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Read Ebook: Der Streit über die Tragödie by Lipps Theodor

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Ebook has 115 lines and 22337 words, and 3 pages

Ganz ebenso nun, wie mit diesem Bilde, verh?lt es sich auch mit der Trag?die. So wie jene OSTADEschen Bauern keine Pflichten verletzen k?nnen, ausser solchen, die ihnen im Bilde entgegentreten und da von ihnen verletzt werden, so k?nnen sich die Personen einer Trag?die an keinem Staat oder Volk, keiner Welt, Weltgeschichte oder Weltordnung vers?ndigen, ausser soweit der Dichter dergleichen in der Trag?die, in den Personen, ihren Worten und Handlungen sich verk?rpern oder zur Darstellung gelangen l?sst, und sie vers?ndigen sich dagegen immer genau soweit, als sie eben in der Trag?die, der sie nun einmal ausschliesslich angeh?ren, sich dagegen vers?ndigen. Niemand f?rchtet, wenn der Held auf der B?hne Drohungen ausst?sst, f?r die Sicherheit des Theaterpublikums und bietet zu seinem Schutze die st?dtische Polizei auf. Hier ist man sich der absoluten Trennung zwischen der Welt des Kunstwerkes und der sonstigen Welt wohl bewusst. Man weiss, jene Welt reicht bis zur Umrahmung der B?hne und nicht weiter. So sollte man auch nicht dem Helden Konflikte aufb?rden mit Momenten der sittlichen Weltordnung, die mit dem Kunstwerk genau so viel zu thun haben, wie das Theaterpublikum und die st?dtische Polizei.

Jetzt sehen wir ein, wie es sich mit dem "h?heren" Standpunkt in Wahrheit verh?lt. Nicht im Leben ist unser sittliches Urteil eingeschr?nkt, dem Kunstwerk gegen?ber aber weltumfassend, sondern v?llig umgekehrt. Im Leben m?gen und sollen wir jede Handlung hineinstellen in einen umfassenderen Zusammenhang; wir sollen sie schliesslich betrachten unter dem Gesichtspunkte der ganzen Welt und ihrer sittlichen Ordnung. Im Kunstwerk dagegen ist sie hineingestellt und soll darum von uns hineingestellt werden in den Zusammenhang einer begrenzten Welt und ihrer sittlichen Beziehungen. Dies eben ist der Unterschied zwischen der praktisch sittlichen und der ?sthetischen, darum nicht minder sittlichen Betrachtungsweise. Keine der Betrachtungsweisen ist ohne weiteres die "h?here". Sie sind zun?chst nur verschiedene Betrachtungsweisen. Von der Einsicht in ihre Verschiedenheit h?ngt in jedem Falle das Verst?ndnis des Kunstwerks in erster Linie ab.

Oder soll ANTIGONE am Schlusse der Trag?die als N?rrin erscheinen, die an ihr heiliges Recht glaubt, wo sie gefrevelt hat, und ebenso KREON als Narr, der verzweifelt, wo er Grund h?tte, erhabene Genugthuung zu versp?ren, dass er gew?rdigt sei, die sittliche Weltordnung wieder ins Gleiche zu bringen, so wie wir der Theorie zufolge Genugthuung versp?ren sollen, wenn wir diese "poetische Gerechtigkeit" auf der B?hne sich vollziehen sehen. Ist SOPHOKLES' ANTIGONE als Posse gemeint? Will sie mit uns, die wir doch nicht umhin k?nnen, in ANTIGONEs Klage und KREONs Selbstanklage des Dichters Meinung und den Sinn des Kunstwerkes zu erkennen, ihr Spiel treiben?

Die gleiche Frage liesse sich sonst stellen. Auch OTHELLO, EMILIA GALOTTI, MARIA STUART sind Possen, der Mohr, der Prinz von Guastalla, ELISABETH, sie sind Narren, ?berall treibt der Dichter, ohne es zu sagen, sein Spiel mit uns, wenn die Selbstanklage der genannten Personen Selbstbetrug sein, wenn ein OTHELLO gar aus sittlichem Irrtum sich selbst t?ten soll.

Die Genannten sind keine Narren; der Dichter treibt nicht sein Spiel mit uns. Nur die Theorie der poetischen Gerechtigkeit macht sie zu Narren. Nur sie treibt ihr Spiel mit uns. Die "poetische Gerechtigkeit", sie ist in der That das Widerspiel aller Gerechtigkeit. Gott sei Dank, so m?ssen wir mit LESSING sagen, dass es noch eine andere Gerechtigkeit giebt, als die poetische.

DAS ENDE DER "POETISCHEN GERECHTIGKEIT".

In der That eine sonderbare Art, die poetische Gerechtigkeit zu rechtfertigen. Oder heisst es nicht zum Unrecht den Hohn hinzuf?gen, wenn ich einen Menschen erst ?usserlich ?ber Geb?hr "strafe" und dann damit tr?ste, dass ich ihm sage, er habe ja sein gutes Gewissen. Wird er nicht eben, weil er ein gutes Gewissen hat, ein Recht haben, die Strafe nicht als solche anzuerkennen, sondern als unverdientes Geschick abzuweisen?

Freilich, in den eben angef?hrten Worten ist vorausgesetzt, der Held befinde sich mit dem Bewusstsein seiner Schuldlosigkeit im Wahn. Was von diesem Gedanken zu halten sei, haben wir schon gesehen. Nicht nur die gestrafte Person m?sste sich in jedem der angef?hrten F?lle in Selbstt?uschung befinden, sondern mit ihr zugleich das ganze Kunstwerk, dem sie angeh?rt, und der Dichter, der dasselbe geschaffen hat. Der Zuschauer, der das Gewissen f?r den Helden h?tte, h?tte es zugleich f?r den Dichter und sein Werk. Er verbesserte, d. h. verf?lschte die Trag?die nach seiner Idee von poetischer Gerechtigkeit.--Wir sehen hier die Gerechtigkeitstheorie genau auf dem Punkte angelangt, auf dem sich die pessimistische Theorie der Resignation befand, wenn sie die Resignation, weil nun einmal das Kunstwerk nichts davon wusste, der Reflexion des Zuschauers ?berliess.

Wenn wir aber davon absehen, was w?re das f?r eine "sittliche" Weltordnung, die die Strafe des Helden dadurch milderte, dass sie ihn in sittlicher Selbstverblendung liesse.--Wie sinkt die Theorie der poetischen Gerechtigkeit tiefer und tiefer mit jedem Versuche, sich zu retten.

Es ist aber von hier nur ein Schritt zur v?lligen Selbstaufhebung der Theorie. Der Schritt ist gethan, sobald auf die innere Strafe, ?berhaupt auf das, was im Bewusstsein der "Gestraften" vorgeht, das Hauptgewicht oder alles Gewicht gelegt wird; wenn wir h?ren, die poetische Gerechtigkeit walte gar "nicht im Physischen, sondern im Psychischen".

DIE "VOR?BERGEHENDE SCHMERZEMPFINDUNG".

So gewiss nun die vorher fertigen Weltanschauungen die ?rgsten Feinde des Verst?ndnisses der Trag?die sind, so wenig ist damit gesagt, dass man nicht auch durch sonstige fertige Theorien dies Verst?ndnis hinreichend sch?digen k?nne. Vor allem fertige psychologische Theorien sind daf?r wohl geeignet. Ich will es nicht unterlassen ein Beispiel einer solchen Theorie hier besonders namhaft zu machen.

Der Gedankengang der Theorie ist folgender. Sie setzt als zugestanden voraus, dass die Freude am Tragischen auf dem gemeinsamen Boden der Freude am Schmerz beruhe. Von da aus sucht sie nach einem allgemeinen Zusammenhang zwischen Freude und Schmerz. Sie findet einen solchen in der Thatsache, dass Aufh?ren des Schmerzes positives Wonnegef?hl sei. Daraus ergiebt sich der Schluss, dass vor?bergehende Schmerzempfindung Mittel sei zur Erzeugung der Wohlempfindung.

In verschiedener Art nun kann aus vor?bergehendem Schmerz Wohlempfindung entstehen. Auf einer ersten Stufe bin ich selbst Tr?ger des Schmerzes. Mein eigener Schmerz vergeht, und dies erweckt mir Freude.

Auf einer zweiten Stufe erf?hrt ein anderer einen k?rperlichen Schmerz. Dieser Schmerz kann f?r mich Grund der Wohlempfindung werden nur, wenn ich ihn mitempfinde, wenn auch mein eigener K?rper von dem Schmerz "durchschauert" wird. "Daher kommt es, dass der Indianer, der sein Opfer martert, erst dann in Jubel ausbricht, wenn das Opfer zu wimmern und zu schreien anf?ngt."

Auf einer dritten Stufe der Freude am Schmerz, so erfahren wir weiter, trete an die Stelle des Schmerz empfindenden K?rpers das Bild desselben. Hier sei die Freude am Schmerz bereits eine aesthetische. Als Beispiele von Gegenst?nden solcher Freude werden die "Passions- und Marterdarstellungen des 14. und 15. Jahrhunderts" angef?hrt. Sie werden, so meint unser Aesthetiker, von diesem Standpunkt aus Gegenstand einer milderen Beurteilung.

In der That hat auch unsere Freude an jenen Passions- und Marterdarstellungen, soweit sie vorhanden ist, einen ganz anderen Grund. Sie ist Eines mit der Freude am Ausserordentlichen, in besonderer Weise die Phantasie Packenden und Erregenden, von der gleich die Rede sein wird. Oder aber sie ist wirklicher tragischer Genuss, d. h. eine Art des Genusses, die von der hier in Rede stehenden Theorie in keiner Weise getroffen wird.

Ich frage wiederum: Wo ist das Moment, auf das f?r die Theorie alles ankommt, das Verschwinden des Schmerzes? Wieso "befreit" die Trag?die vom Schmerz? Der Held stirbt ja freilich schliesslich und damit endet sein Leid. Aber auch unser Mitleid? Ist denn nicht auch der Tod selbst, umsomehr, je wertvoller das Dasein ist, das er endet, Gegenstand unseres berechtigten Schmerzes? Wie werden wir von diesem Schmerz befreit? Soviel ich sehe, einzig durch das Fallen des Vorhangs und die R?ckkehr ins Leben. Vorausgesetzt ist auch dabei noch, dass das Ende des St?cks uns das St?ck v?llig vergessen l?sst. Indem wir von der Trag?die erl?st sind, die uns den Schmerz bereitete, sind wir von dem Schmerz befreit. Der Zweck der Trag?die besteht dann darin, dass sie zu Ende geht und vergessen wird. Der hat von der Trag?die den vollkommensten Genuss, der beim Herausgehen aus dem Theater aus vollster Seele rufen kann: Gott sei Dank, dass das ?berstanden ist.

In der That verhalten sie sich nicht verschieden. D. h. die schmerzliche Mitempfindung schwindet nicht, so wenig als die Bitterkeit schwinden w?rde. Die Trag?die will uns von jener Mitempfindung so wenig befreien, dass vielmehr die Dauer derselben Bedingung ihrer Wirkung ist. Nicht das Aufh?ren des Leidens, sondern das vorhandene und von uns mitempfundene Leiden ist in der Trag?die, wie bei jeder Tragik, der Grund unseres Genusses. Unser Schmerz ist nicht Vorl?ufer dieses Genusses sondern sein notwendiger Hintergrund.--Wir fragen jetzt: Wie ist dies m?glich? Wie kann das Schmerzliche, Schreckliche, Furchtbare erfreuen?

DAS MITLEID.

Auf diese Frage kann zun?chst eine Antwort gegeben werden, die nur eine nebens?chliche Wahrheit in sich schliesst, aber uns doch endlich auf festen Boden gelangen l?sst. Man kennt die Freude, die vor allem Kinder und Ungebildete am Gruseligen und Gespensterhaften, die Freude, die rohere Naturen am Gr?sslichen und Entsetzlichen haben. Diese Freude haben wir kein Recht, so ohne weiteres zu verurteilen. Das Positive an ihr, die Freude an dem, was aus der Allt?glichkeit des Lebens deutlich heraustritt, nach irgend einer Richtung die Grenzen des Gew?hnlichen ?berschreitet, und eben damit unsere Vorstellungsf?higkeit in besonderem Masse fasst und in Anspruch nimmt, diese Freude ist uns allen nat?rlich, und sie ist eben damit wohl berechtigt. Ihr Wert erh?ht sich, wenn sie zur Freude wird an dem, was ein gesteigertes Mass von Wollen und K?nnen verr?t, was neue und ungeahnte Kr?fte und Wirkungen, sei es Kr?fte in der Natur oder im Menschen, uns vor Augen stellt.

Gehen wir von jetzt an Schritt f?r Schritt.--Ein Gegenstand, der uns lieb war, sei besch?digt, zerst?rt, vernichtet; ein pr?chtiger Baum sei vom Sturme geknickt, eine Gegend, die uns ans Herz gewachsen war, durch den Krieg zertreten. Dann empfinden wir den Wert des Gegenstandes deutlicher. Die Pracht des Baumes, das was uns die Gegend lieb und wert machte, kommt uns zu klarerem Bewusstsein; das Bild wird erhabener oder lieblicher in unseren Augen, als es zuvor war. So wird unser Verlust Gewinn, nicht thats?chlich, aber f?r unser Empfinden. Es mischt sich in unserem Gef?hl des Bedauerns oder der Wehmut mit dem Schmerz um die Zerst?rung ein erh?htes Bewusstsein des Wertes, ein erh?hter und, eben durch den Schmerz, vertiefter Genuss. Die Wehmut wird zur s?ssen Wehmut, je mehr der Schmerz sich mildert, und doch das Bild des Gegenstandes klar vor unseren Augen bleibt.

Aber der Schmerz verr?t nicht nur das Dasein und die Art des Lebens; vielmehr, wie nach Obigem die Zerst?rung eines leblosen Objektes uns seinen Wert besser empfinden l?sst, so bringt auch die Sch?digung des Lebens, die uns im Schmerze sich kund giebt, den Wert dieses Lebens zu deutlicherem Bewusstsein. Wir wissen nun erst, was uns das Leben und der Tr?ger des Lebens bedeutet. Auch hier gewinnt das Bild an Erhabenheit und Liebensw?rdigkeit. Es gewinnt nur hier um so viel mehr, je mehr von Hause aus der Wert des Lebendigen den des Leblosen ?berragt.

Lebendiges und Lebloses wurden hier als sich ausschliessende Gegens?tze gefasst. Diesen Gegensatz m?ssen wir nachtr?glich in gewisser Weise wieder zur?cknehmen. Es bleibt dabei, dass Lebloses nicht leidet. Aber was leblos ist, kann unsere Phantasie mit Leben erf?llen. Dann wird es auch in gewisser Art leidensf?hig. Die Sch?digung seines Bestandes erscheint uns gleichfalls als eine Lebenssch?digung, also als ein Leiden. So ist der Baum leblos und bleibt es; aber wir leihen ihm von unserem Leben; wir vermenschlichen ihn. Was ihn betrifft, erscheint damit als menschen?hnliches Erleben und Leiden. Seine Verletzung oder Zerst?rung wird f?r uns Gegenstand nicht des gleichen, aber eines ?hnlich gearteten Interesses, wie der st?rende oder zerst?rende Eingriff in menschliches Dasein. Auch sein Schicksal, so k?nnen wir, dem Folgenden vorgreifend sagen, mutet uns "tragisch" an.

Dieses Mitleid meint LESSING, wenn er das Mitleid eine s?sse Qual nennt, und als Zweck des Trauerspieles bezeichnet. "Furcht und Mitleid" sagt sein Gew?hrsmann ARISTOTELES. Er meint die Furcht, dass auch uns, die Zuschauer, ?hnliches Leid treffen k?nne. Diese Furcht l?sst LESSING in seiner eigenen Betrachtung beiseite, und mit Recht. Denn, wie wir wissen, nicht was uns betreffen kann, sondern was die Gestalten der Dichtung betrifft, geht uns an, wenn wir in der Welt der Dichtung leben. Nicht unsere Reflexionen ?ber das, was ausserhalb des Kunstwerkes liegt, k?nnen die Wirkung des Kunstwerkes begr?nden, sondern nur das Kunstwerk selbst.

GENAUERES ?BER DIE BEDEUTUNG DES LEIDENS.

Dies braucht nicht ?berall dasselbe zu sein. Es kann je nach Pers?nlichkeit und Schicksal der verschiedensten Art sein. Es ist bei ANTIGONE und ROMEO gegens?tzlicher Art. Trotzdem ist es bei beiden positiver Faktor f?r unseren tragischen Genuss.

Wer s?he nicht mit liebendem oder ehrf?rchtigem Anteil auf die Pers?nlichkeit, in der ein menschlich wertvolles Streben, eine edle Leidenschaft solche Macht gewonnen hat, dass die Pers?nlichkeit, um das Ziel ihres Strebens betrogen, des Gegenstandes der Leidenschaft beraubt, den Tod als Erl?sung begr?sst? Nicht weil die Weggabe des Lebens an sich irgend etwas Erhebendes h?tte. Wer um nichts, getrieben durch den Schmerz um eine wertlose Sache, sein Leben wegw?rfe, erschiene uns nicht gross und erhaben, sondern j?mmerlich. Sondern, weil sich in der Unm?glichkeit weiter zu leben die Tiefe eines edeln Schmerzes, und durch ihn hindurch die Gr?sse einer edeln Leidenschaft kundgiebt.

Solcher Art ist der Schmerz ROMEOs. Dagegen ist, wie schon oben gesagt, f?r ANTIGONE eben die Aussicht auf den Tod der Gegenstand des Schmerzes. Sie hat ja ihr Ziel, die Erf?llung der Liebespflicht an ihrem Bruder, erreicht. So andersgeartet aber dieser Schmerz ist, so gewiss hat doch auch er sein menschlich Berechtigtes und menschlich Anmutendes. Es ist etwas Sch?nes, ja Entz?ckendes um ein Menschenkind, das jung und hoffend am Leben h?ngt, an das es glaubt und zu glauben sein gutes Recht hat. Wenn nicht f?r eine gewisse Art "philosophischer" Reflexion, so doch f?r das nat?rliche Gef?hl, das ohne Einmischung solcher Reflexionen, von denen nun einmal eine ANTIGONE nichts weiss, sich dem Eindruck des Kunstwerkes hingiebt.

Darauf allein aber kommt es an. Vielleicht meint jemand, der kl?ger ist als ANTIGONE, auch sie w?rde, wenn sie weiter lebte, Entt?uschungen erfahren, die ihr das Leben nicht mehr so lebenswert erscheinen liessen. Dieser Einwand w?re in aller seiner Klugheit so th?richt, wie der andere, dass es doch f?r einen Menschen in der Lage ROMEOs auch solche Verpflichtungen gebe, die ihn hindern m?ssten das Leben preiszugeben. Wer so redete, mischte wiederum das Wirkliche und in der wirklichen Welt M?gliche oder Geforderte ins Kunstwerk und zeigte, dass ihm vom Sinne des Kunstwerkes auch noch nicht das Abc aufgegangen ist. In der Trag?die lebt nun einmal ANTIGONE nicht weiter; und von jenen Verpflichtungen ROMEOs ist in SHAKESPEAREs St?ck keine Rede. Die Frage ist einzig: Ist ANTIGONEs H?ngen am Leben aus ihrer Pers?nlichkeit, ROMEOs Preisgabe des Lebens aus der St?rke seiner Liebe begreiflich, und versp?ren wir eine erhebende Wirkung von jener Pers?nlichkeit und dieser edlen Leidenschaft, wenn wir das eine und das andere, genau so wie es uns entgegentritt, und ohne alle Nebengedanken auf uns wirken lassen. Bejahen wir diese Frage, dann ist vielleicht weder ANTIGONE noch ROMEO in irgend welcher pessimistischen oder optimistischen Moralvorlesung als Musterbeispiel brauchbar. Ihr Wert im Kunstwerk wird doch dadurch um nichts verringert.

Indessen, so sehr wir berechtigt sind, was ANTIGONE leidet, und was den Gegenstand des Schmerzes bei ROMEO bildet, nebeneinander und unter einen Gesichtspunkt zu stellen, so wenig hat doch jenes und dieses Leiden dieselbe Bedeutung f?r die Trag?die. Dass ANTIGONE dem Tode entgegengeht, so wie sie es thut, macht sie zur tragischen Gestalt, darum noch nicht zur tragischen Heldin. Soll sie dies sein, so muss bei ihr noch ein Moment hinzukommen, das bei ROMEO in dem Gesagten bereits enthalten liegt.

Gewiss k?nnte er es werden. Nicht der Bildner, aber der Dichter kann ihn dazu machen. Er stelle in LAOKOON einen Menschen dar, der ganz erf?llt von dem Gedanken sein bedrohtes Vaterland zu retten, trotz des Widerspruchs der Seinen, und im Kampfe mit der Ungunst des Geschickes an seinem edlen Streben festh?lt und schliesslich um dieses edlen Strebens willen untergeht; und ich w?sste nicht, was ihm zum tragischen Helden fehlen sollte.

Wie aber bei allen bisher bezeichneten und f?r die tragische Wirkung in Anspruch genommenen Momenten alles darauf ankam, dass in ihnen ein Wertvolles der Pers?nlichkeit offenbar werde und in seinem Wert einleuchte, so auch hier. Auch das "Wof?r" des Leidens soll uns die Pers?nlichkeit wertvoll machen und dadurch den tragischen. Genuss, der eben jederzeit Genuss eines Wertvollen in der Pers?nlichkeit ist, bedingen.

DIE BESTRAFUNG DER B?SEN UND DIE MACHT DES GUTEN.

Dieser Unterschied zwischen Arten des Trauerspiels tritt aber zur?ck gegen?ber einem anderen, tiefer greifenden. Wie f?gt sich MACBETH unseren Bestimmungen ein?

Auch MACBETH leidet "f?r" etwas. Aber nicht f?r ein gutes Wollen, sondern f?r ungeheure Frevel. Offenbar hat hier das "f?r" einen anderen Sinn, als oben. Ich k?nnte es verdeutlichen, indem ich sagte, MACBETH leide "zur Strafe f?r" seine Frevel, oder leide f?r die "Schuld", die er durch seine Frevel auf sich geladen habe. Damit scheint die Schuld- und Straftheorie oder Theorie der "poetischen Gerechtigkeit" wenigstens teilweise wieder in ihr Recht eingesetzt.

Dies best?tigt uns die Erfahrung. Wenn wir es ausserhalb der B?hne erleben, dass den Verbrecher die Strafe ereilt, so halten wir dies freilich f?r recht und in der Ordnung. Aber eine erhebende Wirkung versp?ren wir von dieser blossen ?usseren Thatsache der Bestrafung nicht, die Strafe mag noch so wohlverdient sein. Sie wird besonders wohlverdient erscheinen m?ssen, wenn der Verbrecher noch angesichts und w?hrend des Vollzugs der Strafe verstockt bleibt. Aber gerade dann sind wir von jeder erhebenden Wirkung am weitesten entfernt.

Vollends gilt dies, wenn die Strafe in Verh?ngung des Todes besteht. Solche Strafe wird ja von nicht wenigen ?berhaupt als unrecht, unsittlich, emp?rend abgewiesen. Ihnen stehen andere entgegen, denen sie zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung notwendig und darum gut erscheint. Lassen wir hier dahingestellt, ob mit dieser "Aufrechterhaltung der Rechtsordnung" ?berall ein klarer und widerspruchslos denkbarer Begriff sich verbindet. Welchen Begriff wir allein damit verbinden k?nnen, haben wir oben angedeutet, und wir werden, was die Trag?die betrifft, darauf zur?ckkommen. Einstweilen gen?gt uns dass in jedem Falle niemand zum Anblick des Vollzugs der Todesstrafe sich dr?ngt, weil er einen sittlich erhebenden Genuss, weil er sittliche Genugthuung davon erwartet. Und auf der B?hne sollten wir solchen Genuss, solche sittliche Genugthuung daraus sch?pfen!

Wohl aber ?bt es eine erhebende und sittlich befreiende Wirkung, wenn wir sehen, wie MACBETHs Trotz getroffen, sein Glaube alles Sittliche verh?hnen zu k?nnen f?r ihn selbst zu Schanden geworden ist, wie er also nicht nur gestraft ist, sondern sich innerlich gestraft weiss. Damit erf?llt eben die Strafe die Forderung, die wir ehemals an sie stellten, wenn sie ihren Namen verdienen solle. Die Strafe, die MACBETH erf?hrt, ist, was die "Strafe" der ANTIGONE sein m?sste, aber, wie wir sahen, ganz und gar nicht ist.

Wir m?ssen aber, was wir hier unter Strafe verstehen, oder in wiefern wir der Strafe eine sittlich erhebende Wirkung beimessen k?nnen, noch genauer bestimmen. Wir m?ssen vor allem uns dar?ber klar sein, dass auch bei der inneren Wirkung der Strafe nicht das Gebrochensein, das Zuschandenwerden, das darin sich verwirklichende Leiden als solches den Grund der sittlichen Erhebung ausmacht. Das w?re ein R?ckfall in den zur?ckgewiesenen Fehler.

Hiergegen bleibt noch ein Einwand zur?ckzuweisen. Kein Leiden, sagten wir, schaffe durch sein blosses Dasein Genuss. Aber giebt es nicht Schadenfreude, angenehmes Gef?hl der befriedigten Rache? Solche Gef?hle mag man sonst nicht hochstellen. Sie k?nnten darum doch durch den besonderen Charakter, den sie der Trag?die gegen?ber annehmen, zum Genuss der Trag?die beitragen.

In der That giebt es dergleichen. Wir k?nnen sogar von einer doppelten Schadenfreude reden, einer egoistischen und einer nichtegoistischen oder sittlichen.

Wir empfinden zwar nicht Freude an dem Schaden, dem ?usseren oder inneren Leiden jedes Beliebigen, wohl aber k?nnen wir Freude haben an dem Schaden desjenigen, der uns gesch?digt, sich uns ?berlegen gezeigt, oder in irgend einer Weise sich uns gegen?ber wirklich oder vermeintlich ?berhoben hat, ja der auch nur durch das, was er ist, oder hat, uns einen eigenen Mangel f?hlbar macht. Dies ist die egoistische Schadenfreude. Dagegen ist es nicht egoistische Schadenfreude, aber doch auch "Schadenfreude", wenn ich mich freue ?ber den Schaden desjenigen, der Unrecht gethan hat, gleichgiltig an wem es begangen wurde.

Es braucht nun aber nicht mehr gesagt zu werden, dass solche egoistische Schadenfreude ebenso gut wie die Grausamkeitswollust dem Kunstwerke gegen?ber ausgeschlossen ist. Der Held der Trag?die insbesondere sch?digt uns nicht, er weiss nichts von ?berlegenheit und ?berhebung uns gegen?ber, es hat keinen Sinn sich mit ihm vergleichen oder messen zu wollen und ?ber das f?r die eigene Person ung?nstige Ergebnis der Vergleichung und Messung ihm zu grollen. Vor allem dem bewahrt uns die absolute Kluft zwischen der Welt des Kunstwerkes und uns.

Obgleich dies alles nicht gesagt zu werden braucht, so ist es doch f?r das Verst?ndnis des Kunstwerkes grundwesentlich es zu wissen. Wir betonten schon, dass das sittliche Urteil gegen?ber dem Kunstwerke reiner sei als unser sonstiges sittliches Urteil, und dass es dies darum sei, weil es von R?cksichten auf das, was ausserhalb der Welt des Kunstwerkes liege, frei bleibe. Hier nun sehen wir an einem Punkte deutlich, wiefern diese Behauptung zutrifft. Was ist es denn, das im Leben vor allem unser sittliches Urteil tr?bt? Gewiss die Beziehung auf uns und unser Selbstgef?hl. Statt eine Person und ihr Handeln nach ihrem eigenen Werte und nur danach zu beurteilen, sind wir geneigt sie vielmehr zu beurteilen nach dem realen oder ideellen Gewinn oder Verlust, der uns oder unserem Selbstgef?hl aus ihrem Dasein oder Handeln erw?chst oder erwachsen k?nnte. Dass davon nicht nur gegen?ber der Trag?die, sondern gegen?ber jedem darstellenden Kunstwerk--trotz aller Theorien, die das Gegenteil behaupten und so den Sinn des Kunstwerkes in Widersinn verkehren--keine Rede ist und keine Rede sein kann, dies ist es zun?chst, was dem Kunstwerk und damit auch der Trag?die einen besonderen, durch nichts in der Welt zu ersetzenden sittlichen Wert verleiht.

Je weniger nun aber die egoistische Schadenfreude beim Genuss der Trag?die mitsprechen kann, umsomehr scheint die andere, die von uns oben zugestandene nichtegoistische Schadenfreude dabei beteiligt zu sein. Dies leugne ich denn auch nicht. Sie ist nicht nur dabei beteiligt, sondern sie macht das Wesen des Genusses aus. Die unegoistische oder sittliche Schadenfreude ist eben gar nichts, eine leere Illusion, oder sie ist jene Freude an der inneren Macht des Guten, auf die wir den tragischen Genuss zur?ckgef?hrt haben.

Man hat auch wohl gesagt, die sittliche Weltordnung, die Idee, das Recht sei der eigentliche Held der Trag?die, nicht die einzelne Pers?nlichkeit. Von diesem Satze kann der erste Teil zugestanden werden, wenn man den zweiten preisgiebt. Die sittliche Weltordnung, die Idee, das Recht ist der Held eben in der einzelnen Pers?nlichkeit und genau so weit, als es die einzelne Pers?nlichkeit ist.

Wir sind in diesen Er?rterungen davon ausgegangen, dass ein MACBETH "f?r" ungeheure Frevel leide; den Sinn dieses "f?r" suchte ich deutlich zu machen. Es leuchtet jetzt auch ein, wie mit diesem Moment die anderen oben unterschiedenen und als wesentlich f?r den tragischen Genuss bezeichneten Momente aufs engste zusammenh?ngen. Was ist der Gegenstand des Leidens f?r MACBETH? "Worunter" leidet er? ?usserlich betrachtet unter dem Scheitern seiner Pl?ne, tiefer gefasst unter der Anklage seines Gewissens, der Notwendigkeit, die sittliche Weltordnung anzuerkennen.

Endlich ist nicht minder deutlich, dass die Wirkung einer Trag?die von der hier in Rede stehenden Art sich steigert mit der "Tiefe" des Leidens. In ihr zeigt sich ja wiederum die St?rke dessen, wogegen der Held--zuletzt vergeblich--ank?mpft.

ZWEI GATTUNGEN DER TRAG?DIE.

Aber diese Unterscheidung kann nicht als eine reinliche Scheidung der vorhandenen Trag?dien gemeint sein. So zutreffend sie ist, so wenig kann sie die Forderung in sich schliessen, dass Trag?dien jederzeit entweder nur der einen oder nur der anderen Gattung angeh?ren. Vielmehr hindert nichts, dass eine und dieselbe Trag?die beide Gattungen, zugleich vergegenw?rtige. Die Gleichheit des Grundthemas verb?rgt die M?glichkeit der Vereinigung. Dass die Trag?die es mit Menschen zu thun hat, in denen Gutes und B?ses sich zu mischen pflegt, dass die Gr?sse einer edlen Leidenschaft mit b?sem Wollen sich verbinden, ja zu ihm hinf?hren kann, dies l?sst sogar von vornherein erwarten, dass die meisten Trag?dien sich als Vereinigungen der beiden Gattungen darstellen werden.

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