bell notificationshomepageloginedit profileclubsdmBox

Read Ebook: Auf dem Staatshof by Storm Theodor

More about this book

Font size:

Background color:

Text color:

Add to tbrJar First Page Next Page

Ebook has 125 lines and 13451 words, and 3 pages

Edition: 10

Auf dem Staatshof

Theodor Storm

Ich kann nur einzelnes sagen; nur was geschehen, nicht, wie es geschehen ist; ich weiss nicht, wie es zu Ende ging, und ob es eine Tat war oder nur ein Ereignis, wodurch das Ende herbeigef?hrt wurde. Aber wie es die Erinnerung mir tropfenweise hergibt, so will ich es erz?hlen.

Die kleine Stadt, in der meine Eltern wohnten, lag hart an der Grenze der Marschlandschaft, die bis ans Meer mehrere Meilen weit ihre grasreiche Ebene ausdehnt. Aus dem Nordertor f?hrt die Landschaft eine Viertelstunde Weges zu einem Kirchdorf, das mit seinen B?umen und Strohd?chern weithin auf der ungeheueren Wiesenfl?che sichtbar ist. Seitw?rts von der Strasse, hinter dem weiss get?nchten Pastorate, geht quer durchs Land ein Fusssteig ?ber die Fennen, wie hier die einzelnen, fast nur zur Viehweide benutzten Landfl?chen genannt werden; von einem Heck zum andern, aber auf schmalem Steg ?ber die Gr?ben, durch welche die Fennen voneinander geschieden sind.

Hier bin ich in meiner Jugend oft gegangen; ich mit einer andern. Ich sehe noch das Gras im Sonnenscheine funkeln und fernab um uns her die zerstreuten Geh?fte mit ihren weissen Geb?uden in der klaren Sommerluft. Die schweren Rinder, welche wiederk?uend neben dem Fusssteige lagen, standen auf, wenn wir vor?bergingen, und gaben uns das Geleite bis zum n?chsten Heck; mitunter in den Trinkgruben erhob ein Ochse seine breite Stirn und br?llte weit in die Landschaft hinaus.

Zu Ende des Weges, der fast eine halbe Stunde dauert, unter einer d?stern Baumgruppe von R?stern und Silberpappeln, wie sie kein andres Besitztum dieser Gegend aufzuweisen hat, lag der "Staatshof". Das Haus war auf einer m?ssig hohen Werfte nach der Weise des Landes gebaut, eine sogenannte Heuberg, in welcher die Wohnungs- und Wirtschaftsr?ume unter einem Dache vereinigt sind; aber die Graft, welche sich ringsumher zog, war besonders breit und tief, und der weitl?ufige Garten, der innerhalb derselben die Geb?ude umgab, war vorzeiten mit patrizischem Luxus angelegt.

Das Geh?fte war einst neben vielen andern in Besitz der nun g?nzlich ausgestorbenen Familie van der Roden, aus der w?hrend der beiden letzten Jahrhunderte eine Reihe von Pfennigmeistern und Ratm?nnern der Landschaft und B?rgermeistern meiner Vaterstadt hervorgegangen sind.--Neunzig H?fe, so hiess es, hatten sie gehabt und sich im ?bermut vermessen, das Hundert voll zu machen. Aber die Zeiten waren umgeschlagen; es war unrecht Gut dazwischengekommen, sagten die Leute; der liebe Gott hatte sich ins Mittel gelegt, und ein Hof nach dem andern war in fremde H?nde ?bergegangen. Zur Zeit, wo meine Erinnerung beginnt, war nur der Staatshof noch im Eigentum der Familie, von dieser selbst aber niemand ?briggeblieben als die alternde Besitzerin und ein kaum vierj?hriges Kind, die Tochter eines fr?h verstorbenen Sohnes. Der letzte m?nnliche Sprosse war als f?nfzehnj?hriger Knabe auf eine gewaltsame Weise ums Leben gekommen; auf der Fenne eines benachbarten Hofbesitzers hatte er ein einj?hriges F?llen ohne Zaum und Halfter bestiegen, war dabei von dem scheuen Tier in die Trinkgrube gest?rzt und ertrunken.

Mein Vater war der gesch?ftliche Beistand der alten Frau Ratmann van der Roden.--Gehe ich r?ckw?rts mit meinen Gedanken und suche nach den Pl?tzen, die von der Erinnerung noch ein sp?rliches Licht empfangen, so sehe ich mich als etwa vierj?hrigen Knaben mit meinen beiden Eltern auf einem offenen Wagen ?ber den ebenen Marschweg dahinfahren; ich f?hle pl?tzlich den Sonnenschein mit einem k?hlen Schatten wechseln, der an der einen Seite von ungeheuren B?umen auf den Weg hinausf?llt; und w?hrend ich meinen kleinen Kopf ?ber die Lehne des Wagenstuhle recke, um den breiten Graben zu sehen, der sich neben den B?umen hinzieht, biegen wir gerade in die Schatten hinein und durch ein offenstehendes Gittertor. Ein grosser Hund f?hrt wie rasend an der Kette aus seinem beweglichen Hause auf uns zu; wir aber kutschieren mit einem Peitschenknall auf den Hof hinauf bis vor die Haust?r, und ich sehe eine alte Frau im grauen Kleide, mit einem feinen blassen Gesicht und mit besonders weisser Fr?se auf der Schwelle stehen, w?hrend Knecht und Magd eine Leiter an den Wagen legen und uns zur Erde helfen. Noch rieche ich auf dem dunkeln Hausflur den strengen Duft der Alantwurzel, womit die Marschbewohner zur Abwehr der M?cken allabendlich zu r?uchern pflegen; ich sehe auch noch meinen Vater der alten Dame die Hand k?ssen; dann aber verl?sst mich die Erinnerung, und ich finde mich erst nach einigen Stunden wieder, auf Heu gebettet, eine warme sommerliche D?mmerung um mich her. Ich sehe an den aus Heu und Korngarben gebildeten W?nden empor, die um mich her zwischen vier grossen St?ndern in die H?he ragen, so hoch, dass der Blick durch ein w?stes Dunkel hindurch muss, bis er aufs neue in eine matte D?mmerung gelangt, die zwischen zahllosen Spinngeweben aus einem Dachfensterchen hereinf?llt. Es ist das sogenannte Vierkant, worin ich mich befinde. Der zum Bergen des Heues bestimmte Raum im Innern des Hauses, wovon das Hofgeb?ude in unsern Marschen die eigent?mlich hohe Bildung des Daches und seinen Namen "Heuberg" oder "Hauberg" erhalten hat.--Es ist volle Sonntagsstille um mich her. Aber ich bin hier nicht allein; in der ged?mpften Helligkeit, die durch die offene Seitenwand aus der angrenzenden Loodiele hereinf?llt, steht ein M?dchen meines Alters; die blonden H?rchen fallen ?ber ein blaues Blusenkleid. Sie streckt ihre kleinen F?uste ?ber mir aus und bestreut mich mit Heu; sie ist sehr eifrig, sie st?hnt und b?ckt sich wieder und wieder. "So", sagt sie endlich und atmet dabei aus Herzensgrunde, "so, nun bist du bald begraben!" Und wie ich eine Weile regungslos daliege, sehe ich durch die lose mich bedeckenden Halme, wie sie ihr K?pfchen zu mir niederbeugt, und wie sie dann pl?tzlich kehrtmacht und sich zu einer alten B?uerin hinarbeitet, die mit einem Strickstrumpf in der Hand uns gegen?bersitzt. "Wieb", sagt sie, indem sie der Alten die Hand von der Wange zieht, "Wieb, ist er tot?"

Was die Alte darauf geantwortet, dessen entsinne ich mich nicht mehr; wohl aber, dass wir bald darauf durch einen dunkeln Gang auf den Hausflur und von dort eine breite Treppe hinauf in die obern R?ume des Hauses gef?hrt wurden, in ein grosses Zimmer mit goldgebl?mten Tapeten, in welchem viele Bilder von alten weiss gepuderten M?nnern und Frauen an den W?nden hingen. Meine Eltern und die ?brigen G?ste sind eben von einer gedeckten Tafel aufgestanden, die sich mitten im Zimmer unter einer grossen Kristallkrone befindet. Bald sitze ich, in eine Serviette gekn?pft, der kleinen Anne Lene gegen?ber; Wieb steht dabei und serviert uns von den Resten. Ich befinde mich sehr wohl; nur zuweilen st?rt mich ein Kr?chzen, das aus der Ferne zu uns her?berdringt. "H?re!" sage ich und hebe meine kleinen Finger auf. Die alte Wieb aber kennt das schon lange. "Das sind die Raben", sagt sie, "sie sitzen im Baumgarten, wir wollen sie nachher besuchen."--Aber ich vergesse die Raben wieder; denn Wieb teilt zum Dessert noch die Zuckertauben von einer Konditortorte zwischen uns; nur scheint es nicht ganz unparteiisch herzugehen, denn Anne Lene erh?lt immer die Hahnenschw?nze und die Kragentauben.

Etwas sp?ter sehe ich die Gesellschaft auf den geschlungenen Gartenwegen zwischen den bl?henden B?schen promenieren; die alte Dame mit der Fr?se, welche am Arme meines Vaters geht, beugt sich zu mir niedere und sagt, indem sie mir den Kopf aufrichtet: "Du muss dich immer h?bsch gerade halten, Kind!" Ich glaube noch jetzt, dass von dieser kleinen Ermahnung sich der fast scheue Respekt her schreibt, den ich, solange sie lebte, vor dieser Frau behalten habe.--Doch schon fasst Wieb mich bei der Hand und f?hrt uns weit umher auf den sonnigen Steigen; zuletzt bis zur Graft hinunter, an der ein gerader Steig entlang f?hrt. So gelangen wir zu einem Gartenpavillon, in welchem die Gesellschaft bei offenen T?ren am Kaffeetische sitzt. Wir werden hereingerufen, und da ich z?gere, nimmt meine Mutter einen Zuckerkringel aus dem silbernen Kuchenkorb und zeigt mir den. Aber ich f?rchte mich; ich habe gesehen, dass das h?lzerne Haus auf d?nnen Pf?hlen ?ber dem Wasser steht; bis endlich doch die vorgehaltene Lockspeise und die bunten Sch?ferbilder, die drinnen auf die W?nde gemalt sind, mich bewegen, hineinzutreten.

Mir ist, als h?tte ich es mit einem besonders angenehmen Gef?hl mit angesehen, wie Anne Lene von meiner Mutter auf den Schoss genommen und gek?sst wurde. Sp?terhin m?gen die M?nner, wie es dort gebr?uchlich ist, zur Besichtigung der Rinder auf das Land hinausgegangen sein; denn ich habe die Erinnerung, als sei bald eine Stille um mich gewesen, in der ich nur die sanfte Stimme meiner Mutter und andre Frauenstimmen h?rte. Anne Lene und ich spielten unter dem Tische zu ihren F?ssen; wir legten den Kopf auf den Fussboden und horchten nach dem Wasser hinunter. Zuweilen h?rten wir es pl?tschern; dann hob Anne Lene ihr K?pfchen und sagte: "H?rst du, das tut der Fisch!" Endlich gingen wir ins Haus zur?ck; es war k?hl, und ich sah die B?sche des Gartens alle im Schatten stehen. Dann fuhr der Wagen vor; und in dem Schlummer, der mich schon unterwegs ?berkam, endete dieser Tag, von dem ich bei ruhigem Nachsinnen nicht ausser Zweifel bin, ob er ganz in der erz?hlten Weise jemals dagewesen, oder ob nur meine Phantasie die zerstreuten Vorf?lle verschiedener Tage in diesen einen Rahmen zusammengedr?ngt hat.

Sp?terhin, als sich allm?hlich die Hilfsbed?rftigkeit des Alters einstellte, zog die Frau Ratmann van der Roden mit ihrer Enkelin in die Stadt und liess den Hof unter der Aufsicht des fr?heren Bauknechtes Marten und seiner Ehefrau, der alten Wieb. Vor dem Hause, welches sie einige Strassen von dem unsern entfernt bewohnte, standen granitne Pfeilersteine, die durch schwere eiserne Ketten miteinander verbunden waren. Wir Jungen, wenn wir auf unserm Schulwege vor?bergingen, unterliessen selten, uns auf diese Ketten zu setzen und, mit Tafel und Ranzen auf dem R?cken, einige Male hin und her zu schaukeln. Aber ich entsinne mich noch gar wohl, wie wir auseinanderstoben, wenn einer von uns das Gesicht der alten Dame hinter den Geranienb?umen am Fenster gewahrte, oder gar, wenn sie mit einer gemessenen Bewegung den Finger gegen uns erhoben hatte.

Desungeachtet liess ich mir gern, was ?fters geschah, vom Vater eine Bestellung an sie auftragen. Ich weiss nicht mehr, war es das kleine zierliche M?dchen, das mich anzog, oder war es die alte Schatulle, deren Rarit?ten ich in besonders beg?nstigter Stunde mit ihr beschauen durfte; die goldenen Schaum?nzen, die seidenen, bunt bemalten F?cher oder oben auf dem Aufsatz der Schatulle die beiden Pagoden von chinesischem Porzellan, die schon vom Flur aus durch die Fenster der Stubent?r meine Augen auf sich zogen. Am Sonnabendnachmittag stellte ich mich regelm?ssig ein, um die Frau Ratmann mit der kleinen Anne Lene zum Sonntag auf den Kaffee einzuladen, was bis zur letzten Zeit vor ihrem Absterben ebenso regelm?ssig von ihr angenommen wurde. Am Tage darauf pr?zise um drei Uhr hielt dann die schwere Klosterkutsche vor unsrer Haustreppe; unsre M?gde hoben die alte Dame und ihr Enkelchen aus dem Wagen, und meine Mutter f?hrte sie in das Festzimmer des Hauses, das schon von dem Dufte des Kaffees und des sonnt?glichen Geb?ckes erf?llt war. Wenn dann die Enveloppen und T?cher abgelegt waren und die beiden Damen sich gegen?ber an dem sauber servierten Tische Platz genommen hatten, durften auch wir Kinder uns an ein Nebentischchen setzen und erhielten unsern Anteil an den "Eiermahnen" und "Bieschen", oder wie sonst die sch?nen Sachen heissen mochten. Mir ist indessen, wenn ich dieser Sonntagnachmittage gedenke, als sei ich niemals ungl?cklicher in den Versuchen gewesen, meinen Kaffee aus der Ober- in die Untertasse umzusch?tten; und ich f?hle noch die strengen Blicke, die mir die alte Dame von ihrem Sitze aus hin?bersandte, w?hrend meine Mutter mir meine kleine Gespielin zum Muster aufstellte, von der ich mich nicht entsinne, dass sie jemals beim Trinken die Serviette oder ihr weisses Kleid befleckt h?tte.

Ein solcher Sonntagnachmittag, nachdem schon einige Jahre in dieser Weise vor?bergegangen waren, ist mir besonders im Ged?chtnis geblieben.--Ich hatte mich in dem angenehmen Bewusstsein des Feiertages in unserm Hofe umhergetrieben und war endlich in das Waschhaus gelangt, das am Ende desselben lag. Auch hier hatte sich der Sonntag bemerklich gemacht; die f?hrenen Tische waren gescheuert, die holl?ndischen Klinker, womit der Boden gepflastert war, sahen so feucht und frisch gesp?lt aus; dabei war eine so liebliche K?hle, dass ich mich fast gedankenlos an einen Tisch lehnte und auf das tr?umerische Gackeln der H?hner lauschte, das aus dem anstossenden H?hnerhof zu mir hereindrang. Nach einer Weile h?rte ich drunten im Wohnhause aus der im Erdgeschoss befindlichen K?che das Kaffeegeschirr herauftragen, das Klirren der Tassen und Kaffeel?ffel; und endlich vernahm ich auch von der Strasse her das Anfahren der Kutsche und bald darauf das Aufschlagen der Haust?r. Aber das s?sse Gef?hl, die Nachmittagsfeier so ganz unangebrochen vor mir zu haben, liess mich immer noch z?gern, ins Haus hinabzugehen. Da vernahm ich das Summen des Fliegenschwarms, der in der Sonne an der offenen T?r gesessen.--Anne Lene war unbemerkt herangetreten. Noch sehe ich sie vor mir, die kleine leichte Gestalt, wie sie ruhig auf der Schwelle stand, den Strohhut am Bande in der Hand hin und her schwenkend, w?hrend die Sonne auf das goldklare Haar schien, das ihr in kleinen Locken um das K?pfchen hing. Sie nickte mir zu, ohne weiter heranzutreten, und sagte dann: "Du solltest hereinkommen!"

Ich kam noch nicht; meine Augen hafteten noch an dem weissen Sommerkleidchen, an der himmelblauen Sch?rpe und zuletzt an einem alten F?cher, den sie in der Hand hielt. "Willst du nicht kommen, Marx?" fragte sie endlich, "Grossmutter hat gesagt, wir sollten einmal das Menuett wieder miteinander ?ben."

Ich war es wohl zufrieden. Wir hatte vor einigen Wochen in der Tanzschule diese altfr?nkischen K?nste auf den gemeinsamen Wunsch der Frau Ratmann und meines Vaters mit besonderer Sorgfalt einge?bt. Wir gingen also hinein; ich machte meine Reverenz vor Anne Lenes Grossmutter und trank, um mich schon jetzt meiner zierlichen Partnerin w?rdig zu zeigen, meinen Kaffee mit besonderer Behutsamkeit. Sp?terhin, als mein Vater ins Zimmer getreten war und sich mit seiner alten Freundin in gesch?ftliche Angelegenheiten vertiefte, nahm meine Mutter uns mit in die gegen?berliegende Stube und setzte sich an das aufgeschlagene Klavier. Sie hatte den "Don Juan" aufs Tapet gelegt. Wir traten einander gegen?ber, und ich machte mein Kompliment, wie der Tanzmeister es mich gelehrt hatte. Meine Dame nahm es huldvoll auf, sie neigte sich h?fisch, sie erhob sich wieder, und als die Melodie erklang: "Du reizest mich vor allen; Zerlinchen, tanz mit mir", da glitten die kleinen F?sse in den Korduanstiefelchen ?ber den Boden, als ginge es ?ber eine Spiegelfl?che hin. Mit der einen Hand hielt sie den aufgeschlagenen F?cher gegen die Brust gedr?ckt, w?hrend die Fingerspitzen der andern das Kleid emporhoben. Die l?chelte; das feine Gesichtchen strahlte ganz von Stolz und Anmut. Meine Mutter, w?hrend wir hin und her schassierten, uns n?herten und verneigten, sah schon lange nicht mehr auf ihre Tasten; auch sie, wie ihr Sohn, schien die Augen nicht abwenden zu k?nnen von der kleinen schwebenden Gestalt, die in grazi?ser Gelassenheit die Touren des alten Tanzes vor ihr ausf?hrte.

Wir mochten auf diese Weise bis zum Trio gelangt sein, als die Stubent?r sich langsam ?ffnete und ein dickk?pfiger Nachbarsjunge hereintrat, der Sohn eines Schuhflickers, der mir an Werkeltagen bei meinem R?uber- und Soldatenspiel die vortrefflichsten Dienste leistete. "Was will der?" fragte Anne Lene, als meine Mutter einen Augenblick innehielt.--"Ich wollte mit Marx spielen", sagte der Junge und sah verlegen auf seine groben Nagelschuhe.

"Setze dich nur, Simon", erwiderte meine Mutter, "bis der Tanz aus ist; dann k?nnt ihr alle miteinander in den Garten gehn." Dann nickte sie zu uns hin?ber und begann das Trio zu spielen. Ich avancierte; aber Anne Lene kam mir nicht entgegen; sie liess die Arme herabh?ngen und musterte mit unverkennbarer Verdrossenheit den struppigen Kopf meines Spielkameraden.

"Nun", fragte meine Mutter, "soll Simon nicht sehen, was ihr gelernt habt?"

Allein die kleine Patrizierin schien durch die Gegenwart dieser Werkeltagserscheinung in ihrer idealen Stimmung auf eine empfindliche Weise gest?rt zu sein. Sie legte den F?cher auf den Tisch und sagte: "Lass Marx nur mit dem Jungen spielen."

Ich f?hle noch jetzt mit Besch?mung, dass ich dem sch?nen Kinde zu Gefallen, wenn auch nicht ohne ein deutliches Vorgef?hl von Reue, meinen plebejischen G?nstling fallen liess. "Geh nur, Simon", sagte ich mit einiger Beklemmung. "Ich habe heute keine Lust zu spielen!" Und der arme Junge rutschte von seinem Stuhl und schlich sich schweigend wieder von dannen.

Meine Mutter sah mich mit einem durchdringenden Blick an; und sowohl ich wie Anne Lene, als diese sp?terhin in ein n?heres Verh?ltnis zu unserm Hause trat, haben noch manche kleine Predigt von ihr h?ren m?ssen, die aus dieser Geschichte ihren Text genommen hat. Damals aber hatten die kleinen tanzenden F?sse mein ganzes Knabenherz verwirrt. Ich dachte nichts als Anne Lene; und als ich ihr am Montage darauf ein vergessenes Arbeitsk?rbchen ins Haus brachte, hatte ich es zuvor ganz mit Zuckerpl?tzchen angef?llt, deren Ankauf mir nur durch Aufopferung meiner ganzen kleinen Barschaft m?glich geworden war.

Etwa ein Jahr sp?ter kam ich eines Nachmittags auf der Heimkehr von einer Ferienreise an Anne Lenes Wohnung vor?ber. Da die Haust?r offenstand, so fiel es mir ein, hineinzugehen, um eine Kleinigkeit, die ich unterwegs f?r sie eingehandelt hatte, schon jetzt in ihre Hand zu legen. Ich trat in den Flur und blickte durch die Glasscheiben der Stubent?r; aber ich gewahrte niemanden. Es war eine seltsame Einsamkeit im Zimmer; der weisse Sand lag so unber?hrt auf der Diele, und dr?ben der Spiegel war mit weissen Damastt?chern zugesteckt. W?hrend ich dies betrachtete und eine unbewusste Scheu mich hinderte, hineinzutreten, h?rte ich in der Tiefe des Hauses eine T?r gehen, und bald darauf sah ich meinen Vater mit einem schwarz gekleideten Kinde an der Hand auf mich zukommen. Es war Anne Lene; ihre Augen waren vom Weinen ger?tet, und ?ber der schwarzen Florkrause erschienen das blasse Gesichtchen und die feinen goldklaren Haare noch um vieles z?rtlicher als sonst. Mein Vater begr?sste mich und sagte dann, indem er seine Hand auf den Kopf des M?dchens legte: "Ihr werdet jetzt Geschwister sein; Anne Lene wird als mein M?ndel von nun an in unserm Hause leben, denn ihre Grossmutter, deine alte Freundin, ist gestorben."

Ich h?rte eigentlich nur den ersten Teil dieser Nachricht, denn die bestimmte Aussicht, nun fortw?hrend in Gesellschaft des anmutigen M?dchens zu sein, erregte in meiner Phantasie eine Reihe von heiteren Vorstellungen, die mich den Ort, an welchem wir uns befanden, vollst?ndig vergessen machten. Ich merkte es kaum, als Anne Lene ihre Arme um meinen Hals legte und mich k?sste, w?hrend ihre Tr?nen mein Gesicht benetzten.

Einige Tage darauf fand das Leichenbeg?ngnis statt, mit aller Feierlichkeit patrizischen Herkommens, so wie die Verstorbene es bei Lebzeiten in allen Punkten selbst verordnet hatte. Ich befand mich mit meiner Mutter und Anne Lene im Sterbehause. Noch sehr wohl erinnere ich mich, wie das Gel?ute der Glocken, die ged?mpfte Redeweise, in der alle die schwarzen Leute miteinander verkehrten, und die kolossalen, florbehangenen Wachskerzen, welche brennend vor dem Sarge hinausgetragen wurden, ein angenehmes Feiertagsgef?hl in mir erregten, das dem unwillk?rlichen Grauen vor diesem Gepr?nge vollkommen die Waage hielt.

Am andern Tage begann der werkt?tige Gang des Lebens wieder. Anne Lene war nun zwar mit mir in einem Hause, aber die Zeit unsern Beisammenseins bestand nicht mehr wie sonst nur in sonnt?glichen Spielstunden. Meine Hausarbeiten f?r das Gymnasium wurden von meinem Vater noch strenger ?berwacht als sonst, und Anne Lene war ausser ihren Schulstunden meist unter der Aufsicht der Mutter besch?ftigt. W?hrend meiner Freistunden nahmen die eigentlichen Knabenspiele einen immer gr?sseren Raum ein, und ich habe meine kleine Freundin nie bewegen k?nnen, unser R?uberspiele mitzumachen oder auch nur in dem t?rkischen Zelte Platz zu nehmen, das ich von alten Teppichen in der Spitze eines Birnbaumes aufgeschlagen hatte.

Nur eine Freude blieb uns w?hrend unsrer ganzen Jugend gemeinschaftlich. --Die L?ndereien des Staatshofes waren seit dem Tode der alten Frau Ratmann an einen benachbarten Hofbesitzer verpachtet, w?hrend man das Wohnhaus mit der Werfte unter der Aufsicht der alten Wieb und ihres Mannes liess. Da der Hof nur eine halbe Stunde von der Stadt lag, so war uns ein f?r allemal erlaubt, sonntags nach Tische dort hinauszugehen. Und wie oft sind wir diesen Weg gegangen! Auf der ebenen Marschlandstrasse bis zum Dorfe und dann seitw?rts ?ber die Fennen von einem Heck zum andern, bis wir die dunkle Baumgruppe des Hofes erreicht hatten, die schon beim Austritt aus der Stadt auf der weiten Ebene sichtbar war. Wie oft beim Gehen wandten wir uns um und massen die Strecke, die wir schon zur?ckgelegt hatten, und sahen zur?ck nach den T?rmen der Stadt, die im Sonnendufte hinter uns lagen! Denn mir ist, als habe an jenen Sonntagnachmittagen immer die Sonne geschienen und als sei die Luft ?ber dieser endlosen gr?nen Wiesenfl?che immer voll von Lerchengesang gewesen.

Den alten Ehelauten auf dem Hofe war im unteren Stock des Hauses ein fr?her von der Familie bewohntes Zimmer zur Benutzung angewiesen; allein sie bewohnten nach eigener Wahl nach wie vor das Gesindezimmer, da dieses mit dem Stall und den ?brigen Wirtschaftsr?umen in Verbindung stand. Gew?hnlich kam und der alte Marten in sonnt?glich weissen Hemd?rmeln schon vor dem Tore entgegen und reichte uns in seiner schweigsamen Art die Hand; er konnte es nicht lassen, nach seinen jungen G?sten auszusehen. Hatten wir uns etwas versp?tet, so trafen wir ihn wohl schon auf unserm Wege draussen auf den Fennen, seinen unzertrennlichen Begleiter, den Springstock, auf der Schulter; und w?hrend Anne Lene auf dem Fussbrett um die Hecken ging, lehrte er mich, nach Landesweise ?ber die Gr?ben zu setzen. Im Zimmer drinnen pflegte dann auf dem langen blank gescheuerten Tische schon der Kaffeekessel seinen Duft zu verbreiten, und die alte Wieb, wenn sie mir die Hand gegeben und ihrem Lieblingskinde die heissen Haare von der Stirn gestrichen hatte, schenkte uns viele Tassen ein, so viele, als wir immer trinken konnten, und dann noch eine "f?rs N?tigen", wie sie sagte. Wenn wir uns auf diese Weise erquickt hatten und das Geschirr wieder abger?umt war, holte die Alte ihr Rad aus dem Winkel hinter der Tragkiste hervor und begann zu spinnen. Sie liess dann wohl den Faden durch Anne Lenes Finger gleiten und zeigte uns die Gl?tte und Feinheit desselben; denn, wie sie mit sp?ter einmal vertraute, es sollte aus dem Flachse, den sie sonntags spann, das Brautlinnen f?r ihre junge Herrschaft gewebt werden.--Aber es duldete uns nicht lange neben ihr; wir ruhten nicht, bis sie uns ihr grosses Schl?sselbund eingeh?ndigt hatte, in dessen Besitze wir dann die dunkle Treppe nach dem oberen Stockwerk hinaufstiegen und eine nach der andern die T?ren zu den ver?deten Zimmern aufschlossen, in denen die feuchte Marschluft schon l?ngst an Decken und W?nden ihren Zerst?rungsprozess begonnen hatte. Wir betraten diese R?ume mit einer l?sternen Neugierde, obgleich wir wussten, dass nichts darin zu sehen sei als die halberloschenen Tapeten und etwa in dem einen Seitenzimmer das leere Bettgestell der verstorbenen Besitzer. Wenn wir zu lange blieben, rief die Alte uns wohl herunter und schickte uns in den Garten, der vor dem Hause lag. Aber die Einsamkeit, die oben in den verlassenen Zimmern herrschte, war auch dort. Wohin man sehen mochte, zwischen den hohen Str?uchern hing das Gespinst der Jungfernrebe; ?ber den mit Gras bewachsenen Steigen in den rot bl?henden Himbeerb?schen hatten die Wespen ihre pappenen Nester aufgehangen. Obwohl seit Jahren keine pflegende Hand dort gewaltet, so wuchs doch alles in der gr?ssten ?ppigkeit durcheinander, und mittags in der schw?len Sommerzeit, wenn Jasmin und Kaprifolien bl?hten, lag die alte Heuberg wie im Duft begraben.--Anne Lene und ich drangen gern aufs Geratewohl in diesen Bl?tenwald hinein, um uns den Reiz eines gefahrlosen Irregehens zu verschaffen; und nicht selten gl?ckte es, dass wir uns nach der feuchten Laube im Winkel des Gartens hinzuarbeiten meinten und statt dessen unerwartet vor dem alten Pavillon standen, welcher jetzt zur zeitweisen Aufbewahrung von Sommerfr?chten diente. Dann sahen wir durch die erblindeten Fensterscheiben nach dem z?rtlichen Sch?ferpaar hin?ber, das noch immer, wie vor Jahren, auf der Mitte der Wand im Grase kniete, und r?ttelten vergebens an den T?ren, welche von der alten Wieb sorgf?ltig verschlossen gehalten wurden; denn der Fussboden drinnen war unsicher geworden, und hier und dort konnte man durch die Ritzen in den Dielen auf das darunter stehende Wasser sehen.

So verging die Zeit.--Anne Lene war, ehe ich mich dessen versehen, ein erwachsenes M?dchen geworden, w?hrend ich noch kaum zu den jungen Menschen z?hlte. Ich bemerkte dies eigentlich erst, als sie eines Tages mit ver?nderter Frisur ins Zimmer trat. Seitdem sie selbst f?r ihre Kleidung sorgte, war diese fast noch einfacher als zuvor; besonders liebte sie die weisse Farbe, so dass mir diese in der Erinnerung von der Vorstellung ihrer Pers?nlichkeit fast unzertrennbar geworden ist. Nur einen Luxus trieb sie; sie trug immer die feinsten englischen Handschuhe, und da sie dessenungeachtet sich nicht scheute, ?berall damit hinzufassen, musste das getragene Paar bald durch ein neues ersetzt werden. Meine b?rgerlich sparsame Mutter sch?ttelte vergebens dar?ber den Kopf. Aus dem nachgelassenen Schmuckk?stchen ihrer Grossmutter nahm sie an ihrem Konfirmationstage ein kleines Kreuz von Diamanten, das sie seitdem an einem schwarzen Bande um den Hals trug. Sonst habe ich niemals einen Schmuck an ihr gesehen.

Die Zeit r?ckte heran, wo ich zum Studium der Arzneiwissenschaft die Universit?t besuchen sollte.--In Anne Lenes Gesellschaft machte ich meinen Abschiedsbesuch bei unsern alten Freunden auf dem Staatshof. Wir kamen eben von einer Fenne, wo der P?chter, wie es dort gebr?uchlich ist, seine Rapssaaternte auf einem grossen Segel ausdreschen liess. Nach der Sitte des Landes, die bei der schweren Arbeit den Leuten in jeder Weise gestattet, sich die Brust zu l?ften, waren wir mit einem ganzen Schauer von Schimpf- und Neckworten ?bersch?ttet worden; weder meine rote Sch?lerm?tze noch meine damals allerdings "ins Kraut geschossene" Figur war verschont geblieben. Auch Anne Lene hatte ihr Teil bekommen; aber man wusste kaum, waren es Spottreden oder unbewusste Huldigungen; denn alles bezog sich am Ende doch nur auf den Gegensatz ihres zarten Wesens zu der derben und etwas schwerf?lligen Art des Landes. Und in der Tat, wenn man sie betrachtete, wie der Sommerwind ihr die kleinen goldklaren Locken von den Schl?fen hob und wie ihre F?sse so leicht ?ber das Gras dahinschritten, so konnte man kaum glauben, dass sie hier zu Haus geh?re. Das kleine Kreuz, welches an dem schwarzen B?ndchen an ihrem Halse funkelte, mochte bei den Arbeitern diesen Eindruck noch vermehrt haben.

Als wir auf die Werfte kamen, fanden wir die alte Wieb in Zank mit einer Bettlerin vor der Haust?r stehen, die sie vergeblich abzuweisen suchte. Die leidenschaftlichen Geb?rden dieses noch ziemlich jungen Weibes waren mir wohlbekannt; sie ging auch in der Stadt alle Sonnabend von T?r zu T?r und zehrte dabei seit Jahren an dem Gedanken, dass sie von dem alten Ratman van der Roden, dem in seiner Amtsf?hrung die obervormundschaftlichen Angelegenheiten ?bertragen waren, um ihr m?tterliches Erbteil betrogen sei. Sie war infolge derartiger ?usserungen schon mehrfach zur Strafe gezogen; und jetzt schien sie, nach dem beiderseitigen Betragen zu urteilen, fest entschlossen, auch der alten Dienerin der van der Rodenschen Familie diese verblasste Geschichte vorzutragen.

Die Streitenden r?hrten sich bei unsrer Ankunft in ihrem Eifer nicht von der Stelle, und da wir nach dem Flur zwischen beiden hindurch mussten, so nahm Anne Lene ihr Kleid zusammen, um nicht an das der Bettlerin zu streifen.

Aber diese vertrat ihr den Weg. "Ei, sch?ne Mamsell", sagte sie, indem sie einen tiefen Knicks vor ihr machte und mit einer abscheulichen Koketterie ihre durchl?cherten R?cke schwenkte, "haben Sie keine Angst, meine Lumpen sind alle gewaschen! Freilich die seidenen B?ndchen sind l?ngst davon, und die Str?mpfe, die hat dein Grossvater selig mir ausgezogen; aber wenn dir die Schuhe noch gef?llig sind?"

Und bei diesen Worten zog sie die Schlumpen von den nackten F?ssen und schlug sie aneinander, dass es klatschte. "Greif zu, Goldkind", rief sie, "greif zu! Es sind Bettelmannsschuhe, du kannst sie bald gebrauchen."

Anne Lene stand ihr v?llig regungslos gegen?ber; Wieb aber, deren Augen mit grosser ?ngstlichkeit an ihrer jungen Herrin hingen, griff in die Tasche und dr?ckte der Bettlerin eine M?nze in die Hand. "Geh nun, Trin", sagte sie, "du kannst zur Nacht wiederkommen; was hast du noch hier zu suchen?"

Allein diese liess sich nicht abweisen. Sie richtete sich hoch auf, indem sie mit einem Ausdruck ?berlegenen Hohnes auf die Alte herabsah. "Zu suchen?" rief sie und verzog ihren Mund, dass das blendende Gebiss zwischen den Lippen hervortrat. "Mein Muttergut such ich, womit ihr die L?cher in eurem alten Dache zugestopft habt."

Wieb machte Miene, Anne Lene ins Haus zu ziehen.

"Bleib Sie nur, Mamsell", sagte das Weib und liess die empfangene M?nze in die Tasche gleiten, "ich gehe schon; es ist hier doch nichts mehr zu finden. Aber", fuhr sie fort, mit einer geheimnisvollen Geb?rde sich gegen die Alte neigend, "auf deinem Heuboden schlafe ich nicht wieder. Es geht war um in eurem Hause, das pfl?ckt des Nachts den M?rtel aus den Fugen. Wenn nur das alte hoff?rtige Weibe noch darunters?sse, damit ihr alle auf einmal euren Lohn bek?met!"

Auf Anne Lenes Antlitz dr?ckte sich ein Erstaunen aus, als sei sie durch diese Worte wie von etwas v?llig Unm?glichem betroffen worden. "Wieb", rief sie, "was sagt sie? Wen meint sie, Wieb?"

Mich ?bermannte bei dem Anblick meiner jungen hilflosen Freundin der Zorn; und ehe das Weib zu einer Antwort Zeit gewann, packte ich sie am Arm und zerrte sie den Hof hinunter bis hinaus auf den Weg. Aber noch als ich das Gittertor hinter mir zugeworfen hatte und wieder auf die Werfte hinaufging, h?rte ich sie ihre leidenschaftlichen Verw?nschungen ausstossen. "Geh nach Haus, Junge", schrie sie mir nach, "dein Vater ist ein ehrlicher Mann; was l?ufst du mit der Dirne in der Welt umher!"

Drinnen im Gesindezimmer fand ich Anne Lene vor ihrer alten W?rterin auf den Knien liegen, den Kopf in ihren Schoss gedr?ckt. "Wieb", sprach sie leise, "sag mir die Wahrheit, Wieb!"

Die Alte schien um Worte verlegen. Sie schalt auf die Bettlerin und redete dies und das von allgemeinen Dingen, indem sie ihre rauhe Hand liebkosend ?ber das Haar ihres Lieblings hingleiten liess. "Was wird es sein", sagte sie, "dein Grossvater und dein Urgrossvater waren grosse Leute; die Armen sind immer den Reichen heimlich feind!"

Anne Lene, die bis dahin ruhig zugeh?rt hatte, erhob den Kopf und sah sie zweifelnd an. "Es mag doch wohl anders gewesen sein, Wieb", sagte sie traurig, "du musst mich nicht bel?gen!"

Was weiter zwischen den beiden gesprochen worden, weiss ich nicht; denn ich verliess nach diesen Worten das Zimmer, da ich glaubte, die Alte werde das Gem?t des M?dchens leichter zur Ruhe sprechen, wenn sie allein sich gegen?ber w?ren.--Aber nach einigen Tagen war das Diamantkreuz von Anne Lenes Hals verschwunden, und ich habe dieses Zeichen alten Glanzes niemals wieder von ihr tragen sehen.

Ich mochte etwa ein Jahr lang in der Universit?tsstadt gewesen sein, als ich durch einen Brief meines Vaters die Nachricht von Anne Lenes Verlobung mit einem jungen Edelmann erhielt. Er teilte mir die Sache mit, ohne ein Wort der Billigung oder Missbilligung von seiner Seite hinzuzuf?gen.--Der Br?utigam war mir wohlbekannt; seine Familie stammte aus unsrer Stadt, und er selbst hatte sich kurz vor meiner Abreise wegen einer Erbschaftsangelegenheit dort aufgehalten. Da er sich meines Vaters als Gesch?ftsbeistandes bediente und keine weiteren Bekanntschaften in der Stadt hatte, so war er in unserm Hause ein oft gesehener Gast geworden. --Mir waren die blanken braunen Augen dieses Menschen vom ersten Augenblick an zuwider gewesen; und auch jetzt noch schienen sie mir nichts Gutes zu versprechen. Doch sagte ich mir selbst, da diese Meinung keine unparteiische sei. Ich war von dem Herrn Kammerjunker als ein junger b?rgerlicher Mensch von vornherein mit einer mir sehr empfindlichen Oberfl?chlichkeit behandelt worden; er hatte in meiner Gegenwart in der Regel getan, als ob ich gar nicht vorhanden sei; was aber das schlimmste war, ich hatte zu bemerken geglaubt, dass er meiner jungen Freundin nicht in gleichem Grade wie mir missfallen hatte.

Obgleich die seit meiner Knabenzeit in mir keimende Neigung f?r Anne Lene, da sie keine Erwiderung gefunden, niemals zur Entfaltung gekommen war, so wurde ich doch jetzt durch die Nachricht von ihrer Verbindung mit einem mir so verhassten Manne auf das heftigste ersch?ttert und, ich darf wohl sagen, beunruhigt. Meine Phantasie liess nicht nach, mir die kleinsten Z?ge seines Wesens wieder und wieder vor Augen zu f?hren; und besonders musste ich mich eines ?brigens geringf?gigen Vorfalls erinnern, der mich gegen die Natur dieses Menschen in v?lligem Widerspruch setzte.

Es war im Sp?tsommer; unsre Familie sass in der Ligusterlaube beim Nachmittagskaffee, wozu ausser dem alten Syndikus auch der Kammerjunker sich eingefunden hatte. Die Herren mochten, ehe ich hinzukam, gesch?ftliche Sachen er?rtert haben; denn das alte Porzellanschreibzeug meines Vaters stand neben dem ?brigen Geschirr auf dem Tische. Anne Lene ging in stiller Gesch?ftigkeit ab und zu; bald um im Hause die Bunzlauer Kanne aufs neue zu f?llen, bald um die Wachskerze f?r die Tonpfeife des Syndikus anzuz?nden, die ?ber dem Plaudern immer wieder ausging. Das Gespr?ch der beiden ?lteren Herren hatte sich mittlerweile auf st?dtische Angelegenheiten gewandt, welche f?r den Fremden wenig Interessen boten. Er hatte die Arme vor sich auf den Tisch gestreckt und schien seinen eignen Gedanken nachzugehen; nur wenn draussen zwischen den sonnigen Beeten das Kleid des jungen M?dchens sichtbar wurde, hob er die Augenlider und sah nach ihr hin?ber. Es war in diesem l?ssigen Anschauen etwas, das mich in einen ohnm?chtigen Zorn versetzte; zumal als ich sah, wie Anne Lene die Augen niederschlug und sich, wie um Schutz zu suchen, an meiner Mutter Seite auf das ?usserste Ende der Bank setzte. Der Kammerjunker, ohne sie weiter zu beachten, haschte eine M?cke, die eben an ihm vor?berflog. Ich sah, wie er sie an den Fl?geln sorgsam zwischen seinen Fingern hielt, wie er den Kopf herabneigte und die hilflosen Bewegungen des Gesch?pfes mit Aufmerksamkeit zu betrachten schien. Nach einer Weile nahm er die neben ihm liegende Schreibfeder, tauchte sie in das Tintenfass und begann nun nacheinander Kopf und Brustschild seines kleinen Opfers in langsamen Z?gen damit zu bestreichen. Bald aber ?nderte er sein Verfahren; er zog die Feder zur?ck und f?hrte sie wie zum Stoss wiederholt gegen die Brust der Kreatur, welche mit den feinen F?ssen die auf sie eindringende Spitze vergebens abzuwehren strebte. Seine blanken Augen waren ganz in dies Gesch?ft vertieft. Endlich aber schien er dessen ?berdr?ssig zu werden; er durchstach das Tier und liess es vor sich auf den Tisch fallen, indem er zugleich eine Frage meines Vaters beantwortete, die seine Aufmerksamkeit erregt haben mochte.--Ich hatte wie gebannt diesem Vorgange zugesehen, und Anne Lene schien es ebenso ergangen; denn ich h?rte sie aufatmen, wie jemand, der von einem auf ihm lastenden Druck mit einem Male befreit wird.

Einige Tage darauf vermissten wir Anne Lene bei der Mittagstafel, was sonst niemals zu geschehen pflegte.--Als ich, um sie zu suchen, in den Garten trat, begegnete mir der Kammerjunker, der wie gew?hnlich mit einem halben Kopfnicken an mir vorbeipassierte. Da ich Anne Lene nicht gewahrte, so ging ich in den untern Teil des Gartens, in welchem mein Vater eine kleine Baumschule angelegt hatte. Hier stand sie mit dem R?cken an einen jungen Apfelbaum gelehnt. Sie schien ganz einem innern Erlebnis zugewendet; denn ihre Augen starrten unbeweglich vor sich hin, und ihre kleinen H?nde lagen fest geschlossen auf der Brust. Ich fragte sie: "Was ist denn dir begegnet, Anne Lene?" Aber sie sah nicht auf; sie liess die Arme sinken und sagte: "Nichts, Marx; was sollte mir begegnet sein?" Zuf?llig aber hatte ich bemerkt, dass die Krone des kleinen Baumes wie von einem Pulsschlage in gleichm?ssigen Pausen ersch?ttert wurde, und es ?berkam mich eine Ahnung dessen, was hier geschehen sein k?nne; zugleich ein Reiz, Anne Lene f?hlen zu lassen, dass sie mich nicht zu t?uschen verm?ge. Ich zeigte mit dem Finger in den Baum und sagte: "Sieh nur, wie dir das Herz klopft!"

Diese Vorf?lle, welche damals bei der kurz danach erfolgten Abreise des Kammerjunkers bald von mir vergessen waren, liessen nun nicht ab, mich zu beunruhigen, bis sie endlich von den Leiden und Freuden des Studentenlebens aufs neue in den Hintergrund gedr?ngt wurden.

Ich habe nicht von mir zu reden.

Add to tbrJar First Page Next Page

 

Back to top