vor allem d?rfte kein tragisches Kunstwerk auf eine sichere und bei allen gleichartige Wirkung rechnen. So gross ist die Unsicherheit und Gegens?tzlichkeit der Anschauungen ?ber den "Grund unseres Vergn?gens an tragischen Gegenst?nden."

Vielleicht beruht die falsche Theorie immerhin auf ?sthetischem Boden; sie ist hervorgegangen aus oberfl?chlicher und einseitiger Betrachtung des Kunstwerkes. Dies ist der bei weitem g?nstigere Fall. Schlimmer ist es, wenn eine der Kunst fremde Theorie, eine Welt- oder Lebensauffassung, wie sie der "Philosoph" aus der Betrachtung der Wirklichkeit gewonnen oder in seinen Mussestunden ertr?umt hat, dem Kunstwerk untergeschoben, und dies zum Mittel gemacht wird, jene Welt- oder Lebensauffassung zu verk?ndigen oder zu best?tigen.

DIE "RESIGNATION" DES TRAGISCHEN HELDEN.

Jener "Weltanschauung" aber soll nun auch die Trag?die zur Best?tigung dienen. Wir erfahren: in der Trag?die vollziehe der Held die Abwendung vom Dasein und Leben; daraus gewinne der Zuschauer den Trost, dass auch ihm ein Gleiches zu thun offen stehe. Die Trag?die erschliesse so dem Geiste "seine wahre Heimat und die Aussicht auf den stillen Hafen hinter der sturmbewegten See des Lebens."

Hier haben wir zun?chst neue Worte an Stelle des "Nichts". Schade, dass sie, so poetisch auch immer, und so wohlgeeignet die Leere des Nichts gef?llig zu verschleiern, doch auch nicht das Nichts in ein Etwas, wohl gar in ein begl?ckendes Etwas zu verwandeln verm?gen. Man k?nnte meinen, trotz der sch?nen Worte bleibe der Gedanke an jene Leere vielmehr der erschrecklichsten einer, und jene "trostreiche" Aussicht sei alles eher als trostreich.

Ich f?rchte nicht, dass man den Sinn und die Bedeutung dieser Frage verkenne. Die Fabel mag ausdr?cklich enden mit dem "Fabula docet", der Nutzanwendung, die sich an den Leser oder H?rer wendet; das Gleichnis mag sagen: "Gehe hin und thue desgleichen". Und wenn sie es nicht ausdr?cklich thun, so sollen wir doch die Lehre oder Nutzanwendung aus ihnen ziehen. Beide sind eben Belehrungen in k?nstlerischer Form, nicht reine Kunstwerke. Dagegen will das reine Kunstwerk nicht belehren, am wenigsten ?ber unsere "Aussichten". Oder was w?rde man sagen, wenn jemand aus dem Lustspiel, in dem der Held durchs grosse Loos aus materieller Not befreit wird, den tr?stlichen Gedanken z?ge, dass auch ihm dergleichen begegnen k?nne. Was w?rde man sagen, wenn er uns gar erkl?rte, dieser tr?stliche Gedanke sei eben der Grund und eigentliche Inhalt seines Kunstgenusses? Nun, genau dasselbe muss man von demjenigen sagen, der den Genuss am tragischen Kunstwerk auf irgend welche trostreiche Aussicht gr?ndet, die er f?r sich daraus zieht.

Es besteht aber gerade das Besondere des darstellenden Kunstwerkes, dasjenige, was es vor dem Sch?nen der Wirklichkeit jederzeit voraus hat, darin, dass es eine solche Welt f?r sich bildet, aller wirklichen Welt transcendent, v?llig losgel?st von unseren Wirklichkeitsinteressen; es ist das Auszeichnende des Genusses am darstellenden Kunstwerke, dass das Sch?ne in ihm zur Geltung kommt und wirkt, wie es an sich ist, genossen wird in dem Werte, den es an sich hat, nur verflochten in die Beziehungen, in die es im Kunstwerke verflochten erscheint.

Dagegen hebt jede Einmischung eines Gedankens, der sich auf das bezieht, was ausserhalb des Kunstwerkes liegt, jede Herzubringung eines Interesses ausser dem Interesse am Kunstwerk selbst und seinem Inhalte das eigentliche Wesen des Kunstwerkes auf. Die Vermengung ist nicht kl?ger als die von Traum und Wirklichkeit, der Versuch vor allem, "trostreiche" Gedanken f?r die Wirklichkeit aus dem Kunstwerke zu ziehen, nicht geistreicher als der Versuch, das Kapital, das man im Traume gewonnen, im wachen Leben auf Zinsen zu legen.

Dass die Veranlassung zur Preisgabe des Daseins beim Helden der Trag?die eine besondere, dass die Bedingungen seines Unterganges ausserordentliche zu sein pflegen, das tut ja doch wohl keine Frage. Man hat sogar diese Besonderheit oder Ausserordentlichkeit ?ber Geb?hr gesteigert. Der tragische Konflikt, sagte man, setze jederzeit eine "?berhebung" seitens des Helden voraus. Dies bezweifle ich. Ich w?sste wenigstens nicht, worin die ?berhebung einer EMILIA GALOTTI bestehen sollte. Aber lassen wir diesen Punkt hier noch unentschieden. Uns gen?gt, dass unter Voraussetzung gewisser, nicht allt?glicher Bedingungen, und nur unter Voraussetzung derselben, der tragische Held sich vom Leben abzuwenden pflegt.

Daran ?ndert auch die Behauptung nichts, dass in jedem Menschen Konflikte "ruhen", die ihrer Natur nach unvers?hnlich sind, und dass es nur der Zuf?lligkeit der Verh?ltnisse zu danken sei, wenn sie nicht zum Ausbruch kommen. Denn die ruhenden, nicht aufgebrochenen Konflikte, das sind eben doch Konflikte, die thats?chlich nicht bestehen. Vielleicht brechen sie einmal aus. Aber die Unsicherheit, ob sie ausbrechen werden, ob wir also Aussicht haben, es dem Helden einmal nachmachen zu k?nnen oder nicht, das Hangen und Bangen zwischen dieser Aussicht und der g?nzlichen Aussichtslosigkeit muss uns in einen Zustand marternder Unruhe versetzen, der erst recht das Gegenteil ist von der erhebenden Wirkung des tragischen Kunstwerks.

Freilich, dass solche Ausnahmen sich finden, dass nicht in allen Trag?dien der Held zur Resignation gelange, dies wird ausdr?cklich zugestanden. Die Resignation, sagt man uns, bleibe eben in solchen F?llen der Reflexion des Zuschauers ?berlassen. Aber damit ist doch wohl zugleich ausdr?cklich zugestanden, dass die tr?stliche Aussicht, in welcher der eigentliche Sinn der Trag?die bestehen sollte, ganz ausserhalb des Kunstwerkes steht, und lediglich dem Zuschauer zur Last f?llt, der den Dichter erg?nzt oder korrigiert, wie es ihm eben beliebt. Giebt die thats?chliche Resignation des Helden uns das Bewusstsein, dass wir unter gleichen Umst?nden derselben Resignation f?hig sein w?rden, dann muss ebenso sicher der Mangel der Resignation, der ja auch im Kunstwerk wohl motiviert ist, die ?berzeugung in uns wecken, dass wir unter gleichen Umst?nden ebenso unresigniert sein w?rden. Gewinnen wir trotzdem auch im letzteren Falle die Zuversicht unserer eigenen Resignationsf?higkeit, so gelangen wir dazu auf unsere eigenen Kosten und dem Kunstwerk zum Trotz. Wir k?nnen dann ebensowohl aus jeder beliebigen Kom?die die gleiche Zuversicht sch?pfen. Das Kunstwerk ist schliesslich g?nzlich gleichgiltig geworden. "Reflexionen" k?nnen wir ja jederzeit anstellen, welche wir wollen.

Das tragische Kunstwerk ist eben, so wenig wie irgendwelches Kunstwerk, dazu da Weltanschauungen zu predigen oder zu best?tigen, pessimistische so wenig wie optimistische. "Aber der Dichter muss doch irgend eine Weltanschauung haben, und die muss in seinem Werke zu Tage treten. Und nur der wird das Kunstwerk recht verstehen, der sich auf den Boden dieser Weltanschauung stellt."--Ich frage: Warum dies alles? Mag der Dichter als Mensch, sozusagen f?r seinen Privatgebrauch eine Weltanschauung haben. Als Dichter bedarf er keiner solchen, es sei denn, dass es ihm darauf ankommt in seinen Gestalten einen Kampf der Weltanschauungen zur Darstellung zu bringen. Im ?brigen wird er sogar gut thun, seine Weltanschauung m?glichst f?r sich zu behalten. Was er in jedem Falle braucht, ist Kenntnis der Welt und des in ihr M?glichen; Verst?ndnis f?r das, was in der Welt ist und auf das menschliche Gem?t zu wirken vermag; Beherrschung der Sprache, in der die Erscheinungen in der Welt ihren Sinn und Inhalt zu offenbaren pflegen. Will man dies Weltanschauung nennen, so ist es doch nicht Weltanschauung in dem hier vorausgesetzten philosophischen Sinne des Wortes.

So haben denn auch grosse Dichter keine oder eine sehr schwankende "Weltanschauung" gehabt, und hatten sie eine, so h?teten sie sich das Kunstwerk zur Darlegung und Anpreisung dieser Weltanschauung zu missbrauchen.

Nur in einem Sinne, ausser dem eben zugestandenen, muss der Dichter und jeder K?nstler als solcher Weltanschauung haben und geben, wenn n?mlich unter "Welt" die Welt des Kunstwerkes verstanden wird. Diese Welt ist seine Welt und diese Welt allerdings muss ihm, indem er sie schafft, Gegenstand einer klaren, einheitlichen und von innerer Wahrheit erf?llten Anschauung sein. Eben diese "Weltanschauung" soll dann gewiss auch der Betrachter gewinnen.

DIE "POETISCHE GERECHTIGKEIT".

Dieser Thatbestand f?r sich allein h?tte gen?gen m?ssen, die Schuld- und Straftheorie, oder die Theorie der "poetischen Gerechtigkeit" zu Falle zu bringen. Doch so eingewurzelte Theorien sind nicht so leicht zu f?llen. Vielleicht hilft man sich mit der Bemerkung, die gemeinsame Bezeichnung plastischer und dramatischer Kunstwerke als tragischer sei v?llig zuf?llig, beweise darum in der That nichts f?r irgendwelche ?bereinstimmung in den Gr?nden ihrer Wirkung.

So fassen wir lieber die Trag?die direkt ins Auge. Der tragische Held soll leiden zur Strafe f?r eine Schuld. Diese Behauptung n?tigt die Vertreter unserer Theorie, ?berall an den tragischen Helden eine "Schuld" aufzusuchen. Es gelingt ihnen denn auch ?berall etwas zu finden, dem sie diesen Namen glauben geben zu d?rfen. ANTIGONE erhebt sich gegen den Tr?ger der socialen Ordnung; DESDEMONA vers?ndigt sich gegen die v?terliche Autorit?t, sie macht keinen Versuch, BRABANTIO durch Bitten und Thr?nen zur Einwilligung zu bewegen; und nun gar der Leichtsinn, das Taschentuch zu verlieren!--EMILIA GALOTTI hat keine tats?chliche, aber eine "Gedankenschuld" auf sich geladen.--So sehen wir, kein Unschuldiger, nur Schuldige werden vom tragischen Geschick ereilt.

Man wird nicht umhin k?nnen, den Scharfsinn zu bewundern, der zu solchen Schuldbeweisen aufgeboten worden ist. Im ?brigen gew?hren sie ein wenig erfreuliches Schauspiel. Als ob es nicht genug w?re, dass der Dichter seine Helden leiden l?sst, werden sie nun auch noch von den ?sthetikern misshandelt. Man zwingt sie erbarmungslos auf die Anklagebank, um alles an ihnen hervorzukehren, das Innerlichste und ?usserlichste, das was sie gethan und das was sie, zwar nicht gegen ihre eigene, aber gegen des ?sthetikers bessere Einsicht unterlassen haben, Fehler, von denen Dichter und Kunstwerk wissen, und solche, von denen beide nichts wissen. Nachdem so das Verborgenste ans Licht gezogen ist, "pl?diert" man f?r und wider. Wo der eine eine kleine Schuld findet, wittert der andere eine grosse; wo der eine milde gestimmt ist, redet sich ein anderer in Entr?stung hinein. Alle aber stimmen sie schliesslich in das Schuldig ein: "Was brauchen wir weiter Zeugnis? Weg mit ihnen."

Reden wir ganz speziell. Hat ein Weib, das ganz erf?llt von reinster Bruderliebe, die heiligste Verpflichtung, die ihr diese Bruderliebe auferlegt, festh?lt, trotz der Drohungen eines Tyrannen, angesichts der Notwendigkeit elend dahinzusterben, kurz, hat ein Weib, das ebenso handelt wie ANTIGONE, und aus ebensolcher Gesinnung, durch dies Handeln und durch diese Gesinnung den Tod verdient, nicht irgend einen, sondern den grausamen und schmachvollen, wie ihn ANTIGONE erleidet? Ist sie durch unser nat?rliches Gef?hl gerichtet, als eine, die nicht verdient, weiterzuleben? Haben wir, wenn sie ihrem schrecklichen Schicksal verf?llt, das Bewusstsein, ihr sei recht geschehen und weiter nichts, und ist es dieses Bewusstsein, ist es dies befriedigte "Gerechtigkeitsgef?hl", aus dem wir den erhabenen Genuss sch?pfen, den uns die Trag?die gew?hrt?

Man rede nicht von einem h?heren sittlichen Standpunkte gegen?ber dem Kunstwerk. Reiner allerdings ist der Standpunkt, wir stehen nirgends auf einem reineren sittlichen Standpunkt als gegen?ber dem tragischen Kunstwerk. Aber er ist reiner, nicht weil er dem nat?rlichen Gef?hl Hohn spricht, sondern sofern er eben dies Gef?hl unbeeinflusst durch R?cksichten, wie sie der Zusammenhang der Wirklichkeit mit sich bringt, zur Geltung kommen l?sst.

SCHULD UND "STRAFE".

Doch urteilen wir nicht zu schnell. Sehen wir der Theorie etwas n?her ins Gesicht. Worin denn soll jener "h?here" Standpunkt bestehen? Ist er ein h?herer, weil er ein strengerer ist, der misst nicht nach menschlichem Massstabe, sondern nach dem Massstabe sittlicher Vollkommenheit? Von sittlicher Vollkommenheit allerdings bleibt ja alle menschliche Tugend weit entfernt. Vielleicht sieht ein vollkommenes Wesen, sieht die Gottheit die besten der Menschen so weit von sich entfernt, dass das Gute, das an ihnen ist, ihr unendlich klein erscheint. Besteht es darum f?r sie gar nicht mehr? Darf sie es v?llig f?r nichts achten?

Doch was reden wir? Sind denn wir die Gottheit? K?nnen wir denn einen anderen Massstab haben als den menschlichen? Ist der Dichter nicht Mensch und wendet sich an Menschen?

Wie nun, so frage ich, steht es hiermit bei ANTIGONE, EMILIA GALOTTI, MARIA STUART und so vielen anderen? Erkennen sie die "Strafe", die ihnen angeblich zu teil wird, als solche an? Beugen sie sich, wenn auch widerstrebend, vor der sittlichen ?bermacht dessen, der sie straft? Ist ihnen ?berhaupt die Macht, der sie unterliegen, eine sittliche?--Das Gegenteil ist der Fall. Also ist ihre "Strafe" thats?chlich keine Strafe. Die Wirkung in ihrem Innern, die allein der strafende sittliche Wille--wenn ihnen ein solcher gegen?bersteht--wollen kann, bleibt unerreicht.--Damit haben auch wir die sittliche Befriedigung, die uns die Strafe gew?hren soll, nicht gewonnen. Denn auch unser sittliches Bewusstsein, wenn es nicht vielmehr sittliche Verblendung ist, kann nur durch das B?se am Menschen verletzt, also auch nur dadurch befriedigt oder wiederhergestellt werden, dass dies B?se, dass das b?se Wollen des Menschen durch die Strafe getroffen, und wenn es m?glich ist, aufgehoben wird.

Doch es scheint, wir haben hier noch eine M?glichkeit ausser Acht gelassen. Noch in anderer, als der eben bezeichneten Weise kann die "Strafe" sittliche Bedeutung haben: Sie wendet sich nicht gegen das b?se Wollen in dem "Gestraften", sondern gegen das B?se oder Nichtseinsollende in der sonstigen Welt. Sie schreckt ab oder sie erm?glicht die Verwirklichung eines h?heren, ?ber die einzelne Pers?nlichkeit hinausgehenden sittlichen Zwecks.

Zun?chst nun verdient auch diese "Strafe" den Namen Strafe nicht mehr.--Sollte die Schuld- und Straftheorie dennoch diesen Strafbegriff im Auge haben? Wer sind dann die Abgeschreckten? Wir, die Zuschauer? Werden wir bei manchen tragischen Helden nicht vielmehr w?nschen, es ihnen an sittlicher St?rke und edler Leidenschaft gleichthun zu k?nnen? Oder wenn wir von dem abgeschreckt werden, was an ihrem Thun unvollkommen ist, werden wir dann nicht auch vor dem, was daran edel ist, zur?ckschrecken m?ssen, da doch ihr Thun als Ganzes die "Strafe" zur Folge hat?--Und welches sind die "h?heren sittlichen Zwecke", deren Verwirklichung durch die Bestrafung der Helden erm?glicht wird?

So kann uns jener "h?here", weil "strengere" moralische Standpunkt von unserem Widerspruche gegen die Schuldtheorie oder die Theorie der poetischen Gerechtigkeit nicht bekehren.

DIE "SITTLICHE WELTORDNUNG".

Von Natur, so etwa k?nnte der Vertreter dieses Standpunktes sich vernehmen lassen, sind wir geneigt, unser sittliches Urteil zun?chst auf das Einzelne und das Individuum zu beziehen. Indem wir uns als Pers?nlichkeit f?hlen und uns das Recht unserer Pers?nlichkeit zuschreiben, k?nnen wir nicht umhin, auch anderen das Recht ihrer Pers?nlichkeit zuzuerkennen. Das Individuum, meinen wir, d?rfe sich als solches beth?tigen und sein Wollen, sofern es ein an sich gutes sei, behaupten, auch gegen die Schranken, die ihm die objektive Welt entgegenstellt, und in leidenschaftlichem Kampfe gegen dieselben. Nicht ihm, sondern der unvollkommenen Wirklichkeit falle die Schuld zu, wenn das Individuum mit seinem guten Wollen in diesem Kampfe untergehe.

Aber dieser Standpunkt, so meint man, bestehe nicht vor einer h?heren Einsicht. ?ber dem Einzelnen stehe das Allgemeine, ?ber dem Individuum der Zusammenhang der Welt, ?ber dem individuellen Wollen die objektive Ordnung der Dinge. Nicht im Individuum, sondern im Ganzen, der Welt und ihren Ordnungen verwirkliche sich der "Weltgeist", die "Idee", das "Absolute". Und nur die Idee oder das Absolute habe ein absolutes Recht. Wer sich in "einseitigem" Wollen, in einseitiger Betonung seiner Pers?nlichkeit gegen die Ordnung der Dinge auflehne, lehne sich gegen die Idee auf und verfalle in Schuld. Und diese Schuld m?sse sich r?chen. Die Idee negire, die Wirklichkeit verschlinge den Schuldigen, und von Rechtswegen. Wir m?gen seine Vernichtung menschlich beklagen, aber mit der Klage verbinde sich das erhabene und erhebende Bewusstsein von der siegenden Allgewalt der Idee. In diesem Bewusstsein, dem ehrfurchtsvollen Schauer vor der Idee, bestehe der Genuss der Trag?die.

Viel Wahres ohne Zweifel liegt in solchen Worten oder kann in ihnen liegen. Viel Unwahrheit aber, viel Missverst?ndnis kann sich dahinter verbergen. Und mit je gr?sserem Pathos die Worte auftreten, um so gr?sser ist die Gefahr des Missverstandes.--Andererseits fragt es sich, wie viel von der Wahrheit, die in ihnen liegt, auf die Trag?die Anwendung findet.

Doch in dem Falle, von dem wir ausgingen, und vielen anderen, handelt es sich ja um kein Wollen, das in diesem Sinne seine nat?rlichen Schranken ?berschritte. ANTIGONE will nicht, was nicht in ihrer Macht l?ge. Sie will an ihrem Bruder die letzte Liebespflicht ?ben und sie ?bt sie. Nicht minder vollbringen MARIA STUART und EMILIA GALOTTI, was sie wollen.

Es ist eben die ganze Theorie der Vers?ndigung durch Verletzung nat?rlicher Schranken ein Widerspruch in sich selbst. Nicht was ist, ist heilig, sondern was ist, wie es sein soll. Dies ist keine Wahrheit, die man zu beweisen brauchte, sondern eine Tautologie. Nicht durch Verletzung dessen, was ist, nur durch Verletzung dessen, was sein soll, kann ich mich vers?ndigen.

Erst von hier aus kann die Frage gestellt werden, in wiefern doch am Ende auch das beste Wollen der tragischen Helden Verschuldung in sich schliessen k?nne. Zugegeben, dass ANTIGONEs Wollen auf Edles gerichtet war. Aber h?tte sie nicht durch die R?cksicht, zwar nicht auf KREONs Macht, aber doch auf das Wohl oder die W?rde des Staates, dessen Herrscher er ist, sich abhalten lassen m?ssen, die Pflicht zu ?ben, die ihr die Liebe and das Gebot der G?tter auferlegten? Hat nicht vielleicht MARIA STUART durch ihre Art der ELISABETH entgegenzutreten an der Zukunft ihres Volkes, an der Weltgeschichte, der Entwickelung der Menschheit oder dergl. sich vers?ndigt? Und EMILIA GALOTTI und DESDEMONA? Liesse sich nicht auch bei ihnen ein frevelhafter Eingriff in die sittliche Weltordnung auffinden?--obgleich wir einstweilen nicht wissen, wo er gefunden werden sollte.

Hier gilt zun?chst ein Einwand: es giebt keine Pflicht, die ?ber die Pflicht der Aufrechterhaltung der eigenen sittlichen Pers?nlichkeit ginge, keinen sittlichen Zweck, dem die eigene sittliche W?rde geopfert werden m?sste, keine Forderung: Wirf dich selbst weg, damit f?r die Welt Gutes daraus entstehe.

Aber dies ist uns hier nicht das Wesentlichste.--Wo ist denn in SOPHOKLES' ANTIGONE der Staat, das Staatswohl, die Staatsw?rde? Wo pflegen denn in Trag?dien ?berhaupt die Welt, die Weltgeschichte, die Menschheit aufzutreten? Die Frage klingt trivial. So trivial sie klingt, so entscheidend ist sie.

Wir kommen damit von neuem auf den eigentlichen Grundirrtum aller Weltanschauungstheorien. Das Kunstwerk, so sahen wir, repr?sentiert eine Welt f?r sich und nichts geht uns bei seiner Betrachtung an und kann f?r seine Beurteilung in Betracht kommen, was nicht eben dieser Welt angeh?rt. Dabei muss es bleiben, mag nun das Nichtdazugeh?rige Staat, Volk, Welt, Weltgeschichte, Weltordnung oder sonstwie heissen.

Ich suche diese Wahrheit, weil sie von so grosser Wichtigkeit ist, hier noch an einem Beispiel aus einem anderen Kunstgebiet zu illustrieren. Was w?rde man sagen, wenn jemand bei der Betrachtung einer Bauernscene von ADRIAN VAN OSTADE Reflexionen dar?ber anstellte, ob die Bauern auf dem Bilde nicht besser th?ten zu arbeiten und f?r ihr und ihrer Familie gedeihliches Fortkommen zu sorgen, als so den Tag zu verlungern; ob sie durch ihre Tr?gheit nicht Pflichten verletzen gegen ihre Dorfgemeinde, gegen den Staat, schliesslich gegen die Menschheit?--

Ich denke die Antwort w?re einfach genug. Man w?rde--entweder dem L?stigen den R?cken kehren, oder ihn folgendermassen zu belehren suchen. Die Bauern auf diesem Bilde, so w?rde man sagen, sind, wie du siehst, nicht wirkliche, sondern gemalte, nicht der Welt der Wirklichkeit, sondern der Welt des Bildes angeh?rige Bauern, und als solche k?nnen sie keine Verpflichtungen verletzen, als solche, die ihnen im Bilde entgegentreten und da von ihnen verletzt werden. So ist beispielsweise keine Gefahr, dass sie durch ihr Gebahren irgend eine, irgendwo in der wirklichen Welt vorhandene Dorfgemeinde sch?digen. Sie k?nnen dies so wenig, als diese Dorfgemeinde sie in ihrer Tr?gheit und ihrem Behagen zu st?ren verm?chte. Das eine wie das andere k?nnte nur geschehen, wenn auch die Dorfgemeinde auf dem Bilde gegenw?rtig w?re, also Bauern und Dorfgemeinde derselben Welt k?nstlerischer Darstellung angeh?rten, und wenn zugleich der Konflikt zwischen beiden mitgemalt w?re, oder aus der Darstellung ohne freie Zuthat des Beschauers einleuchtete.

Die Erde, so k?nnte der Belehrende verdeutlichend fortfahren, ist, wie du weisst, vom Monde sehr weit entfernt, so weit, dass von uns Erdbewohnern eine Ber?cksichtigung der Zwecke der etwaigen Mondbewohner mit Fug und Recht nicht verlangt werden kann.

Sehr viel gr?sser aber noch ist die Entfernung zwischen der Welt dieses Bildes und der Welt der Wirklichkeit, oder unserer die Wirklichkeit betreffenden Gedanken. Sie ist genau so gross, wie ?berhaupt die Entfernung zwischen der Welt der Objekte, die nur in der Phantasie und f?r sie existieren, von der Welt der Wirklichkeit zu sein pflegt, n?mlich unendlich gross. Es besteht eine absolute Kluft zwischen beiden Welten, die jeden Weg zwischen ihnen und jede Wechselwirkung v?llig ausschliesst. Diese Kluft ist, obgleich sie ohnehin einleuchtet, doch zum ?berfluss versinnlicht durch den Rahmen des Bildes. In den Rahmen ist das Bild eingeschlossen, er schliesst die Welt des Bildes ab. Damit ist uns gesagt, bis wohin bei Betrachtung des Bildes unsere Gedanken reichen sollen.

Was dann das Bild wolle?--Es will behagliches, sorgloses, humorvolles Dasein vor Augen stellen. Gl?ck in der Beschr?nkung, auch wohl in der Beschr?nktheit. Den Wert, den dieses Gl?ck an sich, so wie wir es da sehen, besitzt, nicht im Zusammenhang der Welt und Weltordnung, von dem nun einmal hier keine Rede ist, sondern abgesehen davon, diesen Wert will uns das Bild eindringlich machen und geniessen lassen. Eben dazu ist es da, diese Heraushebung und Isolierung zum Zweck des reinen durch keine Weltr?cksichten gest?rten Genusses macht es zum Kunstwerk.--

Ganz ebenso nun, wie mit diesem Bilde, verh?lt es sich auch mit der Trag?die. So wie jene OSTADEschen Bauern keine Pflichten verletzen k?nnen, ausser solchen, die ihnen im Bilde entgegentreten und da von ihnen verletzt werden, so k?nnen sich die Personen einer Trag?die an keinem Staat oder Volk, keiner Welt, Weltgeschichte oder Weltordnung vers?ndigen, ausser soweit der Dichter dergleichen in der Trag?die, in den Personen, ihren Worten und Handlungen sich verk?rpern oder zur Darstellung gelangen l?sst, und sie vers?ndigen sich dagegen immer genau soweit, als sie eben in der Trag?die, der sie nun einmal ausschliesslich angeh?ren, sich dagegen vers?ndigen. Niemand f?rchtet, wenn der Held auf der B?hne Drohungen ausst?sst, f?r die Sicherheit des Theaterpublikums und bietet zu seinem Schutze die st?dtische Polizei auf. Hier ist man sich der absoluten Trennung zwischen der Welt des Kunstwerkes und der sonstigen Welt wohl bewusst. Man weiss, jene Welt reicht bis zur Umrahmung der B?hne und nicht weiter. So sollte man auch nicht dem Helden Konflikte aufb?rden mit Momenten der sittlichen Weltordnung, die mit dem Kunstwerk genau so viel zu thun haben, wie das Theaterpublikum und die st?dtische Polizei.

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